Review

Sinn oder Unsinn, Realismus oder Übertreibung, Exzess oder satirischer Anstrich?

Erst im „Lemony Snicket“ nachempfundenen Nachspann wird deutlich, was Wayne Kramer hier wirklich seinen Zuschauern erzählt hat. Nämlich keinen überdrehten Actionfilm, sondern ein klassisches finsteres Märchen, getarnt als überharter Actionfilm.
Allerdings ist die Tarnung bisweilen sehr gut gelungen und man weiß als Zuschauer nie so ganz, welche Absicht denn hier nun dahinter stecken soll, weil der Film seine Rezipienten permanent überfährt.

Oberflächlich ist es ein einziger Wettlauf gegen die Zeit, Zeitrahmen ist nur eine Nacht, und der Kleinkriminelle Joey Gazelle sitzt in der Patsche. Er hat nämlich als Absicherung nach einem verpatzten Drogendeal eine Mordwaffe seines Mafiachefs mitgehen lassen und nicht wie verlangt, vernichtet. Als der Nachbarsjunge jedoch die Waffe entwendet, um seinen brutalen Vater zu töten und anschließend in die Nacht flieht, beginnt für Joey ein Odyssee, die quer durch die Hölle führt und seinen Sohn, seine Frau und den Nachbarsjungen Oleg miteinbezieht.

Liest man die komplette Inhaltsangabe, kann einem schon ein Schmunzeln kommen, denn was Kramer da in seinem eigenen Drehbuch aufeinander häuft, ist schon der pure Wahnwitz. Die Mafia und die Russen, korrupte Bullen, ein durchgeknallter Nachbar mit John Wayne-Komplex und im Verlaufe der Nacht entspinnt sich um die halbwegs intakte uramerikanische Familie ein Pandämonium, wie man es noch nicht gesehen hat: brutale Zuhälter mit Gottkomplex, Drogendealer, durchgeknallte Koksopfer, brutale Schläger, angriffslustige Hehler und Zwischenhändler, nicht zuletzt zwei horrible Kinderschänder und eine ganze Übermacht von organisiertem Verbrechen obendrein.

Das ist praktisch lächerlich in seiner Anhäufung, aber Kramer inszeniert fast ohne auch nur einen Hauch von Ironie, sondern schickt seine Protagonisten auf einen nicht enden wollenden Höllentrip, der nur selten gemildert wird (etwa durch eine mitleidige Prostituierte oder ein paar Vater-Sohn-Intermezzi).
Es scheint keine freundlichen oder normalen Menschen in dieser Umgebung zu geben und auch die Guten stehen dem Bösen meist hilflos gegenüber und können sich nur ihrerseits durch das Böse (also Gewalt) gegen sie erwehren, sprich: sie müssen selbst böse werden.

Die Welt ist schlecht, selten hat das jemand so konkret visualisiert wie Kramer, der die klassischen Motive Grimmscher Märchen so umgewandelt hat, dass man sie erst im Nachhinein erkennt.
Der böse Vater, der sein Kind schlägt und verstößt; der durchgeknallte Zuhälter als Teufel persönlich; der Hehler in der Autowerkstatt, der mit seinem Schweißbrenner an den Drachen gemahnt; die Kinderschänder in ihrem opulenten Hexenhaus, der böse König, der den Helden immer wieder in die Gefahr schickt und ihm gnadenlose Fristen setzt, der Held selbst, der wie ein Dieb durch die Handlung schleicht und erst spät erkennen lässt, dass er ein Prinz ist.
Am Ende führt gegenseitige Selbstaufopferung zur Rettung, gegenseitig schützen sich Kinder und Erwachsene und stehen für ihr Glück ein, der böse Vater und die treulose Mutter nehmen sich das Leben, die Bösen zerfleischen sich gegenseitig.

Unter dem Märchenaspekt gesehen, ist der fließend und antreibende Film geradezu brilliant, ergänzt das alles aber noch durch Kameraspielereien, Schwenks, PC-Tricks, Rückblenden, Verzögerungen oder Beschleunigungen des Tempos.
Das ist ebenfalls interessant, lässt aber den Ton der Erzählung ständig wechseln und hält (gewollt oder nicht) den Zuschauer über die Guten und die vielleicht-nicht-ganz-so-Guten im Unklaren. Das macht zwar unruhig, hält den Zuschauer aber bei der Stange.
Interessanterweise ist die beste (und erschreckenste, aber auch befriedigendste) Sequenz im ganzen Film das Intermezzo mit den Kinderschändern, ein freundliches Pärchen, das scheinbar hilfsbereit den russischen Jungen vor seinem Vater bewahrt. Doch schon der über-freundliche Ton warnt und so findet sich Oleg in einer komplett abgeriegelten Wohnung wieder, in welcher die beiden offenbar Pornofilme mit den Kinder drehen. Als es Paul Walkers Frau schließlich gelingt, in die Wohnung einzubrechen, ein bunter, aber auch steriler Traum mit zwei stillen Kindern in ihren Betten, wird die ohnehin bedrohliche Situation immer alptraumhafter, bis sie nacheinander erst den erstickenden Jungen und später die Video und darauf noch die Mordwerkzeuge, mit denen man Leichen zerteilen kann findet. Natürlich ist das in der Menge abstrus, denkt man aber an die belgischen Kindermorde, ist die Realität gar nicht so fern und Vera Farmiga erlöst den Zuschauer mit einem märchenhaften Racheakt aus diesem Teil des Alptraums.

„Running Scared“ ist sicher kein bewusst auf Metaebene angelegtes Gegen-die-Zeit-Drama, dafür betont es die Exploitation-Element viel zu sehr und setzt auf Blut und Graumsamkeiten (vor allem gegen Ende als die Gewalt im Eisstadion eskaliert), beweist aber mehr Grundlagen als das typische Ballerfilmchen, dem die Gewalt an sich zum Selbstzweck genügt.
Nichts für typische Zielgruppen, aber ein Film an den man sich erinnert. (8/10)

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