"Nee, kenn ich noch nicht!"
Allenthalben hört man diesen Satz, wenn zwei Filmfans diskutieren oder gar zwei Normalsterbliche ihre Erlebnisse austauschen.
Aber daß ich sage: "Nie gehört, nicht mal den Titel!", das verdient zumindest in meinen eigenen Augen schon mal ein spocksches Heben der Augenbraue.
"The Appointment", der Film, um den es ja hier geht - ist weder berühmt, noch sonderlich bekannt oder gar berüchtigt. Vermutlich kann man sogar mit einigem Fug und Recht behaupten, er sei ziemlich vergessen, selbst was Gruselfreunde angeht. Und wer ihn gesehen hat, weiß, das diese Kröte zwar Visionen macht, aber dennoch schwer zu schlucken ist.
Ein gängiges Vorurteil von "The Appointment" ist nämlich, daß es sich, nach einem furiosen Auftakt, um einen extrem öden Film ohne jegliche Überraschungen handelt, der sich überdies weder erklärt, noch irgendwelche Erklärungsansätze bietet.
Das kann man einerseits als Nachteil, andererseits als experimentelle Qualität sehen, denn Irritation im Kino ist heute schon ein seltenes Gut geworden.
Dabei beginnt der Film nicht nur reizvoll, er hat sogar einen der besten Starts aller Zeiten, denn die ersten vier Minuten sind nicht nur ziemlich unheimlich, sie erfüllen auch den Zweck eines gesunden Schlags in die Fresse, wenn ein kleines Schulmädchen einem Unbekannten zum Opfer fällt. Allein die Atmosphäre dieser Szenen, die auf einem ländlichen Waldweg stattfinden, genügt für ein herzhaftes Frösteln.
Anschließend macht der Film jedoch eine Mutation durch, die beim besten Willen nicht zu erwarten ist.
Das amtliche Voiceover (das die Untat zuvor übrigens bereits vorher angekündigt hatte, ohne etwas von ihrer Wirkung zu nehmen) informiert den Zuschauer darüber, daß drei Jährchen vergangen und die Behörden das Wäldchen eingezäunt haben, damit sowas nicht noch einmal vorkommt. Das Mägdelein namens Joanne, das jedoch außen davor hockt und sich mit einem Unbekannten/ etwas Unbekanntem unterhält, läßt jedoch Böses ahnen.
Die restlichen 85 Minuten des Films beschäftigen sich dann genau mit etwa 24 Stunden im Leben ihrer Familie und das ausgiebigst. Der zentrale Konflikt besteht darin, daß der Vater ("Equalizer" Edward Woodward) am kommenden Tag nicht zu ihrem Violinenkonzert kommen kann, weil er einen auswärtigen Arbeitsauftrag für einen Kollegen übernehmen muß. Nun hat Joanne zu ihrem Vater jedoch eine extrem enge, ja besitzergreifende Haltung und ein schon leicht verstörendes Verhältnis, was die Mutter gar nicht gern sieht.
In der Folge passiert für eine Nacherzählung im Film eigentlich nicht viel: das Mädchen quengelt, das Mädchen nervt, die Mutter schimpft, der Vater hat Mühe, den Einfluß abzuschütteln. In der Nacht haben Vater, Mutter und Tochter dann finstere Alpträume von einem schweren Unfall des Vaters, Hunde schleichen um und durch das Haus, mysteriöse Dinge passieren - und in der Folge nimmt dann der ersehnte Tag seinen Lauf.
Heißt soviel wie: wir behandeln hier einen Fall von Vorsehung und Hellsichtigkeit und unter Umständen spielt eine unbekannte Macht dabei eine Rolle, die für das Mädchen arbeitet oder von ihr beschworen wurde, zumindest aber mit ihr in Verbindung steht.
Nur: wirklich interessieren scheint das in diesem Projekt niemandem.
Weder werden Herkunft oder Ursprünge auch nur angerissen, noch wirkt dieses Element als wesentlich für den Plotverlauf.
Dieser wiederum scheint gängigen Sehgewohnheiten sowieso entgegenzulaufen, denn obwohl der Film eine kribblige Daueratmosphäre, vorzugsweise durch seine höchst wirksame Tonspur und seinen effektiven Score, aufweist, vermutet man hinter dem eher langgezogenen Geschehen eigentlich eine andere Absicht.
Die familiären Beziehungen, das Abhängigkeitsverhältnis, all das wird aber später auch wieder nicht ergründet, stattdessen ergeht sich der Film tatsächlich über 20 Minuten dem Ablauf der traumgeplagten Nacht, um dann den Filmrest auf die Reise des Vaters zu verwenden. Dabei wird der Kenntnisstand des Zuschauers zugunsten eines suspensevollen Sogs endlos gemolken, denn einiges trifft genauso so ein, wie geträumt, anderes zeigt sich verschlüsselt, wieder anderes scheint ein totales Mysterium zu sein, wie eine rätselhafte Parallelmontage zwischen dem Vater im Ersatzwagen und dem Automechaniker, der dessen eigentlichen Wagen reparieren will beweist.
Damit steht der Zuschauer ständig "on the edge", stetig haschend, ob es Gemeinsamkeiten oder Differenzen gibt, ob eine Pointe zu erwarten ist oder der Film sich als selbsterfüllende Prophezeiung genügt. Obwohl bisweilen wenig bis gar nichts geschieht - und das minutenlang - wird der Film zum visuellen und akustischen Suchspiel und dreht den Atmosphäreregler für Interessierte praktisch auf 11.
Wenn etwa der Vater versucht ist, seiner Tochter nach dem Zu-Bett-Schicken doch noch ein paar tröstende Worte zu sagen, steht er filmminutenlang vor deren Tür, ohne sich entscheiden zu können, den Türknauf zu ergreifen, während man drinnen die Tochter sehen kann, wie sie wissentlich versucht per Gedanken den Vater herein zu "lenken". Ähnliche Wirkung hat auf der finalen Autofahrt dann ein Frühstücksstopp auf einer Raststätte, währenddessen Woodward am Tisch sitzend minutenlang aus dem Fenster auf den Parkplatz starrt, während auf der Tonspur irritierende Quietsch- und Bremsgeräusche zu erahnen sind, die aber auch natürlichen Ursprung haben könnten oder eben seinen erträumten Autounfall prophezeien. Und stets, wenn die Geschichte kurz vor dem endgültigen Einfrieren ist, passiert etwas Unnatürliches oder Unheimliches und facht das Interesse wieder an, das Narrative als sadistisches Geduldsspiel.
Es bleibt ein totales Rätsel, was Regisseur (oder Regisseurin?) Lindsey C.Vickers mit diesem Film wirklich erreichen oder erzählen wollte, der sein/ihr einziges Filmwerk in abendfüllender Länge blieb, nachdem er/sie einen Gruselkurzfilm drei Jahre zuvor umgesetzt hatte. Die Manipulation von Erwartungen und Sehgewohnheiten vielleicht, ein Experiment an der Spannungsschraube, möglicherweise nur die Visualisierung einer fremdartigen, selbst erträumten Idee. Erklärungen gibt es keine, Motivationen werden nur unzureichend erklärt. Das Unausweichliche wird zu einer Geduldsprobe und der Zuschauer wähnt sich selbst in einem Traum, den die Figuren wiederum träumen, langsam, bedächtig, gefährlich, zerstörerisch.
Ich gebe zu, daß es leicht ist, diesen Film abzulehnen oder als langweilig abzutun, das Irritierende als störend zu empfinden, das Fehlen von Erklärungen als frustrierendes Element - möglicherweise auch der Grund für die abgebrochene Karriere des Filmemachers(-in), dennoch ist dieser Ritus des Hinhaltens unerklärlich hypnotisch und macht beim richtigen Publikum Lust, den Film gleich noch mal unter die Lupe zu nehmen, ob man nicht bei dieser Zeitlupenaufnahme eines Tages etwas Wichtiges übersehen hat.
Und wer sich das nicht antun will, weil Film nur unterhaltend und strukturiert erzählend sein soll, der gebe sich einfach die ersten vier Minuten und schalte dann aus - sie genügen als Eindruck mehr als so manches Hollywoodwerk mit Überlänge.
(8/10)