Jekyll, Hyde und Jack The Ripper, oder man könnte auch sagen: The Good, The Bad and The Ugly, alle vereint in einer Person. Ein Film, der einen Raubzug durch die klassische Literatur- und Kriminalgeschichte begeht, ganz zugeschnitten auf die Karriere von Anthony Perkins. Der war einst federführend für eine Generation neuer, sensibler Schauspieler, mit denen die harten Hunde des alten Hollywood abgelöst wurden. Binnen dreißig Jahren hat das Studiosystem aus dem zarten Pflänzchen nun einen Fleischfresser gemacht. Wir befinden uns mitten im Spätwerk des Hauptdarstellers und dies ist einer der letzten kreativen Atemzüge, als die Hysterie eines verwirrten Geistes in blutunterlaufenen Wahnsinn zu zerfallen droht.
Wenn Perkins also nun in einem großzügigen Schlafsaal schweißgebadet aus einem Alptraum aufwacht und just in diesem Moment in seine Rolle inkarniert, könnte man meinen, das Jugendstil-Dekor um ihn herum und die Illusion eines London des 19. Jahrhunderts sei als Visualisierung seines Geisteszustands errichtet worden. Perkins, dieser Name ist nach wie vor auch ein Synonym für Norman Bates, egal wie sehr er sich zeitweise gegen diese Stigmatisierung gewehrt hat. Umschlossen von den letzten beiden Teilen der „Psycho“-Reihe (1986 und 1990), besiegelt „Edge of Sanity“ im Grunde Perkins’ Scheitern, sich von seiner Paraderolle zu lösen, lässt sich der rote Faden doch immer noch auf das Hitchcock-Original zurückführen. Rückblickend könnte man glatt zu dem Schluss kommen, die Rollen seither hätten den Schauspieler gespielt, nicht etwa der Schauspieler die Rollen.
Entsprechend willenlos fügt sich Perkins der Ausrichtung seiner Jekyll-und-Hyde-Doppelrolle, die durch die historischen Maßgaben schon klar definiert ist und nicht viel Interpretationsspielraum bietet. Was bleibt ihm auch anderes übrig, als sie vorlagengetreu umzusetzen. Immerhin wird ihm hier eine hundert Jahre alte Romanfigur vorgesetzt, bei der man nicht einmal mehr eins und eins zusammenzählen muss, um den Plan der Produzenten zu durchschauen: Perkins möge doch bitte noch einmal den Psycho aus dem Wandschrank holen. Man will dem Zuschauer schließlich eine schrille Freakshow bieten.
Und die bekommt der auch geboten. Schon der stimmungsvolle Prolog lässt erahnen, dass hier unter dem Getöse von Blitz und Donner eine mentale Zellteilung in Gang gesetzt werden soll. Ein kleiner Junge spielt da den jungen Jekyll, der seinen Vater in der Scheune beim Liebesspiel mit einer Frau (womöglich seiner Mutter?) erwischt. Durch das Verhalten der Beiden bekommt er ein Trauma fürs Leben verpasst. Wenn später Jekyll als genialer, aber unsicherer Doktor agiert, hat man den Jungen stets vor dem inneren Auge. In Perkins kann man diesbezüglich vollstes Vertrauen setzen, verbirgt sich hinter den Falten doch immer noch das Jungenhafte, das ihn für schizophrene Rollen wie diese prädestiniert. Bei Hydes Erscheinungsbild wird jedoch kräftig von außen mitgeholfen, gleichwohl die radikalen körperlichen Transformationen früherer Adaptionen vermieden werden: Eine Maske aus weißer Schminke, Lippenstift und roten Augenringen legt sich wie ein belichteter Film auf die verhärmte Leinwand des alternden Hauptdarsteller-Gesichts, das unter einem wirren Pony aus einzelnen Haarsträhnen so übertrieben teuflisch aus der Wäsche guckt, dass spätestens hier klar ist: Dieser Film hat kein glaubwürdiges psychologisches Profil im Sinn, er will den Leuten bloß eine gute Show bieten. Aller Maskerade zum Trotz: Das gelingt ihm leider nur bedingt.
Bei der optischen Ausgestaltung der Sets kann man zumindest von einem angriffslustigen Film sprechen, der seine Stilmittel so rücksichtslos auf die Leinwand presst wie ein Kind einen zerbröselnden Wachsmalstift aufs Papier. Die Kamera liegt stets auf der Lauer, wenn es darum geht, das Blickfeld eines geistig vernebelten Wahnsinnigen zu imitieren, während das Setdesign tüchtig mithilft. Es werden haufenweise Dutch Angles geboten, Doppelkonturen lassen die Realität verschwimmen, eine Fischaugen-Linse lässt Distanzen surreal erscheinen, einige Darsteller sprechen (oder lachen oder weinen oder schreien) direkt ins Bild und lassen die Grenze zwischen Hauptfigur und Zuschauer verschwimmen. Karge Flächen dienen in den großzügigen Hintergründen als Leinwände für das gespenstische Schattenspiel der Beleuchtung. Die Gemälde an der Wand sind schief aufgehangen, Treppengeländer wirken seltsam verdreht, riesige Vorhänge schweben von geisterhaften Luftzirkeln bewegt verdreht in der Luft. Dazu gesellen sich extreme Farbkontraste, wenn das Weiß einschlagender Blitze auf dunkle Ecken trifft.
Dass Regisseur Gérard Kikoïne ursprünglich aus der Pornobranche stammt, lässt er in einer Serie von voyeuristisch inszenierten Höhepunkten erahnen, in denen er seinen Star stets nutzt wie ein Instrument: je nachdem, welches Knöpfchen gedrückt wird, fährt der seine Fratze aus oder zieht sie wieder ein. Sein völlig überzeichnetes Spiel drückt eine Verzweiflung aus, die Erinnerungen an Bela Lugosis letzte Werke lebendig werden lässt, oder allgemein an jene großen Schausteller der 30er Jahre oder gar der Stummfilmzeit, die stets im Schatten ihrer überlebensgroßen Paraderollen gewandelt sind. Gewissermaßen könnte man sogar sagen, Perkins werde gedemütigt, wenn er in dem hungrigen Cape von Jack The Ripper durch Londons Gassen torkelt, um eine Prostituierte nach der anderen in einem ekstatischen Klimax mit dem Messer zu bearbeiten. Die Sets werden in diesen sich wiederholenden Abläufen verwendet wie die Themen in einem Erotikfilm, als Bebilderung sexueller Obsessionen und Fantasien; auf dem Dach eines Gebäudes beäugt von einem Spanner aus der anliegenden Wohnung etwa oder in einer schmutzigen Seitengasse umhüllt von Dunkelheit. Ein opulent ausgestatteter Club der Perversionen liefert als zentrales Setpiece sogar eine ganze Reihe rot ausstaffierter Fetisch-Szenerien, darunter eine Kreuzigung mit den Fesselspielen einer Nonne, ein Anblick, den selbst Hyde im inneren Zwiespalt mit sich selbst als „widerlich“ bezeichnet. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit wird der Darsteller mit fast dreidimensional ins Bild ragenden Brüsten konfrontiert, die sich ihm entgegenstrecken, ohne dass er direkt etwas mit ihnen anzufangen weiß, wird er doch unterschwellig als Opfer von Impotenz gezeichnet, das seinen finalen Stich stets dem Dolch überlässt. Abgesehen davon, dass die Frage aufgeworfen wird, wie ein verschwitzter, krank aussehender Mann wie Hyde als Magnet für solche Situationen fungieren kann, wirken die sexuell aufgeladenen Morde in letzter Instanz gleichermaßen relativ explizit (vielleicht eher im Kopf des Betrachters als tatsächlich auf dem Bildschirm) wie auch bieder in ihrer Darbietung, was zu manchem Fremdscham-Moment führt. In der Haut dieses Nachtmenschen, so viel steht fest, möchte man nicht stecken. Oder ist es der Schauspieler dahinter, mit dem man in dem Moment nicht tauschen würde?
Auf Dauer ermüdet die nächtliche Tour de Force leider, weil sich praktisch keinerlei Entwicklung in ihr abspielt. Die Verwandlung vom ängstlichen Hasen zum bleichen Monster ist stets mit einem schnellen Cut vollzogen, insofern hat man es auch nicht zwangsläufig mit einem gemächlichen Abdriften in die Abgründe der Schizophrenie zu tun. Die audiovisuellen Kniffe werden von Anfang an derart überbetont, dass eine weitere Steigerung kaum möglich ist. Es ist ohnehin schon anstrengend, einem nach „Clockwork Orange“ modellierten Tourguide wie der von Ben Cole gespielten Figur mehrere Nächte hintereinander in den Untergrund zu folgen; wenn der Tourist dann aber auch noch genauso wahnsinnig ist, wird alles redundant. Als Anker der Vernunft hätten sich die Szenen um Jekylls Frau Elisabeth (Glynis Barber) angeboten, diese allerdings bleiben in ihrem Ausdruck zu schwach und können sich nicht gegen den Irrsinn durchsetzen, der sich in Hyde the Rippers nächtlichem Treiben abspielt. Ansonsten bietet der Film noch einige sehr statisch gefilmte Sequenzen rund um die Ärztekammer und um die kriminalistischen Ermittlungen, diese eignen sich aber ebenfalls kaum für mehr als kurze Erholungspausen zwischen den Streifzügen.
Ein offenes Ende mit einem unheimlichen letzten Blick aus dem Fenster rettet noch einen Bonuspunkt, der am Gesamteindruck allerdings nicht mehr viel ändert: „Edge of Sanity“ ist ein Psychothriller, der alle Mittel, die ihm zur Verfügung stehen, hoffnungslos überdosiert. Dazu gehört neben den optischen Spielereien eben auch der Einsatz von Anthony Perkins, dessen schauspielerisches Profil bis zur letzten Gräte gnadenlos ausgeschlachtet wird. So wie man mit Mitleid auf einen Bela Lugosi blickte, der sich von Krankheit gezeichnet unter der Regie Ed Woods in Gummitentakeln wand, so blickt man auch auf den alternden Perkins, wenn er sich unter Kikoïne auf bizarre Messerspiele mit Prostituierten einlässt. Das verhindert den ungetrübten Spaß an einer kompromisslosen Over-The-Top-Performance, der von Drehbuch über Regie bis zur Ausstattung einfach alles unterworfen ist.