„Es war jetzt eine Woche her, dass ich Betty getroffen hatte. Wir bumsten jede Nacht.“
Der nach „Diva“ und „Der Mond in der Gosse“ dritte abendfüllende Spielfilm des französischen Regisseurs Jean-Jacques Beineix ist das Beziehungsdrama „Betty Blue - 37,2 Grad am Morgen“ – eine Verfilmung des (mir unbekannten) gleichnamigen Romans Philippe Dijans, das Beineix persönlich in Drehbuchform adaptierte. „Betty Blue“ kam 1986 in die Kinos und avancierte zu einem Kultfilm des 1980er-Jahrzehnts.
„Irgendwo muss es das Paradies für uns geben!“
Zorg (Jean-Hugues Anglade, „Nikita“), ein junger, genügsamer Mann, ist eigentlich recht zufrieden mit seinem Lebensmittelpunkt in einer Strandhaussiedlung an der französischen Mittelmeerküste, wo er sich mit dem Anstreichen und der Instandhaltung der Häuser finanziell über Wasser hält, nachdem er gerade seinen Job auf dem Schrottplatz verloren hat. Denn kürzlich hat er Betty (Béatrice Dalle, „Die Rache einer Frau“) kennengelernt, eine lebenslustige, temperamentvolle, impulsive, etwas verrückte und verdammt hübsche junge Frau. Nachdem man regelmäßig leidenschaftlich übereinander hergefallen ist, zieht Betty zu Zorg in die Strandbarracke, denn nun hat sie ihren Job als Kellnerin verloren. Nach einem Streit entdeckt sie ein Manuskript und damit die ihr bisher unbekannte Seite Zorgs als verhinderter Schriftsteller, woraufhin sie seine Karriere als Autor zu fördern, ja, regelrecht zu erzwingen versucht. Sie ist sich sicher, Zorg sei zu Höherem berufen, und beendet sein bisheriges Schicksal als eine Art Tagelöhner mit einer radikalen Maßnahme: Nach einem weiteren Streit mit seinem verhassten Chef setzt sie die Baracke in Brand. Gemeinsam zieht man zu Bettys Freundin Lisa (Consuelo De Haviland, „Panther II – Eiskalt wie Feuer“) nach Paris, wo sie in der Pizzeria von Lisas Freund Eddy (Gérard Darmon, „Mörderischer Engel“) kellnern. Betty tippt Zorgs Manuskript ab und sendet es an diverse Verlage, deren Absagen Zorg vor ihr versteckt. Betty wird immer ungeduldiger und unterliegt heftigen Stimmungsschwankungen, die auch in aggressiven Attacken resultieren, so auf einen nervigen Pizzeria-Gast oder den Mitarbeiter eines Buchverlags. Nach dem Tod Eddys Mutter beziehen sie deren Haus und kümmern sich um den Klavierladen. Zorg arrangiert sich auch mit dieser Situation und findet in Bob (Jacques Mathou, „Angst über der Stadt“) und dessen freizügiger Frau Annie (Clémentine Célarié, „Kollege kommt gleich!“) neue Freunde, doch Betty verhält sich immer seltsamer und hysterischer. Bis ein positiver Schwangerschaftstest mit anschließend jedoch negativem Laborergebnis der jungen Frau endgültig den Verstand raubt und es zur Katastrophe kommt…
„Wir haben uns geliebt. Wir waren wie im Taumel. Während wir bumsten kam mir ihre Spirale vor wie eine klapprige Tür, die im Wind hin und her schwenkt.“
Die Handlung wird in erster Linie aus Zorgs Perspektive geschildert, der auch als Voice-over-Erzähler in Erscheinung tritt – und ist daher ähnlich unfokussiert und – insbesondere im rund dreistündigen Director’s Cut – vor sich hin dümpelnd, wie es Zorgs Charakter entspricht. Was ihm vielleicht an etwas Dampf auf dem Kessel fehlt, hat Betty im Überfluss. Zwei Welten prallen aufeinander, scheinen sich jedoch zunächst prima zu ergänzen. Eine rein glückliche Fügung, auf der basierend fortan die Dinge einen positiven Verlauf nehmen und sich Zorg zum erfolgreichen Schriftsteller mausert, weil die feurige Betty ihrem etwas antriebslosen Freund regelmäßig in den Hintern tritt, wäre dies in einem Hollywood-Märchen. „Betty Blue – 37,2 Grad am Morgen“ ist jedoch stark dem Realismus verpflichtet, was sich zunächst in einem seiner offensichtlichsten und damit auffälligsten Merkmale äußert: Beide, Betty und Zorg, haben etliche Szenen natürlicher, selbstverständlicher Nacktheit, Liebesszenen, klar – der Film beginnt unmittelbar mit einer gleichsam authentisch wirkenden wie erotischen Sexszene –, aber auch ganz normale Alltagsszenen, in denen Erotik wenn überhaupt lediglich beiläufiger Bestandteil ist.
„Sobald ich mir irgendwas wünsche, merke ich, dass mir nichts zusteht...“
Diesem Realismus ist auch die „Normalität“ fast aller Figuren geschuldet. Charakterliche Klischees werden mitunter angedeutet, geraten aber nie zur Karikatur; Übertreibung eventuell, Überzeichnung eher nein. Dies untergräbt etwaig aufgebaute Erwartungshaltungen an die Figuren und mag dadurch bisweilen irritierend wirken, ist jedoch integraler Bestandteil des Filmstils, der auf Gut und Böse sowie sämtliche Schwarzweißmalerei verzichtet. Im Director’s Cut folgt er nicht einmal unbedingt einem bestimmten dramaturgischen Erzählfluss, der Film lässt sich mühelos pausieren und zu einem späteren Zeitpunkt, vielleicht auch erst eine Woche später fortsetzen, um einmal zu schauen, wie es Betty und Zorg denn gerade wohl so gehen mag. Und was man dann sieht, ist oft amourös und leidenschaftlich, mitunter auch komisch, aber eben auch erschreckend, verzweifelt, destruktiv – Beineix deckt viele emotionale Facetten der Beziehung ab. Etwas aus der Reihe fällt lediglich Zorgs Raubüberfall, der punktgenau und spannend, dabei mit viel Humor inszeniert wurde und – gemessen an seiner Bedeutung für den weiteren Verlauf – ungewöhnlich detailliert gezeigt wird, beinahe wie ein Film im Film.
So sympathisch, weil ehrlich und anarchisch, fast schon beneidenswert radikal und kompromisslos anmutend Bettys Wutausbrüche anfänglich auch sein mögen, sie entwickeln sich zu einem echten Problem und richten sich ab einem gewissen Punkt auch gegen sie selbst. In ihrem Verhalten werden Symptome eines Borderline-Syndroms und einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung erkennbar, später scheint eine ausgemachte Psychose hinzuzukommen. Mit den Borderline-Symptomen ist hier nicht das selbst beigefügte Aufritzen von Gliedmaßen gemeint, wie es bei Teenie-Mädchen verbreitet ist. Vielmehr beschreibt es andere, auch nichtphysische Formen selbstverletzenden Verhaltens wie das mit dem Arsch Einreißen mühsam aufgebauter harmonischer Beziehungen oder Vertrauensverhältnisse, Überreaktionen und kaum nachvollziehbarer Habitus, der negative Konsequenzen nach sich ziehen muss und zu einer Geduldsprobe für jede zwischenmenschliche Beziehung wird. Ihren Narzissmus wiederum projiziert sie auf Zorg: Nicht sie glaubt, etwas ganz Besonderes zu sein, sondern ihr Lebensgefährte ist es, muss es sein, wird es in jedem Falle werden. Und wer daran zweifelt, wird zu ihrem persönlichen Feind. Zugleich spricht aus diesem Verhaltensmuster eine ausgeprägte Hilfsbedürftigkeit, sodass die regelrechte Besessenheit vom jeweils anderen – der ja auch immer etwas Fatalistisch-Romantisches innewohnt – auch bei Zorg zu finden ist. Ein bisschen wie Bonnie & Clyde, inklusive der selbstzerstörerischen Komponente.
Béatrice Dalle, die in „Betty Blue“ als Kinoschauspielerin debütierte, entpuppte sich als eine echte Entdeckung. Mit ihren auseinanderstehenden Vorderzähnen und ihrer herausfordernd hervorstehenden Unterlippe sowie ihrer selbstverständlich wirkenden Freizügigkeit verfügte sie über reichlich Straßensexappeal, die Rolle schien ihr wie auf den Leib geschneidert. Sie füllte sie mit einer solchen Inbrunst aus, dass sie kaum jemand vergessen wird, der sie hier sah – und sie zum Mittelpunkt des aus Zorgs Sicht erzählten Films wird, weil Betty auch sein Mittelpunkt geworden war. Jean-Hugues Anglade ist, wenngleich den wesentlich unemotionaler anmutenden Part mimend, lange Zeit der Ruhepol des Films, dem man im weiteren Verlauf immer stärker ansieht, wie sehr ihn Bettys Entwicklung mitnimmt – ohne große Worte darüber verlieren zu müssen. Und mit Nacktheit hat er ebenfalls kein Problem. Beide Schauspieler ergänzen sich beeindruckend, ganz so, wie es ihre Rollen anfänglich tun. Die Kameraarbeit setzt nicht nur beide perfekt in Szene, sondern beweist auch ein gutes Auge für das jeweilige Ambiente – mühelos gelingt ihr der Übergang von sonnendurchfluteten Sommerstrandbildern zu wuseligeren urbanen Schauplätzen. Auf eine hyperbunte ‘80er-Farbpalette wird dabei verzichtet, insbesondere in Innenräumen dominieren eher warme, gedeckte Farben.
Die Klimax schließlich ist dann doch überzeichnet, ein solch extremer Verlauf ist eher ungewöhnlich und mir zumindest nicht bekannt. Das Publikum bleibt genauso ohnmächtig und überfordert wie Zorg. Und da sowohl das Drehbuch als auch Betty kaum echte Erklärungen bereithalten, wirft „Betty Blue“ mehr Fragen auf, als er beantwortet. Wie wohl Betroffene das Ende aufgefasst haben? Eventuell gar als Befriedigung einer eigenen perversen Todessehnsucht? Letztlich scheint Zorg stärker von der Beziehung zu profitieren als Betty, denn er zog Inspiration aus ihr – möglicherweise hat sie ihn tatsächlich dazu gebracht, ein richtiger Schriftsteller zu werden. Dass sich der Film mit Einordnungen und Erklärungen derart zurückhält, macht ihn zu einer Art unverarbeitetem Lebens-, Lust- und Leidensweg mit finalem Schock, der über den Filmgenuss nachwirkt.