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„Eine Ehe ist wie die andere!“

Der Italiener Tonino Valerii machte sich in den 1960ern einen Namen mit qualitativ guten bis hochwertigen Italo-Western wie „Lanky Fellow“, „Blutiges Blei“ und „Der Tod ritt dienstags“. Nach dieser Quasi-Trilogie und noch vor seinem bekanntesten Film, dem Terence-Hill-Western „Mein Name ist Nobody“, den er zusammen mit Sergio Leone inszenierte, wechselte er radikal das Genre und verfilmte im Jahre 1970 mit dem Erotik-Melodram „Das Mädchen Julius“ einen 1965 von der italienischen Frauenrechtlerin Milena Milani 1965 veröffentlichten (mir unbekannten) Roman.

Julius (Silvia Dionisio, „Gewalt – Die fünfte Macht im Staat“), die den Namen von ihrem kurz nach ihrer Geburt gestorbenen Vater bekommen hat, da sich ihre reiche Mutter (Esmeralda Ruspoli, „Die mit der Liebe spielen“) eigentlich einen Jungen gewünscht hatte, wächst mit eben jener und der Gouvernante Lia (Opernsängerin Anna Moffo) einerseits luxuriös, andererseits aber emotional vereinsamt und vom wirklichen Leben weitestgehend isoliert in Venedig auf. Gerade 14, wird sie von der lesbischen und männerfeindlichen Lia verführt, die ihr zudem einbläut, vor Männern unbedingt auf der Hut sein zu müssen. Nach einem Umzug ans Meer kann sie sich vom Einfluss Lias lösen und beobachtet erstmals Sex zwischen Mann und Frau, was ihre Neugier weckt. Sie sammelt ihre ersten heterosexuellen Erfahrungen, fühlt dabei jedoch nie etwas. Verlobt ist sie mit ihrem Schulfreund Lorenzo (Maurizio Degli Esposti, „Simona“), der sie aufrichtig liebt, doch macht sie vor der Hochzeit einen Rückzieher. Schließlich lernt sie den Künstler Franco (Gianni Macchia, „Blutiger Freitag“) kennen…

„Schließlich gibt’s ja auch Jungs, die Maria heißen!“

Zu den Eröffnungstiteln darf man einer Bootsfahrt durch Venedig beiwohnen, passend dazu erklingt die schwelgerische Musik Riz Ortolanis. Kurz darauf lernt der Zuschauer das Mädchen Julius kennen, das die meiste Zeit ungeachtet der oberflächlichen Idylle zumeist recht freudlos dreinblickt. Sie versucht, einem Telefonat aus dem Weg zu gehen, möchte offenbar Kontakt zu ihrem Verlobten vermeiden. Nach einem fast unbemerkten Zeitsprung in die Vergangenheit wird deutlich, dass ihre Mutter nur wenig Zeit für sie hat und viele Erziehungsaufgaben an Gouvernante Lia abtritt, die dies sexuell auszunutzen versucht und schließlich auch Erfolg hat. Parallel dazu macht der Freund ihrer Mutter Schluss, was Lias männerfeindliche Thesen zu bestätigen scheint. Julius wird von Lorenzo umworben und verlobt sich mit ihm. Während man Lia beim Ausziehen beobachten kann, bleibt ihr sexueller Akt mit Julius für den Zuschauer unsichtbar, was jedoch nichts an der eigenartigen Atmosphäre zwischen beklemmender Tristesse und erotischer Aufgeladenheit ändert, die diese Rückblende, als die sich diese Szenen im Anschluss recht eindeutig herausstellen, bestimmt.

Der Film wird noch häufiger zwischen verschiedenen Zeitebenen springen und nicht immer ist dies sofort für den Zuschauer offensichtlich. Julius hat inzwischen mit dem Künstler Franco angebändelt, doch schnell findet man sich mit ihr in einer weiteren Rückblende am Meer wieder. Dort beobachtet sie Haushälterin Serafina beim Liebesspiel mit ihrem Freund heimlich am Strand und masturbiert dabei (was der Film selbstverständlich ebenfalls nur andeutet). Daraufhin bekommt sie überhaupt erstmals ihre Periode, bändelt mit Serafinas Freund an, der sie nachts aufsucht, und versucht sich im Beischlaf mit ihm. Sie scheint ihren ersten Sex mit ihm zu haben, hat jedoch dabei Lias mahnende Worte im Ohr. Wunderbar zeigen diese Szenen die verwirrende Mischung aus Neugier, sexuellem Erwachen einer- und Angst und Skrupeln andererseits, der sich viele junge Mädchen beim Sammeln erster sexueller Erfahrungen ausgesetzt sehen. Für die verunsicherte Julius bedeutet dies in der Konsequenz jedoch keinesfalls irgendeine Form von Befriedigung, im Gegenteil: Sie glaubt, einen körperlichen Fehler zu haben, da sie nichts spürte.

„Suchen Sie nach Liebe – dann kommt alles andere von selbst!“

Erneuter Ortswechsel: Man befindet sich im Winterurlaub in Cortina. Lorenzo ist dabei, doch Julius macht ihn eifersüchtig, bis er entnervt von Dannen zieht. Sie versucht, Sex mit einem anderen Mann zu haben, doch das will wieder nicht so recht klappen. Sie versucht es gar mit einem älteren Herrn, erfolglos. Schließlich geht sie wieder mit Lorenzo und trifft sogar Lia wieder, über die sie den Maler Franco kennenlernt, mit dem sie erstmals glücklich wird. Folgerichtig beendet sie ihre Beziehung zu Lorenzo; mittlerweile kommentiert Julius ihr Leben dann und wann aus dem Off. Doch noch immer hält sie sich für frigide. In ihrer Verzweiflung sucht sie einen Arzt auf, der sie untersucht… Mehr möchte ich an dieser Stelle nicht verraten, außer, dass der Arztbesuch zwar durchaus eine Überraschung mit sich bringt, allerdings keine waghalsige Wendung oder dergleichen, was man angesichts des Rätselratens um Julius‘ Probleme evtl. zwischenzeitlich erwartet haben könnte.

Nein, „Das Mädchen Julius“ bleibt stilvoll und ästhetisch und sich damit treu, driftet nie in sleazige Gefilde ab und untergräbt nie seinen eigenen Anspruch. Als Fleischbeschau ist das Drama kaum geeignet, Julius beispielsweise bekommt man erst gegen Ende wirklich nackt zu sehen. Vielmehr geht es um die schwerwiegenden Folgen resultierend aus der Vermittlung eines falschen Feindbilds zu Zeiten zu Zeiten pubertätsbedingter starker Beeinflussbarkeit und die unterbewussten Wunden, die sexueller Missbrauch hinterlässt. In der bitterbösen Schlusspointe entlädt sich dann alles in einem unvorhergesehen Gewaltausbruch, der spätestens dazu geeignet ist, dem zuvor nach allen Regeln der Kunst eingelullten Zuschauer einen kräftigen Schock zu versetzen. Dass sich dieser in einer Art lethargischen Zustands befunden haben könnte, hängt wiederum damit zusammen, dass „Das Mädchen Julius“ über weite Strecken durch seine Ansiedlung bei den „Reichen und Schönen“ distanziert und ein wenig abgehoben wirkt und es seine Zeit dauert, bis man sich in die Lage versetzt sieht, Empathie für Julius zu empfinden, die wiederum die meiste Zeit ebenfalls sehr verschlossen bleibt und kaum Einblicke in ihr Seelenleben gestattet – was indes auch Ausdruck ihres fehlenden Bezugs zu ihr selbst ist.

Die edlen von Kameramann Stelvio Massi eingefangenen Bilder und die Kompositionen Ortolanis verleihen dem Film ebensoviel Anmut und Grazie wie das Schauspieler-Ensemble um die bildhübsche, 19-jährige Silvia Dionisio, der die Make-up-Abteilung unterschiedliche Altersstufen vom just pubertierenden Kind bis zur jungen Erwachsenen aufschminken musste. Gerade in den Momenten, in denen sie kindlich wirken sollte, erscheint sie vielleicht körperlich etwas zu reif, ansonsten passt sie mit ihrer Ausstrahlung von Unerfahrenheit, Verunsicherung und Hilfsbedürftigkeit prima in die Rolle. Wenn man so will, ist „Das Mädchen Julius“ ein Sittengemälde einer unter der um Status und Etikette bemühten Oberfläche einer ihre gesellschaftlichen Rollen spielenden, doch letztlich seelenlosen High Society, die noch nicht einmal in der Lage ist, ihren eigenen Nachwuchs zu aufgeschlossenen, zu Liebe und freier Entfaltung fähigen Lebewesen zu erziehen und in ihrer Borniertheit nicht einmal mitbekommt, wie es wirklich um ihn bestellt ist. Ein absolut sehenswerter Ausbruch Valeriis aus dem Genrefilm, etwas kompliziert erzählt und etwas sperrig im emotionalen Zugang zwar, aber mit einer zwar anklagenden, doch ohne jede Schwarzweißmalerei auskommenden Handlung und mit einer prächtigen, künstlerischen Umsetzung den zu Entschleunigung und Genuss fähigen Kenner des europäischen Films belohnend.

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