- Diese Kritik bezieht sich auf die ersten 19 von 27 Episoden der zweiten Staffel -
Die erste Staffel „Boston Legal“ konnte mit ihren 17 clever geschriebenen Episoden bereits voll und ganz überzeugen. Leider geht Creator David E. Kelley manchmal ein wenig lieblos mit den Figuren um, so tauchen die ehemaligen Mit-Hauptdarstellerinnen Monica Potter und Rhona Mitra bloß noch als kurze Randerscheinungen auf um dann vollständig zu verschwinden. Und die neuen Charaktere werden ebenso salopp eingeführt, sind plötzlich einfach da und spielen wichtige Rollen. Zum Beispiel ist Julie Bowen neu an Bord und spielt sogleich eine wichtige Rolle, hat viel Leinwandpräsent, ebenso wie Justin Mentell als neuer Assistenz-Anwalt. Wirklich überraschend ist aber eines: Anders als bei früheren Serien (Bsp. „Chicago Hope“) funktionieren die ständigen Wechsel im Cast ungeheuer gut und als Zuschauer hat man zu keinem Zeitpunkt das Gefühl, einen fehlenden Charakter zu vermissen. Dafür bringt jeder einzelne genug Eloquenz und eigene Sicherheit auf um in der Serie zu bestehen. Dasselbe gilt auch für Mark Valley alias Brad Chase, der zu Beginn der zweiten Season wesentlich mehr Screentime bekommt als noch in der vorigen Staffel. Nur Sally Heep (gespielt von Lake Bell) bekam als einziger Frauencharakter einen würdigen Abschied, noch während der ersten Staffel wurde sie entlassen und verschwindet somit aus einem triftigen Grund heraus.
Für die meisten Drehbücher ist nach wie vor Kelley höchstpersönlich verantwortlich und er bleibt seinem unverkennbaren Stil glücklicherweise treu. Selbst die enorme Anhäufung von Skurrilitäten wirkt in „Boston Legal“ nicht überladen und konstruiert. Der moderne Anstrich steht der Serie bestens, wunderbare Stadtaufnahmen, schnelle Schnitte und ein abwechslungsreicher Soundtrack garantieren einen stimmigen Rahmen für die interessant gestalteten Fälle.
Den Nukleus bilden die charismatischen Hauptcharaktere, ständig wechseln die Sidekicks und von Staffel zu Staffel gibt es neue Gesichter zu betrachten, was der Serie allerdings nie zum Verhängnis wird. Edwin Poole, der Senior-Partner der in der allerersten Episode einen Nervenzusammenbruch erlitt, taucht auch hier noch nicht wieder auf. Während die erste Staffel nur zaghaft den privaten Hintergrund der Figuren andeutete, geht man in der zweiten Staffel einen Schritt weiter. James Spader zeigte als Alan Shore bereits in der ersten Season Verwundbarkeit und Schwäche (1.14, „Ein Mann sieht rot“), hier sieht man Alan erstmals zuhause und fügt seinem Charakter eine weitere Besonderheit hinzu: Alan leidet unter Panikattacken im Schlaf, die er nicht kontrollieren kann. Auch sein bester Freund, der erzkonservative Denny Crane, wird näher beleuchtet. Das gilt nicht nur für die Männerfreundschaft zwischen den beiden (die wird auf witzige Weise in der tollen Episode „Natur Pur“ näher beleuchtet), auch Dennys Selbstzweifel müssen überwunden werden und er hat weiter mit seiner leichten Alzheimer (oder BSE?) Erkrankung zu kämpfen. Etwas mehr Screentime bekommt Rene Auberjonois, der schon seit der ersten Episode eine tragende Rolle verkörpert und neben William Shatner ein zweites "Star Trek"-Relikt darstellt (spielte über Jahre hinweg den Odo in "Deep Space Nine").
Sein Charakter, Paul Lewiston, steht kurz vor der Pension und stellt die menschlichste und am wenigsten zynische Person der gesamten Kanzlei dar, ist regelmäßig schockiert von den zahlreichen Eskapaden der spleenigen Mitarbeiter, kann somit als das gute Gewissen von Crane, Poole & Schmidt bezeichnet werden. In der zweiten Staffel erfahren wir, dass er eine Tochter hat, diese war früher drogenabhängig und das Verhältnis zwischen den beiden ist erkaltet. Die zaghaften Annäherungsversuche der beiden und die dazugehörigen Schwierigkeiten werden emotional erzählt unter strenger Vermeidung klischeehafter Pathetik.
Sehr starke Gast-Auftritte mit charismatischen alten Bekannten gibt es auch in der zweiten Staffel, Rupert Everett („Dellamorte Dellamore“) spannt hier mal als Hetero Alan Shores Freundin aus, Michael J. Fox spielt einen wunderbaren Part als todkranker, sympathischer Erfolgstyp. Außerdem ist Tom Selleck zu sehen, in mehreren Episoden taucht er als Shirleys (Candice Bergen) Ex-Mann auf und bleibt dem Zuschauer mit einer äußerst charmanten Vorstellung in Erinnerung.
Kurios ist die Storyline um Alans achtzigjährige Sekretärin (Betty White), die nicht nur zur bewaffneten Räuberin sondern auch noch zur Mörderin wird. Ihr anfänglich nerviger und eindimensionaler Charakter wird jedoch noch clever geschliffen und die Storyline findet einen versöhnlichen, netten Abschluss. Generell verwendet David E. Kelley in der zweiten Season mehr Cliffhanger und zeigt neben dem Berufsalltag verstärkt persönliche Sequenzen der Protagonisten, welche jedoch stets in Verbindung mit den aktuellen Fällen gebracht werden und die Persönlichkeit der Serie nicht verfälscht. Immer noch dominieren die von genialer Rhetorik gespickten Plädoyers, abwechslungsreiche Fälle mit einer gesunden Dosis Bizarrerie und der spöttische Blick auf die amerikanische Justiz.
Das Genre, indem sich David E. Kelley bewegt, ist mehr denn je die Realsatire. Schon alle früheren Projekte Kelleys thematisierten sozial- und gesellschaftskritische Aspekte und wählten nie die einfache Lösung. In „Boston Legal“ lässt der Macher unterschiedlichste Auffassungen des Rechtes und darüber hinaus auch in den restlichen Moralvorstellungen: Liberalismus trifft auf Konservatismus, Idealismus trifft auf Zynismus, Gerechtigkeitsempfinden trifft auf kalte Profitgier. Ein Urteil fällt die Serie nicht, ähnlich wie der hervorragende „Thank you for Smoking“ nutzt „Boston Legal“ aber um dem Zuschauer zumindest Denkanstöße zu bieten, sei es zum Irak-Krieg oder zur Ausrottung des amerikanischen Wildlachs.
Fazit: Die zweite Season hält, was die erste indirekt versprochen hat: Weitere Stunden voll von bester Unterhaltung, ausgestattet mit der besten Figurenzeichnung (vielleicht neben „Lost“) und einem toll aufspielendem Ensemble, dem personelle Veränderungen scheinbar nichts anhaben können. Ich bin gespannt auf das Staffel-Finale…
09 / 10