The Unknown (1927)
Freaks (1932)
von Tod Browning
Tod Browning war - jeder kennt diese Geschichte! - ein Kind des Zirkus und des Varietés. Ende des 19. Jahrhunderts verdingte sich der jugendliche Browning bei einem Wanderzirkus, in den 10er Jahren zog er mit Vaudeville-Truppen umher, ehe er 1914 beim Film seine Berufung fand: mit David Wark Griffith war ihm dabei auch sogleich ein hochbegabter Lehrmeister vergönnt, der sich zu dieser Zeit zudem auf der Höhe seines Schaffens befand.
Die Zirkus- & Varietéerfahrungen haben sich unübersehbar in einer ganzen Reihe von Filmen niedergeschlagen: deutliche Spuren ziehen sich durch "The Unholy Three" (1925), "The Mystic" (1926) und "Miracles for Sale" (1939), noch deutlicheren Nachhall kann man in "The Show" (1927), "The Unknown" und natürlich in "Freaks" beobachten. Zweierlei Elemente kommen dabei immer wieder zum Einsatz: die Inszenierung der Täuschung und Illusion einerseits, die Zurschaustellung des Ungewöhnlichen und Monströsen andererseits. Ein langjähriger Begleiter sollte Browning dabei eine große Hilfe sein: die Rede ist von Lon Chaney sr., der mit seiner ungeheuerlichen Wandlungsfähigkeit der ideale Hauptdarsteller für zehn Browning-Filme zwischen 1919 und 1929 sein sollte (und dem Regisseur den Namen Chaney-Regisseur verschaffte). Auch Chaneys Karriere wird gerne biographisch erklärt, insofern die Körperlichkeit seiner zahlreichen Verwandlungsnummeren auf sein Aufwachsen unter den taubstummen Eltern zurückgeführt wird.[1] Berüchtigt sind die teilweise schmerzhaften und gesundheitsschädlichen Strapazen, die der Mime in seinen Verkleidungen auf sich nahm: über 30 Kilogramm schwere Kunstbuckel, Mundwinkel straffende Drahthaken, zugestopfte Nasenlöcher, unbequeme Zahnprothesen und unnatürlich verbogene und mitunter fest verschnürte Glieder sorgten neben allerlei Kontaktlinsen und Schminke für Chaneys beeindruckende Wandlungsfähigkeit, zu deren einprägsamsten und populärsten Ergebnissen seine Auftritte in "The Hunchback of Notre Dame" (1923), "The Phantom of the Opera" (1925) und Brownings (nur noch als Standbild-Rekonstruktion erhaltenem) "London After Midnight" (1927) zählen.[2] Für Browning gab Chaney neben dem als Vampir maskierten Schurken in "London After Midnight" noch eine Doppelrolle als Amerikaner und Chinese ("Outside the Law" (1920)), einen sich als alterndes Großmütterchen tarnenden Bauchredner-Ganoven ("The Unholy Three" (1925)), einen als Wohltäter mit deformierten Beinen getarnten Schurken ("The Blackbird" (1926)), einen scheinbar armlosen Messerwerfer, der seine Arme und (durch einen dritten Daumen missgestalteten) Hände vor der Umwelt verbirgt ("The Unknown") und einen teilweise Gelähmten ("West of Zanzibar" (1928)). Mit diesen Maskierungen & Demaskierungen, mit dieser Vorliebe für verkrüppelte & entstellte Körper war Chaney der ideale Partner für Brownings Zirkus- & Varieté-erprobten und um Illusion & Monstrositäten kreisenden Filme (deren Drehbücher er vielfach mit Waldemar Young anfertigte, dessen Name gerne mal unterschlagen wird, wenn es um Browning geht).
Sieht man von Chaneys Auftritten bei Browning einmal ab, nimmt der Aspekt der Täuschung und der Illusion in "The Show" und ganz besonders im ironischen "Miracles for Sale" nahezu selbstreflexive, metafilmische Formen an, insofern die Regeln der Bühnenshow-Illusion auf das Kino übertragen werden (wenngleich der Einsatz genuin filmischer Effekte nicht thematisiert wird). Browning erweist sich in diesen Fällen als verspielter Liebhaber des Scheins, dessen Begeisterung für Lug & Trug im Okkultismus eine weitere Inspirationsquelle dargestellt haben dürfte. Es ist allerdings der andere Aspekt, es ist die Beschäftigung mit dem Monströsen und seiner Zurschaustellung, der Browning seinen Ruf des humanistischen Filmemachers verdankt, über welchen er sich (mit all seinen kuriosen Beiträgen zum Horrorfilm) hauptsächlich definiert.
Beide Aspekte greifen allerdings vielfach ineinander; Seeßlen, Weil und Jung haben geschrieben, dass "[d]er Mensch in Brownings Filmen [...] Theater [spielt], [...] sich in Pose [stellt]; die 'Freaks' etwa werden zu Monstern erst dadurch, daß sie sich ausstellen, aber andererseits müssen sie dies tun, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. [] Vor allem auch in dem zwischen 1925 und 1929 entstandenen Zyklus von acht Horror-Filmen [...] geht es immer wieder um die Verkleidung; in der Maske wird der Mensch selbst zum Gespenst, zum Unwirklichen und Bedrohlichen."[3] Die Entstellung funktioniert bei Browning auf zweierlei Weise: die Freaks in "Freaks" und die maskierten Gauner in "London After Midnight" (etwas weniger auch jene im Tonfilm-Remake "Mark of the Vampire" (1935)) stellen ihre Monstrosität aus, um zu schockieren, während die vorgespielte Entstellung in "The Blackbird" und "The Unknown" den Figuren dazu dient, Mitleid und Bewunderung zu erhalten. Es macht Brownings Größe aus, die Entstellung und das Hässliche nicht mit dem Bösen (oder dem Guten) gleichzusetzen: es gerät vielmehr zu einer (so oder so) unübersehbaren Auffälligkeit, in welcher positive wie negative Eigenschaften ihren unübersehbaren Ausdruck zu finden scheinen; entsprechend ambivalent bleibt die Schilderung der Entstellten und der vermeintlich Normalen in Filmen wie "The Unknown" oder "Freaks" letztlich... es geht nicht einzig und allein um eine "Menschlichkeit der Ungeheuer [und] [...] die Ungeheuerlichkeit der Menschen"[4] (wenngleich solch eine Sichtweise durchaus ihre Berechtigung besitzt), sondern um die Auffälligkeit des Ungeheuerlichen, durch welches positive und auch negative Wesenzüge eine drastische Intensivierung erleben.
"The Unknown" ist - nach dem seit den 60er Jahren verschollenen und mittlerweile als Standbild-Rekonstruktion wieder vorliegenden "London After Midnight" - Brownings bekanntester Stummfilm: das seinerzeit recht erfolgreiche, groteske und ziemlich drastische Kriminaldrama wird heute gerne als "unterschätztes Juwel der Stummfilmära [und] beklemmendes Meisterwerk psychologischer (und psychosexueller) Dramatik"[5], als "Meisterwerk des skurrilen Horrorfilms"[6] oder als "Höhepunkt ihrer [Brownings & Chaneys] Zusammenarbeit"[7] gepriesen und hat (in den 70er Jahren) kurze Zeit nach der Entdeckung einer von Henri Langlois behutsam archivierten Fassung zahlreiche Bewunderer gefunden - darunter beispielsweise Francois Truffaut oder Alejandro Jodorowsky.
Man mag zu dieser Einschätzung stehen, wie man will - ich selbst bevorzuge von Brownings Stummfilmen den superb inszenierten Kriminalfilm "Outside the Law"! -, unzweifelbar jedoch ist "The Unknown" zumindest der Film, der die Quintessenz von Lon Chaneys Schauspielkarriere darstellt. Zwei größere Typen gehören zu Chaneys Rollenarsenal: zum einen das leidende Monstrum bzw. der leidende Krüppel, was ihn 1923 natürlich für die Rolle des buckligen Glöckners nach Hugo geradezu prädestinierte. Auch "The Phantom of the Opera", sein zweites großes Prestigeprojekt, bietet Chaney reichlich Gelegenheit, als missgestaltete Kreatur (trotz aller harscher Racheakte) zum Objekt des Mitleids zu geraten. In "West of Zanzibar" gibt Chaney einen Magier, der als Hahnrei vom Liebhaber der Lebengefährtin in einer unglücklichen Auseinandersetzung für den Rest seines Lebens zum (impotenten) Krüppel geschlagen wird, der - wie ein kriechender Wurm - fortan verbittert und rachsüchtig als Tyrann im afrikanischen Busch sein Dasein fristet. Nicht entstellt, sondern bloß durch eine Clownsmaskerade zum Hampelmann abgestempelt, ringt Chaney in "Laugh, Clown, Laugh" (1928) mit seinen Gefühlen um dabei tragisch zu enden, während er in Victor Sjöströms bemerkenswerten "He Who Gets Slapped" (1924) als Clown demütigende Nummern darbietet, ehe er am Ende als tragischer Sympathieträger verstirbt. Die andere große Standardrolle Chaneys ist der Schurke, der sich durch extreme Maskierungen tarnt. "The Unholy Three" und besonders "The Blackbird" sind Paradebeispiele für solche Rollen. Bereits in dem weitestgehend verschollenen "The Miracle Man" (1919) gibt Chaney einen Schlangenmenschen, der für einen Schwindel in die Rolle eines Krüppels schlüpft.
In "The Unknown" vereinen sich beide Rollentypen, was den Film zum Lon Chaney-Film par excellence macht: Lon Chaney spielt hier den Messerwerfer Alonzo, der sich [Achtung: Spoiler!] wegen einer kriminellen Vergangenheit und einer auffälligen Entstellung - zwei Daumen an einer Hand! - als Armloser tarnt. Dass er tatsächlich seine Arme eng hinter seinem Rücken verschnürt unter der Kleidung aufbewahrt, weiß bloß sein kleinwüchsiger Begleiter Cojo. Seine Existenz als vermeintlich armloser Krüppel bietet Alonzo allerdings auch Vorteile: Nanon, die Tochter des Zirkusdirektors, fühlt sich als Assistentin des Messerwerfers zu ihm hingezogen, weil sie die besitzergreifenden Umarmungen der Männer nicht ertragen kann. Als ihr Vater eines Tages in einem Streit hinter Alonzos Geheimnis kommt, erwürgt dieser ihn in einer spontanen Verzweifelungstat; Nanon beobachtet den Mord, wobei ihr die Identität des Mörders jedoch verborgen bleibt - einzig und allein die zwei Daumen an einer Hand nimmt sie wahr. Alonzo fasst in dieser Situation mit Cojo einen radikalen Entschluss: er will sich von einem bekannten Arzt beide Arme amputieren lassen, um mit Nanon eine gemeinsame Zukunft zu haben und die Polizei nicht weiterhin fürchten zu müssen. Doch kaum kehrt er - von diesem extremen Eingriff genesen - wieder zurück, muss er feststellen, dass Nanon ihre Phobie überwunden hat und ausgerechnet mit dem Starken Mann Malabar eine Bindung eingegangen ist. Mit einem grausamen Racheakt versucht der sich vom Schicksal betrogen glaubende Alonzo eine ausgleichende Gerechtigkeit herzustellen: einen von Nanon betreuten Kraftakt Malabars, der mit bloßen Armen zwei davonrennende Pferde an Ort und Stelle halten soll, manipuliert Alonzo derartig, dass es Malabar die Arme aus dem Leib reißen müsste - würde nicht Nanon beherzt eingreifen, dabei in Todesgefahr geraten und Alonzo zu einem Rettungsakt verleiten, bei dem er schließlich unter die Hufe der Tiere gerät. Nanons Probleme haben - so ein letzter Zwischentitel - ihre Lösung in der Liebe zu Malabar gefunden, Alonzos Probleme haben ihre Lösung in seinem Tod gefunden.
Die Charaktere bleiben allesamt höchst ambivalent in diesem ausgesprochen perversen, sadomasochistischen Greuelfilm: Chaneys Held erregt als Leidender Mitleid, gewinnt als Nanons armloser und damit kaum besitzergreifender Freund die Sympathie des Publikums und wandelt sich dann doch sehr glaubwürdig zur egoistischen Bedrohung, wenn er nach einem ersten Mord seine Zukunftspläne schmiedet anstatt Reue zu zeigen - oder wenn er in rasender Eifersucht den potenten Malabar die Arme auszureißen gedenkt. Sein kleinwüchsiger Begleiter erweckt immer wieder einen sehr durchtriebenen, nahezu mephistophelischen Eindruck - seine Beweggründe und Gefühle bleiben jedoch letztlich im Dunkeln. Malabar erscheint ekelhaft aufdringlich, solange Nanon seine Arme fürchtet; am Ende jedoch gibt er einen idealen Partner für sie ab - wobei Nanon keineswegs in eine weibliche, ausschließlich passive Rolle schlüpft, in der sie sich vom Starken Mann umarmen lässt: bei Malabars letzten Kunststück ist sie es, die peitschenschwingend über dem Mann und den Pferden thront und das Geschehen lenkt. Ob Nanon letztlich von einer fürchterlichen Phobie geheilt den richtigen Mann für sich auswählt, ob sie sich Alonzo gegenüber undankbar und grausam zeigt, oder ob sie womöglich doch aus einer lobenswert widerspenstigen Abneigung in eine vergleichsweise devote Fügsamkeit übergegangen ist (auch wenn sie in einem abgesteckten Rahmen mal die Peitsche schwingen darf): der Film liefert darauf keine klaren Antworten; stattdessen entwickelt er eine unwahrscheinliche Beziehungsgeschichte und gewinnt nahezu allen Figuren positive und negative Seiten ab, wobei er die moralische Stellungnahme dem Zuschauer überlässt, der in Chaneys Alonzo einen tragischen, in die Raserei getrieben Helden oder auch einen egoistischen, destruktiven Schurken sehen kann.
Klar umrissen ist in diesem diffusen moralischen Dilemma dagegen die körperliche Abnormität: Da wäre der dritte Daumen Alonzos, den dieser als Beweisstück seiner früheren Schuld mit sich umherträgt und vor allen Blicken zu verbergen gedenkt. Da wäre die Kleinwüchsigkeit seines undurchsichtigen Gehilfen. Da wären die muskulösen Pranken Malabars, die Potenz und Macht verheißen und genau deshalb mal abgelehnt, mal ersehnt werden. Und da wären drei Fälle der Amputation: eine vorgegaukelte Armlosigkeit Alonzos, der tatsächliche Verlust seiner Arme und natürlich der Versuch, Malabar in seiner Potenz zu beschneiden. An diesen körperlichen Merkmalen setzen sich alle Charaktereigenschaften und Wesenszüge fest: Vor dem Hintergrund einer Furcht vor den Umarmungen der Männer müssen die Arme des potenten Starken Mannes besonders abstoßend erscheinen; Alonzos dritter Daumen ist seine kriminelle Vergangenheit, Cojos Kleinwüchsigkeit ist seine zwiespältige, etwas verschlagen wirkende Undurchsichtigkeit. Ganz davon abgesehen schlägt sich im extremen Gegensatz der Armlosigkeit Alonzos und der muskulösen Arme Malabars - wie kurz darauf in "West of Zanzibar" - auch der Gegensatz von Potenz und Impotenz, von Macht und Ohnmacht des Mannes nieder, um den sich für Nanon alles dreht.
"The Unknown" geht von Lon Chaneys frühen Körperhorror-Filmen sicherlich am weitesten: Mit seinen krass ausgereizten body modification- und Verstümmelungs-Elementen und dem gleichzeitigen Schwanken der weiblichen Hauptrolle zwischen zwei extremen Körperbildern machen Brownings Regie und Brownings & Youngs Drehbuch auf das Zusammenspiel von Körperlichkeit und Charakterisierung aufmerksam. Die Monstrosität ist nicht mehr einfach unheimlich oder (im Gegenteil) unschuldig, sondern ein Punkt, an dem der Körper als Text lesbar wird. Browning wird damit zu einem sehr frühen Vorläufer von Cronenberg oder Greenaway - freilich ohne deren ausgearbeitete Systematik aufzuweisen. (Überhaupt sind viele Chaney- & Browning-Arbeiten ihrem Genre weit voraus; sie paaren die Angst vor dem Fremden des traditionellen Horrorfilms mit der Angst vor der eigenen Körperlichkeit und deren Versehrbarkeit eines neueren Horrorfilms - der kurz vor dem Hays-Code und mit den ersten Splatterfilmen ab 1963 populär wurde -, um diese Mischung ansatzweise mit der letzten Stufe des Horrorfilms zu konfrontieren: mit den Fehlleistungen der Wahrnehmung und des Geistes, die besonders ab den späten 60er Jahren mehr und mehr das Genre durchzogen und hier bereits Nanons wechselnde Perspektive auf das scheinbar Schreckliche der Umarmung ermöglicht haben.)
Neben dieser interessanten und wegweisenden Körperlichkeit sind es noch Lon Chaneys beeindruckendes Schauspiel und Joan Crawfords frühe Hauptrolle, die den Film äußerst empfehlenswert werden lassen. Inmitten der bizarren Wendungen und Zufälle gerät jedoch der melodramatische Aspekt wenig überzeugend: es dürfte sicherlich auch diesem Umstand (und nicht allein der ausgefallenen Gewalttätigkeit) geschuldet sein, dass zeitgenössische Kritiker dem Film vielfach skeptisch gegenüberstanden. (Auch Lon Chaney, dem es grundsätzlich egal war, für wen er vor die Kamera trat, zählte Browning nicht unbedingt zu seinen Favoriten und gab den Regieleistungen von Sjöström oder Christensen den Vorzug.) Die Inszenierung dieses inhaltlich durchaus herausragenden Films gerät zudem reichlich zurückhaltend; der im gleichen Jahr entstandene "The Show" enthält zweifelsohne die phantasievolleren und beeindruckender gestalteten Bildkompositionen... und an die Montage und den Kameraeinsatz in Brownings "Dracula" (1931) kommt "The Unknown" ohnehin nicht heran - weder in der Lang-, noch in der Kurzfassung.
7,5/10
"Freaks" bildet 1932 schließlich den skandalösen Höhepunkt von Brownings Monstrositäten-Filmen. Lon Chaney stand zu diesem Zeitpunkt allerdings nicht mehr zur Verfügung. Frisch von einer Lungenentzündung genesen, erlag er 1930 dem Kehlkopfkrebs. "Dracula" war der erste Film, den Browning nach Chaneys Tod drehte. Mit diesem Film - der mit seiner Bühnenstück-Vorlage nicht gerade zu einem typischen Browning geriet, aber mit einer wunderbaren handwerklichen Qualität und Lugosis Präsenz ganz andere Qualitäten aufwies - und dem kurz darauf in die Kinos gelangten "Frankenstein" (1931) James Whales setzte sich der Horrorfilm als echtes (quasi serialisierbares) Genre in Hollywood durch. "Freaks" war Brownings Versuch, der Forderung des Produzenten Thalberg zu entsprechen und einen Horrorfilm abzuliefern, der den Schrecken in "Frankenstein" noch toppen sollte.
Browning soll vom kleinwüchsigen Harry Earles ("The Unholy Three", "The Wizard of Oz" (1939)) angeregt worden sein, die Erzählung "Spurs" (1923) von Tod Robbins - auf den auch "The Unholy Three" zurückgeht - zu verfilmen.[8] Browning wich in mehreren Details von der Erzählung ab - unter anderem begnügt er sich gegen Ende nicht mehr damit, den kleinwüchsigen Helden seine betrügerische Frau mit Sporen zureiten zu lassen! - und erzählt [Achtung: Spoiler!] von einer eingeschworenen Gruppe von Zirkus-Freaks, die sich an der Zirkusschönheit und Trapezkünstlerin Cleopatra und dem Starken Mann Hercules rächen, nachdem beide den in Cleopatra verliebten Liliputaner Hans (Harry Earles) in eine Farce von Ehe gelockt und einem Mordversuch durch allmähliche Vergiftung ausgesetzt haben, um an sein Vermögen zu kommen. Als die übrigen Freaks mit der Unterstützung durch den Clown Phroso und die Seiltänzerin Venus dieses Verbrechen durchschauen, kommt es zum finalen Racheakt in einer düsteren Gewitternacht: Beinlose, Kleinwüchsige und ein lebener Torso nähern sich den Unmenschen bis an die Zähne bewaffnet (im wahrsten Sinne des Wortes)... Hercules verliert sein Leben,[9] Cleoptra überlebt nur sonderbar verstümmelt (die Freaks haben sie zu einer der ihren gemacht und auf phantastische Weise in eine Mischung aus Frau und Huhn transformiert - was während der Hochzeitsfeier als gesungenes We accept her! One of us! Loving couple! Gooble gobble! noch eine freundschaftliche Einladung darstellte, ist nach der Missachtung durch die überhebliche Schönheit in einen gewalttätigen Akt der Verstümmelung umgeschlagen).
Bereits in "The Show" hatte Browning die sonderbaren Freaks eines Kuriositätenkabinetts in Szene gesetzt - damals allerdings waren es gewöhnliche Schauspieler, die sich mittels Tricks als Freaks präsentiert haben (und genau diese Tricks wurden in "The Show" auch mehrfach thematisiert): eine Frau ohne Unterleib, eine Meerjungfrau, eine lebende Hand und ein Frauenkopf mit riesigem Spinnenkörper wurden in "The Show" einem neugierigen Publikum vorgeführt. Fünf Jahre später, nach dem Tod des Verkleidungskünstlers Chaney, entschied sich Browning für eine realistische Herangehensweise: neben Harry Earles setzte er noch etliche andere Missgestaltete als Darsteller ein, die sich teilweise als Laiendarsteller oder in Wanderzirkussen, Jahrmärkten und Freakshows verdingten. Die Folgen sind bekannt... diesen Darstellern hat man den Aufenthalt in der Studiokantine verboten, weil man den Anblick ekelhafter Missgeburten beim Essen als unangemessen empfand, Studiochef Louis B. Mayer wollte die Produktion sogar wieder stoppen, der Film wurde radikal zusammengeschnitten, anständige Frauenverbände liefen dennoch Sturm, als er in die Kinos kam, in Großbritannien war der Film bis in die 50er Jahre verboten, Brownings Karriere war weitestgehend ruiniert: dank Thalberg konnte er bis 1936 noch drei Filme realisieren - darunter das von MGM um 15 Minuten gekürzte "London After Midnight"-Remake "Mark of the Vampire" und den etwas unterschätzten "The Devil Doll" (1936), mit dem sich Browning vage an seinem "The Unholy Three" orientierte -, aber als Thalberg dann unerwartet 37jährig einer Lungenentzündung erlag, folgte nur noch der kleine "Miracles for Sale" und anschließend der lange Weg in Alkoholismus und Verbitterung. Von den missgestalteten Darstellern haben einige noch mehrfach im Filmgeschäft gearbeitet, andere zogen sich nach der unerfreulichen Erfahrung während der Dreharbeiten zu "Freaks" dauerhaft vom Film zurück.
Erfreulich ist an "Freaks" vor allem die ausgewogene Ambivalenz, mit der sich Browning der Entstellung nähert: zwar liefert er mit dem starken Hercules und der schönen Cleopatra die zentralen Schurkenfiguren des Films ab (die schließlich ihrer Stärke und Schönheit beraubt werden), aber mit dem Clown Phroso (in seiner Maskerade beinahe selbst ein Freak) und vor allem mit der schönen Seiltänzerin Venus liefert er auch positive Zeichnungen des wohlgestalteten Menschen ab. Umgekehrt gilt zwar den Freaks die volle Sympathie des Regisseurs (und in der Regel auch die Sympathie des Publikums) - aber dennoch gestattet Browning es sich, während der grausamen Rache mit dem Erschreckenden der Entstellung zu spielen. Ohne die Würde oder gar die eigene Schönheit der Freaks insgesamt zu verletzten, inszeniert er das Finale dann doch gemäß dem Regelwerk des klassischen Horrorfilms (samt seiner typischen Motive: Blitz & Donner, Dunkelheit, der düstere Wald) als Bedrohung durch das Monströse, das Fremde. Wie bereits in "The Unknown" gibt Browning in "Freaks" stets Anlass, die eigene Perspektive auf das Normale und das Abnorme zu überdenken. Klassischer Horror-, Körperhorror- und psychologischer Horrorfilm verschmelzen in "Freaks" perfekt miteinander.
Im Gegensatz zu Brownings anderem großen Tonfilm-Horrorklassiker "Dracula" erscheinen Kameraarbeit und Montage (womöglich bedingt durch die heftigen Kürzungen) weniger stilvoll und elegant, die bizarren Bilder, die Browning immer wieder findet, gleichen diesen Umstand jedoch vollkommen aus. Ähnlich ungeschliffen wie die handwerkliche Qualität mutet auch die (ebenfalls durch die Kürzungen gravierend beeinflusste) Dramaturgie an: der im Grunde schlichten Geschichte haftet lange Zeit eine frei mäandernde, etwas richtungslos anmutende Struktur an - "Freaks" ist ein "sanftes, stilles, lange Zeit beinahe zielloses Drama [...], eine rechtschaffene Fabel, die ihre Besonderheit nicht aus einer herausragenden Inszenierung oder Dramaturgie bezieht, sondern aus ihrer Haltung."[10] Diese Haltung war ihrer Zeit freilich zu weit voraus: erst in den 60er Jahren entwickelte sich "Freaks" zu einem regelrechten Kultfilm, der als Midnight Movie und Kultstreifen der Gegenkultur zu spätem Ruhm kam; gerade die Midnight Movie Stars wie John Waters ("Mondo Trasho" (1969)), David Lynch ("The Elephant Man" (1980)) oder Alejandro Jodorowsky ("El Topo" (1970)) haben Brownings Klassiker in den nächsten Jahren auf ganz unterschiedliche Weise gehuldigt. (Dennoch ist auch "Freaks" nicht ganz frei von Vorurteilen gegenüber seinen Hauptdarsteller(inne)n; Harald Harzheim macht etwa auf eine ziemlich deutliche Asexualisierung des kleinwüchsigen Hauptdarstellers (und seiner kleinwüchsigen Partnerin) aufmerksam.[11])
Von den Horrorfilmen der 30er Jahre ist "Freaks" sicherlich der radikalste; mag "Dracula" handerwerklich versierter, "Frankenstein" dramaturgisch stimmiger ausgefallen sein, so ist Brownings zutiefst persönlicher "Freaks" nicht nur gewagter als diese Klassiker, sondern auch eine intelligente Reflexion des Horrorfilms - wobei die humanistischen Ansätze aus "Frankenstein" von Browning noch verschärft werden und den Horrorfilm beinahe ad absurdum führen. Dass Browning dabei nicht einfach bloß die "Frankenstein"-Moral weiter ausbaut, sondern ein ganz persönliches Anliegen verfolgt, wird überdeutlich, wenn man "Freaks" vor dem Hintergrund von Brownings Chaney-Filmen betrachtet. Die irritierend uneindeutige Haltung, die man gegenüber dem Andersartigen, dem Fremden oder Entstellten einnimmt, wird in vielen seiner Filme immer wieder neu verhandelt. "Freaks" ist mit seiner authentischen Ausrichtung der fortschrittlichste dieser Filme. (Und spätere Trash-Remakes wie "She Freak" (1967) oder "Freakshow" (2007) kommen nicht einmal annähernd an das große Vorbild heran.)
10/10
1.) Vgl. z.B.: Rainer Dick: Stars des Horrorfilms. Tilsner 1996; S. 63-64. Oder: Ronald M. Hahn, Volker Jansen, Rolf Giesen: Das neue Lexikon des Horrorfilms. Imprint 2002; S. 108.
2.) Chaney hat sich mit solchen Rollen schließlich den Namen Man With the 1000 Faces erworben, nachdem seine Verkleidungskünste zunächst eher hinderlich waren, sich als Star zu etablieren: der Wiedererkennungswert ist nicht groß, wenn man ständig anders aussieht. Unter diesem Titel entstand in den 50ern ein biographischer Spielfilm - "The Man With the 1000 Faces" (1957) -, in dem der große James Cagney in die Rolle Chaneys schüpfte.
3.) Fernand Jung, Claudius Weil, Georg Seeßlen: Der Horrorfilm. Regisseure, Stars, Autoren, Spezialisten, Themen, Filme von A-Z. Enzyklopädie des populären Films Band 2. Bernhard Roloff Verlag 1980; S. 42.
4.) Georg Seeßlen, Fernand Jung: Horror. Geschichte und Mythologie des Horrorfilms. Grundlagen des populären Films. Schüren 2006; S. 743.
5.) Steven Jay Schneider: Der Unbekannte. In: Ders. (Hg.): 1001 Filme. Die besten Filme aller Zeiten. Olms 2003; S. 67.
6.) Lexikon des internationalen Films. Zweitausendeins 2002; S. 3130.
7.) Hans Schifferle: Die 100 besten Horror-Filme. Heyne 1994; S. 194.
8.) Die krude Geschichte wurde hierzulande erstmals in der dt. Ausgabe von Peter Hainings Anthologie "Freak Show" veröffentlicht: Peter Haining: Ungeheuer. Fischer 1973; S. 36-53.
9.) "Freaks" wurde allerdings um knapp 2/3 seiner Laufzeit erleichtert. Rolf Giesen zufolge wurde in der ursprünglichen Version kein Mord an Hercules nahegelegt, sondern ein Kastrationsakt des Starken Mannes angedeutet. Diese Kastration fiel dann ironischerweise selbst der Schere zum Opfer. Vgl.: Rolf Giesen: Lexikon des Phantastischen Films. Horror. Science Fiction. Fantasy. Band 1. Ullstein 1984; S. 93.
10.) Frank Schnelle, Andreas Thiemann (Hg.): Die 50 besten Horrorfilme. Bertz + Fischer 2010; S. 22.
11.) Vgl. Harald Harzheim: Freaks. In: Ursula Vossen (Hg.): Filmgenres: Horrorfilm. Reclam 2004; S. 92-93.