Das Medium Film lebt vom Gemisch aus Gesetzmäßigkeiten und Innovationen. Eine Ausgewogenheit erscheint erstrebenswert, allerdings ist die Dominanz eines Aspekts mitunter keinesfalls zum Scheitern verurteilt. Der Schlag gegen Konventionen kann befreiend, sogar erfrischend sein, vor allem, wenn das Projekt eine eigene Dynamik entwickelt und im wahrsten Sinne des Wortes vor Unabhängigkeit glänzt.
„Sin City“ ist nicht nur mit Neuerungen gespickt, sondern schlichtweg einzigartig, produziert entgegen klassischer, filmischer Definitionen.
Frank Millers Comic wurde eigentlich nicht verfilmt, vielmehr 1:1 visualisiert, die Vorlage wird faktisch lebendig.
Der Schöpfer selbst war der größte Hüter seines Werks, er wollte „Sin City“ nicht im Mainstreamformat verpacken lassen. Die Umstände erforderten gerade deshalb Mut und eine Vorliebe für Unkonventionelles, denn Ba[sin] City ist das Ballungszentrum von Gewalt, Brutalität, Korruption, Perversion, ausgeübt von Abschaum und Antihelden.
Detailtreue ist aufgrund dessen ohnehin mit einer Sünde verbunden, aber Robert Rodriguez’ Konzept ist mehr als eine inhaltlich präzise Umsetzung, er filmt quasi Bild für Bild ab.
Deshalb verwundert es auch gar nicht, dass Frank Miller das Projekt begeistert abgesegnete und Rodriguez ihm nicht nur als Fan die Ehre des Co-Regisseurs zuteil werden lassen wollte, es ist eigentlich eine Notwendigkeit.
Strukturiert in drei Episoden, unterteilt in mehrere Bruchstücke, erlebt man ein Kunstwerk, das mit Blut geschrieben wurde.
Das Gefüge erschließt sich vorerst nicht, die Verschachtelung wirkt, weil man zunächst von der Bildgewalt überwältigt wird. Monochrom, verfeinert durch einige Farbtupfer, die keinem Schema folgen, verschmelzen Animationen mit der Realität. Im Endeffekt ergibt sich ein undefinierbares Bild, zähflüssig wirkend, aber letztendlich so ausdrucksstark und klar, sodass man nur noch das Schlupfloch sucht, um vollends eintauchen zu können. Das Gezeigte als Schwarz-Weiß zu charakterisieren, wäre falsch, denn, mit Ausnahme der selektiv gewählten Farbtöne, werden Licht und Schatten betont, erzeugen einen Glanz innerhalb der hellen und dunklen Farbgegensätze. Die Faszination ist grenzenlos, zumal Rodriguez sein Mulitalent unter Beweis stellt, indem er mit diversen Kameraeinstellungen bzw. -fahrten perfektionistisch die Momente für die Ewigkeit festhält. Man neigt zu Übertreibungen, aber in diesem Fall wirkt jeder Schwenk und jede Drehung platziert, nein, vollkommen.
Das Ganze steht im Kontrast zu dem, was in Basin City geschieht, denn hier ist nichts von Schönheit geprägt, jede Episoden zeigt schonungslos den perversen Charakter der Stadt.
Jeder Charakter erzählt seine eigene, blutige Geschichte.
Hartigan (Bruce Willis), ein Cop, der kurz vor der Pensionierung steht, aber mit der Tötung eines Kinderschänders noch ein großes Ziel vor Augen hat. Es eilt, Hartigan hat nicht mehr viel Zeit, sein Herz ist schwach, die Wut dagegen grenzenlos. Freunde hat er mit Ausnahme von Nancy (Brittany Murphy), die für ihn wie eine Tochter ist, nicht. Die Umstände erlauben wenig Emotionalität, Vertrauen erstickt im kriminellen Treiben. Die Pforte zwischen Idealismus und Recht ist eng, vor allem in Sin City…
Teil zwei beschreibt Marv (Mickey Rourke), ein Monster von einem Mann, gewalttätig und kompromisslos. Als ihm Goldie (Jaime King) unverhofft Zuneigung schenkt, zeigt er Gefühle. Nachdem er sie tot neben sich im Bett auffindet, beginnt ein Rachefeldzug. Die Emotionen für seine Göttin verwandeln sich in Rachegelüste gegenüber dem Mörder. Die Spur führt zu Kevin (Elijah Wood), einem gefühlslosen Kannibalen…
In Folge dessen stellt sich Dwight (Clive Owen) vor. Selbstbewusst und ehrenvoll stellt er sich dem Kriminellen Jackie (Benicio del Toro) in den Weg, weil er Shellie (Brittany Murphy) bedroht. Shellie ist Mitglied der organisierten Prostituierten der Stadt, deren Anführerin Gail (Rosario Dawson) ist. Als Jackie in Old Town, dem Rotlichtviertel, weiterhin provoziert, entfacht er einen Bandenkrieg, denn schon bald offenbart er unfreiwillig seine wahre Identität. Dwight versucht das Schlimmste zu verhindern, aber das Friedensabkommen zwischen den Polizisten und Prostituierten scheint gefährdet…
Dialoge sind nicht nur das einzige kommunikative Bindeglied zwischen Betrachter und Film. Die Erzähler sind die Protagonisten. Im ersten Moment ist es völlig untypisch, weil sich das Handeln und Reden oftmals überschneidet und die Gedankengänge nicht von der Gestik und Mimik abgeleitet werden müssen. Aufgrund der Nähe zur Comicvorlage war der Vorgang notwendig, auch wenn er zu Beginn gewöhnungsbedürftig ist. Trotzdem ist die Perspektive erzähltechnisch kein Störfaktor, weil der Wechsel von Monolog und Dialog harmonisch gelingt und die Charaktere ohnehin keine Identifikationsfiguren sind. Verstehen kann man das Gesehene ohnehin nicht, die Gedanken bieten einen interessanten Einblick in die kranken Seelen der Protagonisten.
Ein verbindendes Element zwischen den Geschichten scheint auf den ersten Blick die kompromisslose Vorgehensweise zu sein. In Sin City gibt es keine Helden, wenn überhaupt nur von der brutalen Sorte. Die Protagonisten sind inkonsequent in ihrem Agieren. Eine Lüge folgt der anderen. Reden und Handeln differieren.
Trotzdem ist ausgerechnet die Liebe eine wesentliche Schnittmenge zwischen den Episoden. Jeder liebt auf eine andere Weise, aber die emotionale Verbundenheit ist bei allen drei Charakteren der Auslöser für das niederste Gewaltmotiv, die Rache.
Gefühle im hoffungslosen, kühlen Sumpf der Sünde, unvorstellbar.
Die Vorstellungen werden aber in vielerlei Hinsicht übertroffen, denn „Sin City“ fordert, konfrontiert mit Gegensätzen und verleitet zur Faszination für etwas, was an sich nicht beeindruckend sein kann bzw. darf. Genau hier liegen die Reize an der Stadt der Sünden, denn letztendlich ist man ihr nicht mehr weit entfernt.
So sinnlos die Gewaltorgien einerseits sind, man möchte sie nicht unbedingt verabscheuen. Die Schmerzgrenze ist nah, aber doch so fern.
Das Stilmittel einen Comic detailverliebt umzusetzen, ist ein wesentlicher Grund, weshalb das Erlebte, ein wenig gehemmt wird. Die Brutalität wirkt aufgrund der comicartigen Darstellungsform in Verbindung mit Übertreibungen weniger intensiv.
Derber Humor verstärkt die emotionale Distanz zusätzlich. Der Schritt zwischen Genie und Wahnsinn ist nicht groß, aber wenn skurrile Dialogwitze und schwarzhumorige Slapstickeinlagen zur Geltung kommen, merkt man in der Tat, dass Frank Miller und Robert Rodriguez zumindest in punkto Humorverständnis auf einer Wellenlänge liegen. Die Art und Weise ist sicherlich nicht jedermanns Sache, aber Zyniker kommen auf ihre Kosten.
Der wohlklingende Soundtrack komplettiert das Gefühl von Lässigkeit, der Überzeichnung und gefühlter Coolness.
Letztendlich verwundert es auch nicht, weshalb ein Staraufgebot unterbezahlt engagiert werden konnte. Der Reiz an der Idee war groß und für einige bietet “Sin City“ eine ideale Möglichkeit zur Rehabilitation bzw. zum Imagewechsel. Alleine die Aufzählung der bekannten Größen erfordert Geduld und schlussendlich würde man wieder bei den üblichen Verdächtigen landen und den anderen Unrecht tun, denn „Sin City“ ist ein Gemeinschaftsprodukt. Im gewissen Sinne aber auch ein Selbstläufer, zumindest musste vermutlich niemand von Rodriguez zusätzlich motiviert und mit besonderer Beachtung versorgt werden. Jedenfalls hat jeder Beteiligte die Chancen genutzt, niemand fällt aus der Reihe, das Ensemble darf getrost als idealbesetzt bezeichnet werden.
Am Ende spürt man eine filmhistorische Aura. Die visuelle Schönheit steht im krassen Gegensatz zum inhaltlichen Nihilismus und Pragmatismus. „Sin City“ ist dreckig, brutal, sogar pervers, aber auch einzigartig und man möchte den Film nicht verabscheuen. Die Stadt der Sünden schließt den Kreis und am Ende weißt du nicht, wie du dich aus der Faszination lösen kannst. "Geh' die richtige Straße in Sin City runter und alles ist möglich." (9/10)