Als Mary Forbess (Jennifer Jones) auf den römischen Hauptbahnhof zuläuft, weiß sie noch nicht, ob dieser Ort Rettung oder Fluch verspricht. Sie wollte an der Tür im dritten Stock des römischen Wohnhauses klingeln, aber sie wagte es nicht und lief stattdessen fluchtartig die Treppen hinunter und rief ein Taxi, dass sie zum Bahnhof brachte.
Nichts hat sie organisiert. Weder besitzt sie eine Fahrkarte, noch hat sie sich von ihrer Familie verabschiedet. Nicht einmal ihr Gepäck hat sie dabei. Die junge Amerikanerin sieht sehr schön aus in ihrem eleganten Kostüm und bemüht sich um die Organisation ihrer Abreise. Gleis und Abfahrtzeit des Zuges, Anruf bei ihrer in Rom lebenden Schwester mit der Bitte, dass ihr Neffe das Gepäck zum Zug bringt, ein Geschenk für ihre Tochter zu Hause in den USA und ein Telegramm an den Geliebten, von dem sie nicht mehr Abschied nehmen konnte.
Sie sitzt endlich in ihrem Abteil. Ein freundlicher Herr hat ihr den Sitz angeboten und sie ist so in Gedanken, dass sie das Kindergeschrei und die Ermahnungen der Eltern nicht mehr hört. Bis er vor ihrem Fenster steht. Giovanni Doria (Montgomery Clift) hat sie eingeholt, ihre Flucht war vergebens und sie tritt wieder aus dem Zug. Erst jetzt, als sie ihm gegenüber steht und seine Vorwürfe zu entkräften versucht, hat sie der Bahnhof in seinen Besitz genommen.
Stazione Termini - römischer Kopfbahnhof.
Auf Anweisung Mussolinis wurde das Gebäude ab 1938 komplett im faschistischen Baustil neu gebaut, konnte aber wegen des 2.Weltkriegs nicht fertiggestellt werden. Das Empfangsgebäude wurde erst nach dem Krieg bis 1951 im Stil der Moderne fertiggestellt. Beide Stile verbinden sich in ihrer überdimensionalen Grösse. Das weit auskragende Vordach, die riesige Empfangshalle, die vielen Gleisanlagen, die Nebengebäude bis hin zu den Wartesälen wirken dominant, während die Menschen, die sich darin zurecht finden müssen, klein und verletzlich scheinen.
Die Größe bedeutet keinen Freiraum, sondern hat nur die Funktion, große Menschenmengen auf geordneten Wegen zu den Zügen zu geleiten. Der Komplex vermittelt die Gegensätze zwischen Vor- und Nachkriegszeit - den Geist des Faschismus mit der Unterdrückung der Individualität und die klare, pragmatische Formsprache, die in ihrer Ästhetik nicht ohne Reiz ist, aber eine denkbar ungünstige Umgebung für zwei Menschen abgibt, die nicht wissen, wie sie mit ihren Gefühlen umgehen sollen.
Neorealismus trifft Hollywood
Wie das Bahnhofsgebäude ist Vittorio De Sicas Film voller Gegensätze. Seine neorealistischen Werke "Fahrraddiebe" oder "Umberto D." hatten große Bewunderung in Hollywood erfahren und der einflussreiche Produzent Selznick ersuchte De Sica um eine Zusammenarbeit, die seiner Frau Jennifer Jones wieder zu neuem Ruhm verhelfen sollte. Cesare Zavattini, der mit De Sica bei dessen berühmtesten Filmen zusammen arbeitete, sollte wieder das Drehbuch schreiben, unterstützt von Truman Capote, der für die Dialoge zuständig war.
Die Konzentration auf einen Ort und einen knapp bemessenen Zeitraum, der im Film nahezu in Echtzeit abläuft, sollte zwei gegensätzliche Elemente vereinigen - die tragische Liebesgeschichte zweier Hollywood-Stars und das reale Leben der römischen Bevölkerung. Während den Amerikanern Montgomery Clift und Jennifer Jones an Hand einer Story Gelegenheit zum "method acting" gegeben werden sollte, ließ De Sica die italienische Bevölkerung als übliche Nutzer eines Bahnhofs "auftreten" : am Fahrkartenschalter, beim Telegrammaufsetzen, als Käufer und Verkäufer, Bahnangestellte und Bahnpolizisten, Abholende, Bringende oder ganz normale Zugreisende.
Diese gewollte Verschmelzung hatte zur Folge, dass beide Resultate unbefriedigend ausfielen. In den USA fiel der Film bei den Previews als zu artifiziell durch - weswegen er von Selznick um fast ein Drittel gekürzt wurde - während De Sicas realistische Szenen in ihrer Normalität zu wenig gesellschaftskritische Relevanz aufwiesen, um im Sinne des Neorealismus, der 1953 seinen Zenit schon überschritten hatte, Anerkennung zu erfahren. Aus ihrem Zeitkontext ist diese Kritik angesichts der unterschiedlichen Erwartungshaltungen nachvollziehbar, aber komplex betrachtet, birgt die Inszenierung erhebliche Qualitäten in sich.
Die Wahl des "Stazione Termini" als Handlungsort ist genial, denn er gibt den Massstab für Größe vor - die Größe der Individualität, der persönlichen Konsequenz und der Menschlichkeit. Dabei hinterläßt die italienische Bevölkerung den stärksten Eindruck, denn es gelingt ihr, den Bahnhof auf ein menschliches Mass zurecht zu stutzen. Durch die Selbstverständlichkeit, mit der sie sich in diesen Räumlichkeiten bewegt, durch ihr gemeinsames Auftreten und nicht zuletzt durch die Großzügigkeit, die Gino Cervi als Polizeikommissar walten lässt, indem er sich nicht moralischen Gepflogenheiten unterordnet, vermittelt De Sica ein optimistisches Bild einer Bevölkerung, welche sich nicht unterkriegen lässt. Die Obrigkeit wird hier durch den massigen Bau verkörpert und wenn De Sica den einfachen Menschen trotz offensichtlicher Armut Lebensfreude und Mut an diesem Ort zugesteht, dann ist er in seiner Intention ganz nah an seinen neorealistischen Werken.
Genau entgegengesetzt verfährt er mit den großen Stars. Zwar spielt Clift einen Italiener, aber dank amerikanischer Mutter spricht er perfekt englisch und wirkt gemeinsam mit Jennifer Jones wie ein Fremdkörper. Der Versuch sich auszusprechen oder auch nur einen Augenblick allein zu sein, wird durch diesen Ort konsequent gestört, bis sie letztendlich auf der Polizeiwache landen. Mit jeder Minute, die sie verzweifelt um einen Moment der Privatheit kämpfen, wirken sie kleiner und verletzlicher. Clifts Wutausbrüche sind die Reaktionen eines Verzweifelten, während Jones demütig wird, angesichts der Unmöglichkeit ihres Verlangens.
Darin liegt keine Demontage, sondern eine spürbar menschliche Dimension, die besonders zu Jennifer Jones Nähe erzeugt - selten war sie so zart und schön. Und gleichzeitig stark und konsequent. Ihre letztendliche Entscheidung birgt keinerlei Anpassung an die moralischen Erwartungen an eine verheiratete Frau dieser Zeit in sich, genauso wie ihre Liebesaffäre zu dem jungen Akademiker Doria nicht verurteilt wird - in seiner Liberalität ist der Film heutigen Werken weit überlegen - sondern fußt nur auf einer inneren Überzeugung, zu der sie an einem anderen Ort vielleicht gar nicht in der Lage gewesen wäre.
"Stazione Termini" ist voller Gegensätze. Das kantige Gebäude und die Menschenmengen. Drama und Alltag. Privat und öffentlich. Liebe und Pflicht. Hell und Dunkel. Schönheit (8,5/10).