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Obwohl 1973 gedreht, nur zwei Jahre vor der, nun ja, künstlerisch "einschneidenden" Begegnung Francos mit Erwin C. Dietrich die eine lange Ödnis-Welle besonders fader Sleaze-Gurken nach sich zog, ist DIARY OF A NYMPHOMANIAC, auch als SINNER bekannt, noch einer der interessanten und "künstlerisch-intellektuell" angehauchten Franco-Sleazer, in der atmosphärischen und stilistischen Tradition seines melancholischen Meisterwerks EUGENIE DE SADE. An letzteres reicht die hier vorliegende französische Produktion, von Franco diesmal als "Clifford Brown" abgedreht, zwar hinten und vorne nicht heran, die geistige Verwandtschaft der beiden Filme ist allerdings unverkennbar.

Auch DIARY wird durch die... semi-lyrischen Off-Monologe der Protagonistin zum Melodram ausgeblasen und Franco versucht zumindest, den Abstieg der verlorenen Linda als infernalische Schmuddel-Oper zu inszenieren und spart sich dabei über weite Strecken sogar seine enervierenden Endlos-Fummeleien, die in der Regel selbst seinen interessantesten Filmen eine Delle verpassen. Der großzügige stilististische (eher denn formale) Pomp hebt den Film zwar nicht erheblich, aber doch angenehm merklich über das Niveau der Dietrich-Franco-Filme und nicht wenige Sequenzen haben dank der unschlagbaren Liebelei der Franco-typischen Endlos-Zooms mit einem in diesem Fall sogar besonders bestechenden, flirrenden Psychedelic-Rock-Score jenen eigenartigen, hypnotischen Sog, der einen in der Regel zum Franco-Süchtling macht und dessen Wirksamkeit immer ein wenig rätselhaft scheint, angesichts der spartanischen Mittel, die Franco dafür aufwendet. Das Mysterium Franco und sein Status als Autorenfilmer lassen sich ohnehin kaum adäquat einschätzen: Im Fall der heruntergekommenen VHS-Fassung, die mir von DIARY... vorlag, tut die schläfrig-unbeholfene englische Synchronisation ihr möglichstes, um die Qualität der darstellerischen Leistungen und die von Franco angestrebte Atmosphäre zu verschleiern. Kein seltener Stolpersein im Francoschen Universum, ebenso wie der obligatorische Wahnsinn, völlige Laien neben professinellen Schauspielern zu besetzen und das zu einem funktionierenden Ganzen zusammenzufügen. In DIARY stand ihm mit Jacqueline Laurent eine bemerkenswert talentierte, charismatische Hauptdarstellerin mit einem herb-delikaten Gesicht zur Verfügung aus deren Minenspiel Franco in einigen für ihn ungewöhnlichen, angelischen Close ups das meiste macht. Anne Libert aus LA FIANCEE DE DRACULA wird optisch wie eine zweite Soledad Miranda inszeniert, inklusive der markanten, riesigen Sonnenbrille und Lina Romays Babyspeck scheint noch in weiter Ferne.

Selbst die völlig ausdruckslose Montserrat Prous scheint eine sinnvolle Besetzung für Linda und als rehäugige Puppe sehr treffend in Szene gesetzt. Der Flashback, der zum Kern ihres Selbstmordes vordringt und ihre Ankunft als junge Unschuld vom Lande in der großen, sündigen Stadt zeigt, ist überhaupt eine der eindrucksvollsten und zugleich unglaublichsten Sequenzen, die Franco je inszeniert hat und als solche ein perfektes Konglomerat billiger Sleaze-Grabbelei und origineller inszenatorischer Improvisation die schon immer Francos größte Stärke war: Ein mal wieder besonders schmieriger (leider nicht von Paul Müller gespielter, dafür aber schnurrbärtiger) Mann mittleren Alters liest das Mädchen auf und führt sie aus auf den Rummel wo es letztendlich mit einer Wolke Zuckerwatte als Requisite auf dem Riesenrad zur unausweichlichen Vergewaltigung kommt. Mit Weitwinkel-Objektiven und teilweise aus der Subjektiven gefilmt, vollzieht sich auf der Tonspur das Chaos der unterschiedlichen Musiken des Rummelplatzes und die monotonen Drehorgel-Klänge des Riesenrads in der Luft mischen sich bei Umdrehung in Bodennähe mit schrillem Rock. Von der eigentlichen Vergewaltigung bekommt der Zuschauer beinahe nichts mit, es sind alleine Bild- und Klang-Montage, die ein suggestives Chaos kreieren und als assoziativen Blitz sieht man dieses krude, aber vollends suffizientes "Set piece" direkt neben der berühmten Einstellung des davonrollenden Balls in Fritz Langs "M" – in beiden Fällen wird inmitten einer Miniatur-Apokalypse der Moment größter Gewalt abstrahiert, dass Lang dabei vielleicht doch ein wenig subtiler war als Franco, ließe sich sicherlich, nun, diskutieren.

Kurz und gut: Die Faustregel, dass selbst der schlechteste Franco-Film immer noch mindestens ein oder zwei genuin eindrucksvolle Szenen aufzuweisen hat, wird auch hier bestätigt durch die Anwesenheit gleich mehrerer grosser "Franco-Momente", auch wenn die kreative Verflachung hier schon erkennbar ist und der Dialog zwischen der Countesse und Rosa, gefilmt durch das farbige Glas einiger Vasen, eher wie ein Fremdkörper, ein Überbleibsel des alte, verspielteren, verrückteren und schlussendlich aufregenderen, faszinierenderen Franco. Ein Kuriosum ist hier übrigens der unvermeidliche Auftritt des unvermeidlichen Howie Vernon, diesmal als (fast) keuscher Therapeut, der Linda vergeblich von ihrer Nymphomanie zu heilen versucht und ihre unverbesserliche Geilheit zuguterletzt mit einer Bestrafung ahndet, wie sie nur Francos Hirn ersinnen konnte. Erstaunlicher ist allerdings noch eine Sequenz, in der einer von Lindas Liebhabern mit ihr inflagranti von seiner Ehefrau ertappt wird und sie nackt und weinend auf Knien anfleht, ihm zu verzeihen und ihn nicht zu hassen. Nicht zu fassen, vor allem dank der bombigen englischen Vertonung.

Als Abschluss plädiere ich füer eine CD-Veröffentlichung des Soundtracks der ähnliches Suchtpotenzial hat wie die Hübler / Schwab-Kompositionen zu VAMPYROS LESBOS, SIE TÖTETE IN EKSTASE und DER TEUFEL KAM AUS AKASAVA.

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