FREIO
Noch eine Kritik zu Casablanca? Eigentlich unnötig, da sich der Kult um diesen Film wie von ganz alleine in die Zukunft fortpflanzt. Man begegnet ihm und ist phasziniert oder eben nicht. Jedoch erstaunlich, wie selbst im CGI-Zeitalter ein Film von 1942 immer wieder ein Publikum findet.
Ich möchte hier nur ein paar Hinweise geben, die vielleicht erklären können, warum von Casablanca eine solche Phaszination ausgehen kann.
Zunächst einmal: dieser Film ist nicht perfekt und nicht in jeder Hinsicht zeitlos. Insbesondere Ilsa Lund (Ingrid Bergman) ist eine Frauenfigur, wie sie heute nicht ohne Seufzen und Aufstöhnen betrachtet werden kann. Sie wird lediglich durch ihre Beziehung zu den Männern (Rick Blaine und Victor Laszlo) und ihre Opferrolle charakterisiert: für die Männer bringt sie Opfer und ebenso für die Weltgeschichte. Ansonsten beschränken sich ihre Äußerungen auf unbeherrschtes Schluchzen und auch anderweitigen Kontrollverlust - für die Entscheidungen braucht sie die Männer. Diese Darstellung ist nun zum Glück veraltet und es ist nicht unbedingt Ilsa Lund, die der Zuschauer im Gedächtnis behält, zumal auch die originellsten und zum Teil sprichwörtlich gewordenen Dialogzeilen des Films den Männerrollen vorbehalten sind. Aber sie ist schön, soll heißen: man bekommt, was Hollywood damals am Besten konnte, nämlich schöne Frauen wunderschön ausleuchten und fotografieren. Allein schon in dieser filmschaffenden Hinsicht gehört Casablanca zu dem Besten, was man aus dem alten, glamourösen Hollywood bekommen kann. Es war übrigens - laut imdb - Michael Curtiz' 133. Film.
Für mich steht allerdings Rick Blaine im Mittelpunkt und Casablanca ist vor allem ein Film über diesen zutiefst verletzten und in Zynismus versteinerten Mann, der eine Reanimation erlebt und am Ende des Films neuen Kampfgeist entwickelt hat. Nicht zuletzt funktioniert Casablanca auch als Mobilmachungs-Film für ein Amerika, das den Kampfgeist für sein Engagement im Zweiten Weltkrieg benötigte. Der Film spielt im Dezember 1941, kurz vor dem japanischen Angriff auf Pearl Harbour und dem folgenden Eintritt der USA in den Krieg. Bogarts Figur ist ebenso ungewöhnlich für das klassische Hollywood wie Ilsa Lund gewöhnlich ist: ein Mann, der Sentiment zeigt, weint, und das Auftauchen seiner Geistern der Vergangenheit zunächst nur mit Eiseskälte und Alkohol ertragen kann. Aber er entwickelt sich. Trotz seiner schnoddrigen, zynisch-fiesen Art, mit der er vor allem Ilsa abfertigt, lässt er zunehmend Raum für Erklärungen, hört sich die Gegenpositionen an und lernt, profitiert sogar davon. Am Ende des Films hat er seinen selbstgefälligen Opportunismus in selbstloses Engagement für Andere verwandelt und zu sich selbst zurückgefunden.
Auf dem Weg bis dorthin erscheinen die Figuren nicht immer konsistent und scheinen ihre Psychologie zu wechseln. Auch das nicht unbedingt ein Pluspunkt für diesen Kultfilm. Eine Erklärung, warum Casablanca dennoch und auf seine eigene Art überzeugen kann, liefert Umberto Eco in einem Aufsatz aus den 70ern: der Film bediene sich so hemmungslos an Mythen und Klischees, dass es schon wieder Größe erlange. Wo ein Klischee peinlich sei, würden hundert Klischees genial und berührten das Erhabene.
Dem ist hinzuzufügen, dass sich Casablanca besonders auch in den Genres bedient und zugleich Melodram, Kriegsfilm, Komödie, Krimi, Agenten- und Spionagefilm ist und auf zahlreichen Ebenen funktioniert. Die politische Ebene ist beispielsweise verhältnismäßig differenziert genutzt: Casablanca ist ein Unort, ein geographisches "Freio", eine Schwelle zwischen dem unmenschlich reglementierten Nazireich und der (noch) freien Welt. In diesem Zwischenreich treffen zwielichtige Gestalten, Gestapooffiziere, Flüchtlinge, Widerstandskämpfer, Opportunisten, Kollaborateure aufeinander, größtenteils ohne in direkte Kampfhandlungen zu geraten. Die Konflikte spielen sich vielmehr in diplomatischer, strategischer, intriganter und verbaler Weise ab. Captain Renault ist z.B. zunächst ein reiner Opportunist, dem Vichy-Regime des von den Deutschen besetzten Frankreich zwar verpflichtet, dennoch nicht zwangsläufig an der Umsetzung der geforderten Reglementierungen interessiert, solange er davon profitieren kann. So schließt er auf Geheiß des deutschen Major Strasser zwar Ricks Cafe mit der Argumentation, dort würden Glücksspiele betrieben, nimmt aber im selben Augenblick noch seine eigenen Gewinne aus diesen Glücksspielen entgegen. In Nähe zu Rick wird er am Ende des Films allerdings zum Gegner der Nazis und Kämpfer für die gerechte Sache, indem er Rick als Mörder deckt: the beginning of a beautiful friendship.
Das Ende, so die Legende, sei bis zum Dreh ungewiss gewesen, und Ingrid Bergman wusste bis zum Schluss nicht, mit wem sie denn nun in die Freiheit fliegen würde. Wahrscheinlich nur Legende, denn ein anderes Ende als das im Film gezeigte wäre damals undenkbar gewesen. Die Hollywoodmaßstäbe, die mit einem weinenden Mann schon arg genug strapaziert wurden, hätten einen Ehebruch definitiv nicht zugelassen. Ein Happy-End hat der Film in gewisser Weise dennoch, denn wir sehen Rick und Renault geläutert, Laszlo gerettet und die unselbständige Frau immerhin voller Einverständnis und so gesehn auch Glücklichkeit, sofern ihr Liebesdilemma es überhaupt zulässt. Ende gut, Alles gut, und der Krieg wird auch noch gewonnen, die Zeit gab dem Film recht.