Nachdem Alfred Hitchcock mit dem Justizdrama „Der Fall Paradin“, seiner letzten Auftragsarbeit für Produzent David O. Selznick, Zuschauer wie Kritiker ziemlich enttäuschte, fand er 1948 mit „Cocktail für eine Leiche“ (die wörtliche Übersetzung von „Rope“ war den deutschen Titelgebenden augenscheinlich zu unspektakulär) zu alter Stärke zurück und inszenierte einen gleich in vielerlei Hinsicht bemerkenswerten Thriller.
Bemerkenswert einmal deshalb, weil es sich hierbei um seinen allerersten Farbfilm handelt. Was für die Kinohistorie jedoch viel interessanter war: „Cocktail für eine Leiche“ gilt allgemein nicht nur als einer der ersten Echtzeit-Film (d.h. die Handlungszeit entspricht der Dauer des Films), sondern auch als erster Film überhaupt, der dem Zuschauer suggerieren soll, in einer einzigen Einstellung, ohne einen sichtbaren Schnitt, gedreht worden zu sein – eine Vorgehensweise, welche völlig untypisch für Hitchcock und auch für das Kino im allgemeinen ist. Immerhin leben Filme doch u.a. von der Möglichkeit der Schnittarbeit. Hier wird mit den Traditionen des Kinos gebrochen. (Das andere Extrem mit was weiß ich wie vielen Einstellungen in 45 Sekunden finden wir 1960 in der legendären „Psycho“-Duschszene.)
Daß gerade der technische Aspekt es war, der Hitchcock so sehr an diesem Projekt reizte, wird jedem offenbar, der sich bereits eingehender mit seinen Werken beschäftigt hat. So war er es z.B., der den ersten britischen Tonfilm ins Kino brachte („Erpressung“), und er war auch der Regisseur, der als erster überhaupt das Thema „Psychoanalyse“ in dem Thriller „Ich kämpfe um dich“ behandelte – dies zwar in äußerst fragwürdiger Form, aber das war ihm egal. Hauptsache, er war der Erste! Und so steht er eben auch mit diesem Film in den Geschichtsbüchern.
Für den Zuschauer mit diesem entscheidenden Vorwissen erscheint es da nur allzu verständlich, daß Hitchcock diesmal auf jeden Anflug von Action verzichten mußte. Denn wie soll man etwa eine Verfolgungsjagd ohne Schnitte hinbekommen? Eben, das geht nicht. Für ein solches Experiment bot sich eigentlich nur ein Theaterstück an, welches er mit „The Rope “ von Patrick Hamilton nach einer wahren Begebenheit, dem Leopold/Loeb-Fall, auch fand: Die Studenten Brandon (John Dall) und Philip (Farley Granger) bringen ihren Kommilitonen David um – aus dem absurden Grund, sich selbst zu beweisen, daß der perfekte Mord möglich ist. Doch damit nicht genug: Um das „Kunstwerk“ zu vollenden, geben sie anschließend eine Party, für die u.a. Vater und Tante sowie Geliebte des Toten und auch David selbst eingeladen sind – und das kalte Büffet wird auf einer Truhe serviert, in der der Leichnam liegt...
Das ist die durchaus spannende Ausgangslage des Films – für Hitchcock war der Inhalt allerdings wohl eher lästige Pflichtarbeit, die Technik war es eben, die ihm viel wichtiger war, die Frage „Wie schaffe ich es, den Zuschauer glauben zu machen, der Film bestehe aus nur einer Einstellung?“ stand vor allem anderen. Auf ihn wartete eine Sisyphusarbeit, eine Arbeit, die 1948 technisch schlichtweg nicht zu bewerkstelligen war, weil damals Filmspulen mit einer Länge von lediglich zehn Minuten ins Kameramagazin paßten, danach gewechselt werden mußten. Aber Hitchcock wäre nicht Hitchcock, wenn er nicht auch diese Hürde genommen hätte: Er ließ den Kameramann jeweils unmittelbar vor dem Ende einer Spule ganz nah an den schwarzen Anzug eines Schauspielers oder einen Gegenstand heranfahren, tauschte die Spule aus, positionierte die Darsteller genau dort, wo sie vor dem Austausch standen/saßen, ließ den Kameramann wieder filmen und zurücktreten, die Darsteller mit dem Text fortfahren, mit dem sie aufhörten – und schon hatte man ein großes Problem gemeistert. Die Zuschauer würden sich zwar eventuell wundern, was das sollte, mehr aber auch nicht. Respekt für alle Mühen und Anerkennung für das Fast-Gelingen. Ich schreibe bewußt Fast-Gelingen, denn – auch auf die Gefahr hin, kleinkariert zu sein und den Regisseur da oben zu verärgern, es ist nun mal Fakt - in dem Moment, in dem Janet (Joan Chandler), Davids Freundin, auf der Party auftaucht und das Set betritt, ist ein Schnitt deutlich erkennbar, wenn man darauf achtet. Wird allerdings von allen mir bekannten Kritikern, die sich mit dem hitchcockschen Schaffen beschäftigen, durchgehend wohlwollend übersehen... :-)
Aber alle technischen Aspekte beiseite gelassen, ergibt sich auch handlungsmäßig ein mit 75 Minuten kurzer, doch interessanter Film, der von ungeheurer Spannung ist – diesmal wird sie halt nur entgegen der sonstigen Gepflogenheiten des Regisseurs aus den Dialogen gewonnen, dem zunehmend verunsicherten Verhalten der beiden Hauptcharaktere. Beschränkt auf nur einen Schauplatz, ein elegantes Apartment mit Aussicht auf die New Yorker Skyline, artet der als gemütlich geplante Abend allmählich zu einer Nervenprobe für das Duo aus, die erst mal überstanden werden muß - heraufbeschworen durch den Auftritt von Rupert Cadell (James Stewart), dem Professor und zugleich durch seine zynisch-philosophischen Überzeugungen unfreiwilliger Stichwortgeber der Mörder, der schnell mehr durchschaut, als die über Davids Nichterscheinen lediglich verwunderten und besorgten Gäste und vor allem Brandon (dessen Idee es war, Rupert einzuladen) wahrhaben wollen.
Hitchcock nutzt diese Ausgangslage wie so häufig (siehe „Frenzy“) weidlich aus, um den Zuschauer in einen Gewissenskonflikt zu stürzen: Obwohl nicht mal sonderlich sympathisch (Philip ist ein ängstlicher Waschlappen, der schon direkt nach der Tat Skrupel bekommt, seine Tat bedauert, von einer Verlegenheit in die nächste stürzt; Brandon hingegen will cool wirken und versucht in fast schon überheblicher Art und Weise mit zahlreichen versteckten Andeutungen gar nicht erst, den Mord gegenüber seinen Gästen zu verschleiern), zittert man mit den beiden Mördern mit, hofft mit ihnen, die Leiche möge bitte schön unentdeckt bleiben. (Bestes Beispiel: Haushälterin Mrs. Wilson räumt die Reste des kalten Büffets, die Kerzenständer, das Tafeltuch nach und nach von der Truhe, in der die Leiche steckt, und es ist zu erwarten, daß sie sie jederzeit öffnen wird, um die Bücher einzuräumen.)
Bis zum Schluß ist äußerste Aufmerksamkeit geboten, das dialogreiche Skript zwingt einen dazu. Auf makabre Details brauchen wir dabei, wegen der Thematik nur verständlich, nicht zu verzichten: Die Truhe, auf der das Büffet steht; Gespräche über das Halsumdrehen von Hühnern, während die Gäste Hühnchen essen – und nicht zuletzt Brandons laut artikulierte Übermenschentheorie, nach der einige wenige Auserwählte das Recht haben, andere Leute umzubringen. Humor gibt’s auch phasenweise, der spielt hier aber eher eine untergeordnete Rolle.
Eminent wichtig wie für jedes Theaterstück, in dem nun mal die Menschen und nicht die Action im Vordergrund stehen, sind die schauspielerischen Leistungen. Durch das ehrgeizige Ziel, „Cocktail für eine Leiche“ schnittfrei drehen zu müssen, stiegen natürlich auch die Anforderungen an die Darsteller, weil sie sich schließlich zehn Minuten am Stück keine Aussetzer leisten durften, ansonsten hätte man die Szene noch einmal von vorn drehen müssen. Ihre Sache machen sie in diesem Neun-Personen-Stück (eigentlich Acht-Personen-Stück, da David schon nach einer Minute erwürgt wird und Schauspieler Dick Hogan grad mal fünf Sekunden zu sehen ist) durch die Bank weg gut. Farley Granger und der wenig bekannte John Dall überzeugen in ihren unterschiedlichen Täter-Rollen (wobei man sich irgendwie überhaupt nicht vorstellen kann, wie ein Hasenfuß wie Philip sich überhaupt zu einem Mord überreden lassen konnte, wenn er’s doch Sekunden später gleich bedauert), James Stewart, der erst nach einer guten halben Stunde auftritt und von da an die Hauptfigur gibt, beweist in seinem ersten Hitchcock-Film seine Fähigkeiten und bot sich durch seine Leistung gleich für weitere (größere) (Helden-)Rollen an. In den Nebenrollen stechen besonders Sir Cedric Hardwicke als Davids Vater Mr. Kentley, der die Überzeugungen von Brandon und Rupert („Mord ist eine Kunst“) überhaupt nicht teilen kann, und die unvergleichliche Edith Evanson als geschwätzige Putzfrau Mrs. Wilson hervor.
Musikalische Untermalung bietet uns Hitchcock konsequenterweise – schließlich würde das nicht zu dieser Art Film passen – abgesehen von Vor- und Abspann nicht an. Die einzigen Klänge lässt Philip ertönen, der, um sich abzureagieren und den bohrenden Fragen seines Professors auszuweichen, sich ständig ans Klavier setzt und Francis Poulencs „Mouvement Perpétuel No. 1“ mehrfach zum Besten gibt.
Ein ungewöhnlicher Hitchcock, das steht außer Frage. Ich weiß, ich sag’ das öfter bei seinen Werken, aber was kann ich denn dafür, wenn es nun mal so ist? Aufgrund der ungewöhnlichen Technik (man beachte bitte auch, welch ausgezeichnete Arbeit die Crew bei der Illustration des Fortlaufs der Tageszeit – von strahlend-hellem Himmel bis zum Einsetzen der Abenddämmerung – abgeliefert hat, das habe ich nämlich oben gar nicht erwähnt) für Filmeliebhaber unbedingt Pflicht! 8/10.