Nach einem gut abgehangenen Bava wie "Shock" bekommt man doch gleich Lust auf noch eine italienische Brotzeit, wie gut wenn im Regal noch ein paar ähnlich gelagerte Fälle herumreifen. Zum Beispiel Aldo Lados Giallo "The Child", der im Original noch übersetzt "Wer sah sie sterben?" heißt, was auf einem Reim aus einem Kinderspiel basiert.
Lado, der gerade mal drei Thriller in Italiens goldenen Zeiten realisierte, bis er dann mit "Kampf um die 5.Galaxis" einen echten Trash-Kracher im Star-Wars-Bilgenwasser nachschob, ist hier als Bildästhet in absoluter Hochform und wer auch immer ein Fan von Nicolas Roegs "Wenn die Gondeln Trauer tragen" ist, der sollte sich hier wunderschöne 90 Minuten machen, denn die Inszenierung der Lagunenstadt als Handlungsort nimmt in seiner nebliggrau-verfallenen Morbidität schon den Roeg-Klassiker vorweg.
Wie bei so vielen Giallos geht es auch hier um einen psychopathischen Mörder, dessen Motiv erstens lange Zeit im Dunkeln bleibt und zweitens eigentlich ziemlich nebensächlich ist. Passend zur wunderbaren Startsequenz, die einen Kindsmord in einem italienischen Skigebiet zeigt und dann auf Bilder der Polizeiakte fokussiert, erklingt schon das kindgesungene Leidthema, das in der Folge des öfteren so richtig schön an den Nerven zerrt, was wir Onkel Morricone und seinem Palastorchester erfreut auf die Fahnen schreiben können. Wie sich das so gehört, versucht man hier schon, den Zuschauer auf die falsche Fährte zu locken, denn die POV-Shots des Täters gehen durch einen Damenschleier und suggerieren natürlich einen weiblichen Täter, worauf aber niemand wirklich reinfallen sollten.
In der Folge (vier Jahre später) spielt der Film dann in Venedig, wo Bildhauer und Künstler Franco Serpieri (Künstler sind ganz enorm wichtig für Giallos) seine kleine, rothaarige Tochter für die Ferien empfängt. Es kommt natürlich, wie es kommen muß, nach gut 20 Minuten Spannungssequenzen und zwei mißglückten Annäherungsversuchen schwimmt das Mägdelein im Hafenbecken und Daddy darf sich wegen eines Schäferstündchens derweil ordentlich Vorwürfe machen.
Von da an ist Dad natürlich von der Mörderjagd besessen, die Mutter reist an und alles hat natürlich mit dem näheren Umfeld zu tun, zu dem auch ein machtvoller Kunsthändler (Adolpho Celi); ein fechtendes Pärchen und ein pädophil-schwuler Anwalt samt Gschpusi (männlich) gehören. Was das alles miteinander zu tun hat, bleibt so lange im Dunkeln, das man schon befürchten muß, überhaupt keine Auflösung zu erhalten und der erste Mord (stilecht mit schwarzen Lederschuhen und schwarzen Handschuhen) findet erst nach 52 Minuten statt.
Tatsächlich scheinen Lado und sein Autorenteam nicht so sehr am Plot interessiert gewesen zu sein, denn nicht mal verwertbare Plotspuren machen sich lange bemerkbar, außer der allgemeinen Verdächtigkeit aller Beteiligten. Also gibts reichlich rote Heringe und praktisch auf die letzten 10 Minuten dann eine hektische, wenig inspirierte Aufklärung, die man praktisch zweimal sehen muß, um irgendeinen Sinn hinein zu projezieren. Hilfreiches Faktum ist aber wie immer dabei, daß der unverdächtigste Charakter am Ende der Täter ist.
Lado spielt seine ganze kreative Bildenergie jedoch bei dem Bemühen aus, die Lagunenstadt in ein atmosphärisches und düsteres Szenario zu verarbeiten - und in genau das kann man sich bei "The Child" dann auch verlieben. Schwankende Gondeln im Nebel, verfallene Häuserfronten, unübersichtliche Laufwege, umrißhafte Figuren im Schatten, Schuhe in Nischen, die Stadt wirkt sequenzenweise fast von Menschen verlassen, trübe und abgründig, aber immer realistisch und sagenhaft schön, auch wenn man die Sonne fast nie sieht.
Beeindruckend übrigens der Einsatz von Ex-Bond George Lazenby als Italiener, der drei Jahre nach seinem Engagement als Agent hier kaum erkennbar ist, ist er doch sagenhaft hager geworden und trägt dazu einen George-Harrison-Putz (nach der Indienreise) und einen Pornoschnauzer, der sich gewaschen hat. Anita Strindberg spielt dazu seine Ehefrau und "damsel in distress", wenn es aufs Ganze geht.
Daß Lazenby kein großer Schauspieler ist und war, merkt man auch hier wieder schmerzhaft, seine Emotionsausbrüche kommen so unrealistisch heftig, wie sein sonstiges Gehabe natürlich-bieder daherkommt - das wirkt dann fast schmerzhaft komisch, als er einen Verdächtigen (natürlich den schmierigen Anwalt) ohne tiefere Beweise erst mal homophob beschimpft und dann zur Begrüßung aufs Maul haut, was dieser aber relativ gefaßt aufnimmt.
Der Gewaltlevel in "The Child" ist übrigens ziemlich niedrig, außer den Kindsmorden (es gibt übrigens nur zwei und die sind a) mit einer Puppe ausgeführt und b) gar nicht im Bild) gibt es nur noch eine Erwürgung, einen Leichenfund (an die Tür genagelt) und (logo) das recht graphische Abstechen des Anwalts - visuell wunderschön im Kontrast in seinem schneeweißen Wintergarten an einer Wellensittichvoliere (die ihm laut Aussage des obligat dicken Zeitungskumpels natürlich brontal noch die Augen ausgehackt haben - diese Sittiche hätt ich auch gern daheim).
So ist "The Child" praktisch Atmosphäre pur, eine gekonnte Reihe wunderbar gefilmter und stimmungsvoller Sequenzen, die den Plot leider zu oft vernachlässigen, aber den Zuschauer geschickt mit in die Verlorenheit der Figuren innerhalb einer sterbenden Stadt ziehen.
Rauschhaft schön. (7/10)