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"Wo ist mein Traum?"...

...fragt Sandy (Laura Dern). Aber dein Traum ist doch da! Er liegt nicht zu deinen Füßen, weil deine Füße der Traum sind. Du bist der Traum. Du bist das blonde, unschuldige Mädchen der Suburbia mit ihren schneeweißen Picket Fences, leuchtend roten American-Beauty-Rosen und sonnenblumengelben Tulpen. Embleme wie diese, wie auch lachende Feuerwehrmänner in Zeitlupe, sie spiegeln den American Dream, wie er heutzutage in der Wisteria Lane dekonstruiert wird. 1988 noch in Lumberton, das David Lynch einige Jahre später ausdehnte und Twin Peaks nannte. Obwohl - im Grunde wird in "Blue Velvet" nichts eingerissen, zumindest keine Fassade. Der Schutzwall, Sandy, steht am Ende so fest wie eh und je.

Zuvor: Jeffrey (Kyle MacLachlan) findet ein Ohr. David Lynch wäre nicht David Lynch, würde er die Kamera nicht dort hereinfahren lassen in den toten Knorpel. Sie kreucht mitunter durch satt-grünes Gras hin zu ekligen Käfern, und noch ehe sie im Begriff ist, dies zu tun, entschwebt der Film der Welt des Englischen Rasens und landet in einer fremden, seltsamen. Die Fassade wird also nicht zerlegt, sondern einfach nur durchdrungen. Das abgeschnittene Ohr als mysteriöses Schlupfloch in der Trennwand zwischen zwei übereinander geschichteten Welten. Das Ohr als Amputation der Idylle, eine Verletzung dieser zweifelsohne. Das tote Ohr aber ebenso nun ein Torso des Unbehagens. Fürderhin bist du, Sandy, eindeutig der Archetypus alles Unbefleckten. Anständig, sauber, bieder. Du bist hermetisch gefangen in der heimeligen Kleinstadt oder, um es mit den Worten Sigmund Freuds zu formulieren: du bist gefangen im Kosmos des Über-Ichs, Heimat der braven Bürgerlichkeit und Sittengesetze, man könnte auch sagen der glamourösen Abschlussbälle, der Heimat der Footballer und Cheerleader, in der die Freundin des Quarterbacks stets gleich auch das Cheerleader-Frontmädchen ist. Aber dies würde etwas zu weit greifen, denn jener klischeereichen Zuspitzung bedient sich David Lynch nur, wenn es nötig ist: Am Anfang und am Ende.

Im Es lebt dein Pendant - die dunkelhaarige Dorothy (Isabella Rossellini). Eine versehrte Frau herausgerissen aus dem Über-Ich. Frank Booth (Dennis Hopper) hat Kind und Ehemann entführt und letzterem ein Ohr abgeschnitten. Jetzt ist sie seine Sklavin. Frank, ein wandelndes Lustprinzip, erpresst sie, schlägt sie, vergewaltigt sie, besitzt sie voll und ganz. Auf dieser zutiefst aufgerauten Seite, hinter der Fassade, ist nichts mehr heil. Hier finden sich noch Motive klar und eindeutig, während sie in Lynchs späteren Mysteryfilmen regelrecht transzendiert werden. Das "Böse" ist manifestiert in der Gestalt Frank Booths. Niemals war es so konzentriert wie hier, selbst nicht in der Figur Mr. Eddys / Dick Laurents aus "Lost Highway", in dem es eher die kafkaeske Aura einer unbestimmten, allgegenwärtigen Macht ist, die vor allem im mysteriösen Bild und auf der grummelnden Tonspur ihre Präsenz fühlen lässt.

In "Blue Velvet" ist jene Macht dagegen personifiziert. Und sie geht unweigerlich einher mit entrückter Sexualität. Dir Sandy mag es unvorstellbar erscheinen, aber Frank Booth kompensiert die fehlende sexuelle Männlichkeit mit strengem Despotismus. Unsubtile Triebbefriedigung bedeutet Unterdrückung und Aggression, subtile blauer Samt als Fetisch und ein schnelles Auto und das schnelle Fahren eines schnellen Autos. Dorothy ist bereits dort, wo es dunkel ist, weil die Misshandlungen abgefärbt und zu einem verruchten Sexualverhältnis geführt haben. Es geht nicht mehr ohne Schlagen, ohne Demütigung. Und Sandy, nun höre nicht hin, was ich dir sage… ihr Jeffrey, in den sie sich mädchenhaft verliebt hat, ihn reizen die unanständigen Obsessionen. Er ist ein zweigleisig Fahrender, hin- und hergerissen zwischen zwei Frauen, die lynchleitmotivisch nicht ganz zufällig mit ihren Haarfarben den Kontrast symbolisieren.

Es scheint, als habe der Ohrfund den Detektiv in Jeffrey geweckt. Sandy, du bemerkst im Hinblick auf den daraufhin gezeitigten voyeuristischen Trieb einmal, dass du nicht wisse, ob er nur neugierig sei oder pervers. Er ist beides, sage ich dir und mehr verrate ich nicht. Denn jetzt haben wir das Ohr, diesmal ein lebendiges, das geerdete Terrain wieder verlassen und sind zurückgekehrt ins Wolkenkuckucksheim. Da sind die roten Rosen, die gelben Tulpen! Da ist ein Rotkehlchen! Sieh, da ist auch wieder der freundliche Feuerwehrmann! Und dort! Da ist sogar die entschlackte Dorothy mit ihrem Kind! "Wo ist mein Traum?". Sei beruhigt, Sandy, hier ist er doch.

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