Täterperspektive
Grundsätzlich gibt es immer 2 Arten von Filmen über Mörder und Verbrecher im Allgemeinen: Die aus der Opfer-/Polizeiperspektive und die aus der Täterperspektive. Gerade wenn es um spektakulärere Fälle, wie dem aus "Henry", der ja auf wahren Begebenheiten beruht, geht, neigen beide Arten leicht dazu, eindimensional zu werden. Das äußert sich bei Täterfilmen meist in Verherrlichung bzw. Verharmlosung verbunden mit reißerischen Gewaltprovokationen.
Zwar ist "Henry" vergleichsweise kein schlechter Film, doch muss er sich auch den wesentlichen Kritikpunkten stellen. In den knapp 80 Minuten Film ist vergleichsweise wenig Platz für ein komplexeres Psychogramm des "Helden", also des Killers eingeräumt, worauf der nicht nur gewaltgierige Zuschauer ja bei so einem Täterfilm aus ist. Am ehesten dienen da noch die Dialoge am Anfang zwischen Henry und der Schwester Becky seines Mitbewohners und Komplizen Otis, sowie am Ende während der Autofahrt. Tatsächlich wird die meiste Zeit des Filmes darauf verschwendet, die Vorbereitungen, die Verfolgungen der Opfer und die Morde selbst möglichst wirkungsvoll (wir denken an die Provokation) in Szene gesetzt, ohne dabei allzu plump und explizit zu werden. Man merkt deutlich, dass die Macher hierauf ihr Augenmerk gelegt haben, sodass der Film zwar eine spannende Atmosphäre aufbauen und halten kann, inhaltlich jedoch an Wert verliert. Natürlich, kann man sagen, sind gerade auch die ausschweifend dargestellten Vorbereitungen zu den Taten eine vorzügliche Verbildlichung der Triebhaftigkeit des perversen Täters. Auch das immer brutalere Vorgehen, als Otis auch Gefallen am Morden findet, die Filmaufzeichnung, der zunehmende Spaß an der Arbeit, oder der tödliche Kampf der beiden Mörder gegeneinander sind ebenfalls nette Metaphern für den Rausch des selbstzerstörerischen Triebes.
Trotzdem hebt das den Film inhaltlich nicht über Genrekollegen. Das Konzept hinter der Psychologie des Täters erschöpft sich bereits in diesen eher offensichtlichen Dingen (dazu zählt auch die Kindheitsgeschichte des Täters). Sebstverständlich kann man auch hier wieder einwenden, dass gerade bei solch kranken Serienmördern eine Psychologisierung schwierig ist, da sie nach außen hin zumeist ruhige, nette Typen sind. Insofern könnte man ja argumentieren, dass gerade die Belanglosigkeit der Psyche Henrys seine wesentliche Charakterisierung ist.
Allerdings stößt dieses Konzept dann schnell an seine Grenzen. Es versagt und widerspricht sich gewissermaßen in der Person Otis. Zwar war er auch im Knast und ist deshalb der Gewalt nicht abgeneigt, jedoch erscheint er am Anfang nicht wirklich als eine Art Triebtäter. Später im Film gibt es aber eine plötzliche Wendung, dass nunmehr er ohne erkennbare Motivation fast noch mehr Gefallen und Befriedigung am Morden verspürt, als Henry selbst. Zöge man alleine Freuds Theorien zu Perversionen in Betracht, so sähe man, dass der Wandel zur Perversion ein psychisch äußerst komplexer und auch längerwieriger Prozess ist, der bei einem halbwegs normalen Menschen nur durch zahlreiche äußere und innere Faktoren bestimmt ist, u.a. dem Prozess der Versagung der normalen Triebbefriedigung, dem daraus folgenden inneren Konflikt (Stichwort "Ich" und "Es"), ... Nur, weil jemand z.B. so eine kaputte Familie wie Henry hatte, muss er noch lange nicht zwangsweise ein potentieller Triebmörder werden. Es gibt wahrlich genug kaputte Familien.
Ich will damit nur verdeutlichen, dass es einer weit nachvollziehbareren Charakterentwicklung bedarf, um gerade der Person Otis, die ja schließlich die Dramaturgie des Filmes steuert, Glaubhaftigkeit zu verleihen. Das angedeutete Element des Ausweichens seines sexuellen Triebes auf den Inzest mit der eigenen Schwester ist ja ein guter Ansatz. Die soziale Komponente (dargestellt durch das Milieu des Filmes und z.B. die Szene mit dem Bewährungshelfer) ist auch dezent und sinnvoll eingeflechtet, taugt aber als alleinige Erklärung natürlich nicht.
In MANN BEISST HUND beispielsweise gibt es genau jene hier rudimentäre Charakterentwicklung in ausgeprägterer Form bei den Filmemachern, die dann schließlich selbst zu Helfern werden und sich an den Opfern vergehen. Wesentlich ist da aber, dass es sich hier nicht um Triebtaten handelt und die Filmer nie selbst wirklich Morde ausführen.
Trotz der Zwiespältigkeit, die der Film nach sich zieht, ist er zumindest einmal sehenswert. Die Tatsache, dass man sich danach, wie hier geschehen, so seine Gedanken über dieses gesellschaftliche Tabuthema macht, zeugt nämlich von einer gewissen Ernsthaftigkeit, die dem Film zugrunde liegt. Ein spektakulärerer, effekthascherischerer Reißer wäre nur in Klischees ausgeartet, sodass sich eine Diskussion über den Inhalt wahrscheinlich erübrigt hätte. Keine Wertung.