Ist jetzt nichts mehr wie es einmal war?
Hat „Sin City“ die Filmlandschaft nun grundlegend verändert oder läuft dieser Prozeß noch und werden wir in den nächsten Jahren Dinge zu sehen bekommen, wie es sie noch nie gab?
Wird Hollywood es schaffen, auch diesen Trend in den Sand zu setzen mit minderwertigen Nachziehern derselben technischen Machart?
Oder ist das nur eine neue Form von Comicverfilmung, einfach mal mit anderen Mitteln produziert? Ist gar nichts neu?
Es ist an der Zeit, das erlegte Tier zu filetieren!
Das Visuelle
Es ist das Wesentliche, was den Zuschauer hier in Verzückung versetzen kann und kann als Hauptgrund für die Rezeption gesehen werden.
Robert Rodriguez hat eine Menge riskiert, u.a. den Austritt aus Vereinigung der Filmregisseure, um seine ureigenste Vision von Frank Millers Kultcomics umzusetzen. Ein Va-Banque-Spiel, das durchaus hätte schief gehen können.
Das ist nicht passiert.
Indem er die Schauspieler fast ausschließlich vor Green Screens agieren ließ und sämtliche Hintergründe der fiktiven Stadt Basin City durch Computergraphiken erschuf, bereicherte er die Zuschauerschaft um Bilder, wie sie in dieser Form noch nicht zu sehen waren. Aufregende, detailreiche und das Publikum frösteln lassende Tableaus einer düsteren Stadt, in der Gewalt und Tod herrschen, Prostituierte ihre eigene Exekutive sind und Schläger ambivalent gut und böse zugleich sind und Polizisten immer auch eine dunkle Seite haben.
Irgendwo zwischen totaler Künstlichkeit und detailreichen Kontrasten wird die schwarz-weiße Fiktivwelt zu einem Rausch der Bilder, die Vollendung all dessen, was etwa Tim Burton in seinen Batman-Filmen immer per Set angestrebt hatte.
Die wenigen Farbtupfer, die den Film nicht bereichern, sondern lediglich akzentuieren, ein rotes Kleid oder gelbes Blut heben sich dadurch nur schärfer ab.
Durch den Verzicht auf ein Storyboard und den Entschluß, die graphische Vorlage so genau wie möglich, selbst in punkto der Blickwinkel und Comicpanels in eine filmische Fassung einzubringen, schufen die Macher Bilder, an die man sich lange erinnern wird. Und als I-Tüpfelchen sogar noch bestimmten Sequenzen nur als Silhouetten, größtmögliche Vorlagennähe und breiteste Abstraktion.
So geht „Sin City“ den Weg zum Anfang des Mediums zurück, eine Geschichte samt und sonders über die Bilder zu erzählen. Ob das als Wiedergeburt oder als Totgeburt zu verstehen ist, muß das moderne Publikum entscheiden.
Der Comic als Film oder umgekehrt
Da stellt sich die Frage: ist „Sin City“ denn nun eigentlich ein richtiger Film? Ist eine Abfilmung der Millerschen Vorlage denn noch eine Adaption oder nur eine Beweglichmachung bereits vorhandener Bilderr?
Natürlich erklärt man den Film zur Comic-Verfilmung, aber der beinahe vollständige Verzicht, individueller filmmachender Stilmittel stellt diesen Begriff durchaus in Frage.
Wenn man von der Vorzeit des Films gern mit dem Zitat „als die Bilder laufen lernten“ spricht, so hat Rodriguez die Apotheose dieser Definition erreicht: den Transport eines Mediums in ein anderes ohne jegliche Transformation, wenn man von den bekannten Schauspielern einmal absieht. Der maximale Verfremdungseffekt ist eine leichte Unwirklichkeitsunschärfe in den Kampf- und Gewaltsequenzen (etwa wenn Marv cartoonesk mehrfach von Goldies Schwester überfahren wird oder selbst brutalste Angriffe überstanden werden) und auch da wird der Vorlage Rechnung getragen.
Selbstverständlich kann diese Verbeugung vor dem Autor zwar Präzedenzfall, aber nicht Leitmotiv für eine ganze Reihe von Filmen werden, denn ein Regisseur, der sein Ego dermaßen weit zurückstellt und die eigene künstlerische Integrität zeitweise einfriert, ist nicht so leicht zu finden.
Das Narrative
Erzählerisch bedingt die Abfilmung des Comics die größten Schwierigkeiten, denn es steuert nicht nur gegen die Erwartungen des Rezipienten/Zuschauers, sondern erfordert auch noch Mitarbeit und Verständnis.
Die gewaltreichen Stories um Liebe, Gier, Haß und Verrat sind „Pulp“ in ihrer reinsten Form, im luftleeren Raum existierend, die totale Künstlichkeit zum Zwecke der Unterhaltung. Simplifizierung des Plots – selten wurden Comics so sehr als rein visuelle Vorlagen entlarvt, minimale erzählerische Struktur, größtmögliche Radikalität. In dieser Radikalität ist nicht mal Platz für eine bewährte Form der Moral, alle drei Episoden sind Höllenfahrten, die erste (Marv) flieht zum Schluß in irrwitzigen Nihilismus, die zweite (Dwight) endet offen, als wäre sie nur eine einleitenden Episode zu weiteren Ereignisse, die dritte (Hartigan) trägt ihre altertümliche Botschaft so dick auf, daß sie in diesem Umfeld schon der Lächerlichkeit preisgegeben wird.
Die Wahl der Form, die Abfilmung des Comics, noch dazu eines sehr visuell einprägsamen, degradiert die Darsteller zu Statisten, zu Chiffren. Ihre Optik bringt den Gewinn, ihre Versenkung in die Figur, nicht ihre Interpretation der Rolle. Individualität wird hier klein geschrieben, wenn nicht negiert. Wenn nicht (bisweilen planloser) Aktionismus die Szenerie beherrscht, erheben die Blickwinkel der Kamera die Figuren zur Ikone.
Weswegen die Verfilmung auch nur funktionieren, die Möglichkeit der Erstarrung in absoluter Leblosigkeit nur verhindert werden konnte, indem man die Rollen mit charismatischen Stars besetzte. Allein Mickey Rourkes Physiognomie oder Willis Charaktergesicht, ganz abgesehen von den körperlichen Reizen der weiblichen Stars erwecken die „animierten Puppen“ zum Leben – und machen gleichzeitig die wahrhaft unerträglich artifiziellen Dialoge tragbar. Die sind nämlich ein Klischee, das sich sonst nicht problemlos auf die Leinwand übertragen läßt. Schließt man etwa die Augen und hört dem Geschehen nur zu, so kann man sich vor Schmerzen im Sessel winden, wenn man so möchte.
Erleichterung bringen da vor allem die Monologe bzw. Off-Kommentare, die pointierter sind als jeder bemühte Dialog und wieder an den Ausgangspunkt des Mediums zurückkehren, die Entsprechung zu den Schrifttafeln des Stummfilms.
Die Gewalt als Motor
Machen wir uns bei alledem nichts vor: der minimum sekundäre Grund dafür, sich „Sin City“ anzuschauen, ist die Gewalt.
Soviel Feinschliff in die Optik geflossen sein muß, so minimalistisch erscheint das erzählerische Potential. Würde nicht pausenlos die Leinwand mit Gewalttätigkeiten überflutet werden, würde der Look nicht die anderen Schwächen tragen können.
Eine fein geschliffene Geschichte des film noir moderne, in etwa so etwas wie „L.A.Confidential“ wäre für das neu kreierte Medium nicht tragbar, weil es Charakterzeichnung bedingen würde, nicht blosse Rißzeichnungen.
Der Film schwappt geradezu über vor Enthauptungen, Entmannungen, abgetrennten Gliedern, sickerndem Blut und zerschlagenen Gesichtern.
Auch das funktioniert nur hier, in einem realen Film wäre das alles zum Selbstzweck degradiert worden, während hier selbst die Gewaltung der Verfremdung unterliegt, die Figuren übermenschliche Überlebenskräfte aktivieren können, schlimmste Schläge relativ schnell wegstecken oder Schmerzen kommentarlos ignorieren, bei denen normale Menschen längst wahnsinnig geworden wäre.
So appelliert „Sin City“ an eine Art grausames Kind in uns allen, das diese menschenverachtenden Metzeleien wegen seine Stilisierung akzeptieren kann als zwar pervertierte, aber mit der unsrigen nicht in Verbindung stehenden Realität, in der man seine Triebe noch ausleben kann. Und so kann man sogar in diesen Abartigkeiten Spaß haben, ohne sich dafür schämen zu müssen.
Und so kehrt auch in diesem Punkt der Film an die Ursprünge zurück, die Flucht in fremde Welten und alte Zeiten und erlaubt es dem Zuschauer, sich seiner animalischen Triebe unbewußt bewußt zu werden. Ein abgesicherter Exzess für jeden, eine Ration legaler Drogen.
Ein Fazit: die äußeren Grenzen...
Jetzt muß man sich noch fragen, ob dem Film an sich noch Grenzen gesetzt sind, nach diesem Guerilla-Angriff auf die Sehnerven! Aus meiner Sicht schon.
Ich bestreite keineswegs das Wunderbare der Optik und die Funktionalität der ganzen Konstruktion, aber gleichzeitig zeigt sich „Sin City“ die eigenen Grenzen auf, wenn man jenseits der hier stimulierten Emotionen aufbrechen will.
„Sin City“ ist wie ein Rausch, der gelebt werden muß, das definitive Kino für den Moment.
Aber dieses „neue Medium“ wird nicht mit jeder beliebigen Vorlage funktionieren, sondern baut auf die Spezialisierung, auf das passende Vorlagenmaterial. Solange es voyeuristisch, vulgär und bis zum Exzess übertrieben bleibt, würde es funktionieren, denn so fällt die Künstlichkeit nicht so stark auf. Aber es gibt keinen Halt, wenn es darum geht, Geschichten zu erzählen, Stillstand ist Rückschritt, deswegen muß jemand zwangsläufig mit dem Vorliegenden herumexperimentieren und seine Grenzen ausloten.
Und ich fürchte, sie werden es verreißen!
„We blew it!“ (Easy Rider) – You bet! (9/10)