Er sollte für rund 100.000 Dollar einen möglichst kassenträchtigen Horrorfilm fürs Videothekengeschäft drehen, größere Ansprüche gab es keine an das Regiedebüt des US-Amerikaners John McNaughton („Wild Things“) aus dem Jahre 1986. Doch sein sich am realen Serienkiller Henry Lee Lucas orientierender Thriller „Henry - Portrait of a Serial Killer“ wurde etwas ganz anderes, nämlich eine Perle des eigenständigen, ambitionierten Low-Budget-Kinos, das fortan Zuschauern, Kritikern und Zensoren Kopfzerbrechen bereiten sollte.
Der Kammerjäger Henry (Michael Rooker), dessen wahre Berufung das Ermorden in erster Linie von Frauen ist, ist bei seinem Kumpel Otis in einer kleinen Wohnung in Chicago untergekommen. Otis (Tom Towles) hält sich mit kleinen Gaunereien über Wasser. Als seine Schwester Becky (Tracy Arnold) sich von ihrem Mann trennt und zu den beiden zieht, entdecken sie und ihre Henry ihre Zuneigung zueinander, während Otis von Henry in die Kunst des Serienmords eingeweiht wird und in seiner neuen Rolle voll aufgeht…
Für seinen Thriller setzt McNaughton auf einen eigenwilligen Stil, indem er einige Elemente des Exploitation-Films mit einer authentischen, semidokumentarischen Ausdrucksform vermengt und damit einen schockierenden Film erschafft, der mit seinen Morden nicht primär unterhält, sondern für Entsetzen sorgt. Zu Beginn zeigt er die Ergebnisse von Henrys Taten, umkreist mit der Kamera die drapierten, übel zugerichteten, teils verstümmelten Leichen und spielt dazu eine Geräuschkulisse bestehend aus Schreien, Schlägen und Schüssen ein, die das Kopfkino zur Verknüpfung mit den Bildern provoziert und auf Hochtouren rattern lässt. Daraufhin stellt er die drei Charaktere vor: den schmierigen Otis, der sich offensichtlich zu seiner Schwester sexuell hingezogen fühlt, die sympathische, doch naive Becky, die anscheinend grundsätzlich an die falschen Männer gerät, und eben Henry, den in sich ruhenden, stoischen Killer, dem man zunächst einmal nichts anmerkt, der jedoch über eine unnahbare, kaltschnäuzige Aura verfügt – einer, mit dem man besser keinen Streit beginnt. Aus seinem Leben macht er ein Geheimnis, auf die Frage nach den Gründen für seinen Gefängnisaufenthalt verwickelt er sich in Widersprüche. Sicher scheint nur: Er hat seine eigene Mutter getötet, nachdem sie ihn über einen längeren Zeitraum sexuell genötigt hatte. Henry und Otis sind ehemalige Knackis, alle drei entstammen bildungsfernen Schichten, sind Angehörige der unteren Unterschicht und haben eine Art Zweckgemeinschaft gebildet – eine fatale sondergleichen.
Mit das Schockierendste an „Henry - Portrait of a Serial Killer“ ist mit Sicherheit die nüchterne, unaufgeregte Erzählweise, die die Selbstverständlichkeit, mit der Henry, später auch Otis, seinem mörderischen Treiben aus Spaß, zum Zeitvertreib, aus Triebhaftigkeit nachgeht, ohne dass der Film es ausdrücklich moralisch bewerten bzw. verurteilen würde. Hier gibt es keine Polizei, die für Gerechtigkeit sorgt, keine sich rächenden Opfer und schon gar keine übernatürliche Macht, die für Ausgleich sorgt und das Gezeigte erträglich macht. Ein besonderer Kniff der Handlung ist gar, dass Henry zwar zweifelsohne als weitestgehend amoralisch, dabei aber immer noch moralischer als der sich als noch größerer Widerling entpuppende Otis dargestellt wird. Und während Otis anscheinend ausschließlich aus Spaß bzw. das, was er dafür hält, sämtliche Bedenken und humanistischen Schranken über Bord wirft, wird bei Henry ein stark verzerrtes, krankes, gestörtes Verhältnis zum anderen Geschlecht, zu Liebe und Zärtlichkeit, deutlich, das ihm zumindest ein Stück weit eine Art Opferrolle zugesteht. In einer der thematisch härtesten Szene, der Auslöschung einer ganzen Familie durch das mörderische Duo, geht McNaughton sogar so weit, einen Bogen zum Voyeurismus auch des Publikums zu spannen, denn die Vorgänge entpuppen sich als von den beiden gefilmtes Snuff-Video, das sich Otis genüsslich auf dem Sofa sitzend anschaut – eine Szene bzw. Intention, die Michael Haneke später in abgewandelter Form für „Funny Games“ aufgegriffen hat. Das Ende schließlich ist konsequent, traurig, tragisch, macht wütend durch das Ohnmachtsgefühl, das es beschert, und hinterlässt einen pessimistischen Zuschauer, der extrem sensibilisiert wurde für den möglicherweise unerkannt nebenan lauernden Serienmörder, der jede Rasterfahnung umgeht, indem er es durch seine unterschiedliche Vorgehensweise und seine Rastlosigkeit gar nicht erst zulässt, dass ein Profil seiner Person erstellt würde. Die Nüchternheit, Sachlichkeit der Bilder, die das Vergewaltigen und Morden fast schon als beiläufige Selbstverständlichkeiten zeigen, werden indes unterwandert von einem Soundtrack, der mit seinen düsteren, collagenhaften, bisweilen unsortiert-experimentell tönenden Klängen auf einer Subebene den Wahnsinn des Gezeigten dokumentiert. Die visuell expliziten Gewaltausbrüche indes zeugen von hohem handwerklichem Geschick und pendeln zwischen exploitativ-übertrieben/künstlerisch konstruiert (eher die Ausnahme) und bar jeglicher Ästhetik, hässlich, dreckig, hochgradig verachtenswert.
Die Schauspieler, Michael Rooker („Slither“) als Henry in seiner ersten (!) Spielfilmrolle, brillieren und scheinen wie gemacht für diesen Film. Rooker durfte, nein, sollte bis auf wenige Ausnahmen seine Alltagskleidung anbehalten, so punktgenau erfüllte er die Anforderungen an seine Rolle. Die übrigen, sich seinerzeit aus einem Theater-Ensemble rekrutierenden Schauspieler stehen dem in nichts nach, Tom Towles („Meister des Grauens“ und später Stammgast in Rob Zombies Filmen) mit Mut zur Hässlichkeit und Tracy Arnold („Alienkiller“) als geschundenes, doch charakterlich integeres Ghetto-Aschenputtel spielen ihre Rollen mit einer beängstigenden Authentizität. Ein wenig irritiert hat mich allerdings die Charakterentwicklung. Zwar weist „Henry - Portrait of a Serial Killer“ auf einer Texttafel zu Beginn ausdrücklich darauf hin, dass der größte Teil des Films frei erfunden und lediglich zu Teilen von Henry Lee Lucas inspiriert worden ist, obwohl andere das zum Anlass genommen hätten, breitestmöglich mit „Eine wahre Geschichte!“-Werbeparolen hausieren zu gehen. Aufgrund der starken Parallelen zum Fall Lucas wirkte es auf mich befremdlich, dass ausgerechnet Henry, dessen realem Vorbild das Töten von Frauen zwecks Sex mit ihren Leichen nachgesagt wurde, in einem entscheidenden Moment Otis davon abhält, selbiges zu tun. Was Henry mit den Leichen tut, bleibt im Dunkeln, von Nekrophilie ist nie explizit die Rede. Wurden hier schlicht die Rollen durch das Drehbuch getauscht? Interessant hätte ich gefunden, hätte man sich Henry in genannter Situation quasi vor sich selbst erschrecken lassen, oder aber hätte man Bezug auf sein Kindheitstrauma genommen (Sex von Bezugspersonen, den er mit ungewollt mit ansehen muss). Meines Erachtens wird dadurch eine Gelegenheit verspielt, die Geschichte mit weiterem psychologischen Tiefgang zu versehen, andererseits bleiben so aber Interpretationsmöglichkeiten und wird zum Nachdenken über die Charaktere angeregt – vielleicht liege ich gedanklich schon ganz richtig und vermisse in meiner Einfalt lediglich eine eindeutige Bestätigung. Ähnliches verursachte ferner Otis‘ wahnsinnig rasant erscheinende Wandlung vom Kleinkriminellen zum skrupellosen Serienmörder, nachdem er zuvor bisweilen gar hier und da ein wenig Sympathie auf sich zog: als leicht gestörter Verlierertyp, der aber so sozial ist, obdachlose Mitmenschen bei sich aufzunehmen und immer einen frechen Spruch auf den Lippen hat, viel lacht. Was genau war es, das Otis dazu trieb, der Prostituierten im Auto den Garaus zu machen und sich nach kurzen Gewissensbissen mit Anlauf in Henrys Welt zu stürzen? Gerade dieser Aspekt wäre für diesen Film, dem oftmals attestiert wird, ein Psychogramm zu sein, von Bedeutung gewesen. Vielleicht möchte McNaughton aber auch, dass der Zuschauer genau diese Fragen stellt und auch einmal in sich selbst hineinhorcht…
„Henry - Portrait of a Serial Killer“ ist ein Paradebeispiel für hochqualitative, grimmige, in vielleicht etwas anderer Weise als man gemeinhin mit dem Begriff assoziiert „anspruchsvolle“ Low-Budget-Produktionen, in denen sich junge Künstler austoben und unbewusst Klassiker des unterschlagenen Films schaffen, die die ihnen gerecht werdende Reputation erst im Laufe der Jahre und Jahrzehnte erfahren. Ein Film, der Gänsehaut erzeugt und dabei an anderer Stelle ansetzt als die bekannte Slasher- und Psycho-Thriller-Ware. Muss man gesehen, oder besser: gespürt haben.