„Über den Dächern von Nizza“ ist einer dieser Hitchcocks, gegen die sich eigentlich keiner so recht traut, etwas Negatives zu sagen, eben weil es sich um eine gemütliche kleine romantische Krimikomödie vor einer Traumkulisse, der Côte D’Azur, mit einer Traumpaarung – für die Frauen: Cary Grant, für die Männer: Grace Kelly – in den Hauptrollen handelt, die locker-flockig an einem vorbeirauscht, um daraufhin wieder weitgehend zu vergessen zu sein und zur Tagesordnung überzugehen. Hitchcock selbst schien im Rückblick den Film für einen schnuckeligen Betriebsausflug gehalten zu haben und ging wenig kritisch mit ihm um, wenn man sich mal durchliest, was er dem werten Truffaut erzählt hat. Kurzum: Irgendwie mag jeder „Über den Dächern von Nizza“, aber richtig lieben tut ihn keiner. Ich mache da nicht die Ausnahme.
Es sind in der Tat vorrangig die herrlichen Urlaubsbilder von Hitchcocks Stammkameramann der 50er und frühen 60er, Robert Burks, die in Erinnerung bleiben. Immerzu strahlt die Sonne, der Himmel ist blau, das Meer lacht – das sind Aufnahmen zum Verlieben, durch die man dazu verleitet wird, sich umgehend zum nächstbesten Strand zu begeben und die Wärme auf seinen Körper einprasseln zu lassen. Nizza, Monaco, Cannes – überall dort drehte Hitchcock seinen Film und das, was er mitnahm nach Hollywood, ist ein wahrer Traum. 1955 muß es ein Genuß gewesen sein, die Farbenpracht auf großer Kinoleinwand betrachten zu können, doch auch heute läßt sie sich auf dem Flachbildschirm noch nachvollziehen.
Dazu konnte Hitchcock eine echte Topbesetzung an Land ziehen: Grace Kelly, mit der er auch seine vorangegangenen beiden Filme „Bei Anruf Mord“ und „Das Fenster zum Hof“ bekleidete und die hier letztmals unter seiner Regie mitspielte, ehe sie nur ein Jahr später die USA verließ, um Fürst Rainier III. zu ehelichen, und Cary Grant, dessen letzte Zusammenarbeit mit dem Master of Suspense auch schon knapp zehn Jahre zurücklag (1946 in „Berüchtigt“), in seiner ebenfalls dritten Hitchcock-Rolle standen als Hauptdarsteller zur Verfügung. Die 25 Jahre, die zwischen Grant und Kelly lagen, stellten dabei keine Hürde dar, die beiden gingen immer noch problemlos als Liebespaar durch. Wie unwichtig das Alter der Darsteller bei Hitchcock war, erkennt man auch sehr gut daran, daß die großartige Jessie Royce Landis hier die Filmmutter von Grace Kelly markiert, um nur vier Jahre später die Filmmutter von – jawohl – Cary Grant zu spielen, von dessen Charme als ehemaligen Juwelendieb John Robie sie in „Über den Dächern von Nizza“ noch so begeistert war. Außerdem ist John Williams, der urige Inspektor Hubbard aus „Bei Anruf Mord“ wieder mit von der Partie, dazu die süße Brigitte Auber – fertig ist ein Spitzencast, bei dem man jedem einzelnen die Freude an seiner Arbeit für diesen Film ansieht. Es prickelt und ist eine wahre Freude, vor allem aber stimmt die Chemie zwischen Grant und Kelly tatsächlich. Das ist das Wichtigste, weil laut Drehbuch in den nicht selten zweideutigen Dialogen voller sexueller Anspielungen die Funken sprühen sollen. Das tun sie – und zwar nicht zu wenig.
In einer Zeit, in der der Hays Code Richtlinien über die Einhaltung der damaligen Moralvorstellungen erstellte, kommen die Dialoge schon erstaunlich frivol daher, so daß man sich nur darüber wundern kann, wie sie durch die Zensur gehen konnten. Hitchcock verpackte sie jedoch so geschickt – man kann sich lebhaft vorstellen, welchen Spaß ihm das gemacht haben muß –, daß die Sittenwächter ihm daraus keinen Strick drehen konnten. Wenn Frances Stevens (Grace Kelly) Robie gegenüber während eines Picknicks „Ich habe noch nie einen Juwelendieb gefangen. Es ist so stimulierend. – Möchten Sie Bein oder Brust?“ äußert, so hat ihre gestellte Frage nur sehr oberflächlich betrachtet etwas mit dem zu verspeisenden Hühnchen zu tun – und daß sich ihr „Greifen Sie zu! Worauf warten Sie? Sie sind kostbar. Juwelen sind doch das Einzige, dem Sie nicht widerstehen können...“ eher nicht auf die Kette um ihren Hals bezieht, kann man sich genauso denken. Es gibt eine ganze Fülle derartiger Sätze in dem Skript, die heute harmlos klingen, zur Entstehungszeit aber unglaublich gewagt waren.
Wo liegt nun der Hase im Pfeffer? Nun, leider hat das Skript außer der Zweideutigkeit in den Dialogen nicht viel zu bieten (Ausnahme: der unsterbliche Augenblick, in dem die bis dato kühle und einen völlig unnahbaren Eindruck machende Frances, die Robie den ganzen Tag über scheinbar nicht das geringste Interesse entgegenbrachte, eben diesem zum Abschied vor ihrem Hotelzimmer einen dicken Kuß gibt). Der Krimiplot rund um einen Dieb, der an der französischen Riviera sein Unwesen treibt und den es für den alten Hasen auf diesem Gebiet, Robie, zu überführen gilt, damit er seine Unschuld beweisen kann, bleibt lange unterentwickelt, weil das Augenmerk sich nach der Flucht in den ersten Minuten mehr und mehr auf die Wortgefechte Robies mit Frances konzentriert. So kommt es fast aus heiterem Himmel, wenn im späteren Verlauf ein Toter in der Handlung auftaucht. Auch gestaltet sich die Vorbereitung auf das alles in allem ebenfalls eher laue Finale auf den titelgebenden Dächern erstaunlich zähflüssig wie so manche Szene, die nicht auf Wortwitz ausgerichtet ist, der ereignislose Maskenball stellt den Zuschauer auf eine Geduldsprobe, die man glatt als langweilig bezeichnen kann. Die Identität des Diebes kann vielleicht noch einigermaßen überraschen, auch wenn der Kreis der möglichen Täter eingeschränkt genug ist, um vorher darauf zu kommen.
Die Nebensächlichkeit der Kriminalgeschichte ließe sich akzeptieren, wenn alternativ die angesprochenen Wortgefechte das amüsante Niveau halten könnten, das sie in ihren besten Momenten erreichen. Bedauerlicherweise springt davon abgesehen jedoch auch relativ viel zahnloses Blabla heraus, das nicht halb so sehr zündet, wie Hitchcock es wohl gern gesehen hätte – ein Problem, das der Film mit dem folgenden Ofenschuß „Immer Ärger mit Harry“ teilt. Irgendwie fehlt „Über den Dächern von Nizza“ im Gesamten das Timing, aus seinen rund 105 Minuten kann wenig Essentielles herausgezogen werden. Klar, das plätschert alles ganz angenehm vor sich hin, nur unterhalten kann der Film durchgängig einfach nicht, so daß sich bei mir manchmal der innere Wunsch meldete, wir mögen doch jetzt langsam mal zum Ende kommen, was so häufig bei Hitchcock nicht vorkommt.
Aus dem Grund läßt sich „Über den Dächern von Nizza“ (wie danach auch „Immer Ärger mit Harry“) auch eher als gemütliche Blaupause betrachten, als einen lockeren Ausklang nach den Qualitätsarbeiten zuvor, bevor es an die beste Phase seiner Karriere gehen sollte, die mit hervorragenden Filmen („Der Mann, der zuviel wußte“ und „Der falsche Mann“) eingeleitet und mit gleich fünf richtigen Knüllern am Stück beendet werden sollte. Alles in allem also nicht das, was ich mir von einem Hitchcock verspreche, doch immerhin über weite Strecken recht lustiges Geplänkel an traumhaften Schauplätzen. Mehr aber auch nicht. 6/10.