Vorsicht, Spoiler!
Marnie Edgar ist eine krankhafte wie erfolgreiche Diebin: Sie läßt sich als Sekretärin einstellen, erweist sich als zuverlässig, um dann im geeigneten Moment den Firmensafe zu knacken und auf Nimmerwiedersehen zu verschwinden. Diese Masche funktionierte bereits mehrere Male ausgezeichnet, doch als sie eines Tages unter neuem Namen eine weitere Arbeitsstelle findet, läßt sie sich von ihrem neuen Chef Mark Rutland, der sich schnell in sie verliebt hat, auf frischer Tat beim Stehlen ertappen. Er zwingt sie zur Heirat und versucht zu verstehen, warum Marnie all diese Diebstähle begangen hat...
Hitchcocks fünftletzter Film erhielt zu seiner Entstehungszeit z.T. erschütternde Kritiken, wurde von vielen gar als schauriger Tiefpunkt in der Karriere des Großmeisters angesehen. Meinungen, die ich ganz und gar nicht teile, denn nach wie vor zählt „Marnie“ für mich zu seinen fesselndsten und aufwühlendsten Werken.
Man kann diesem Drama auf keinen Fall die technische Schlampigkeit absprechen, die wahrscheinlich daraus resultiert, daß Hitchcock mit der Zeit das Interesse an der Geschichte verlor, was wiederum an seinem gespannten Verhältnis zu Tippi Hedren gelegen haben mag, mit der er zum Schluß kein Wort mehr wechselte, weil sie Hitchcock, der sich in sie verliebt und sie deshalb in ihrem Wohnwagen bedrängt haben soll (laut Donald Spoto), eine deutliche Abfuhr erteilte. Die Pappkulissen und Rückprojektionen sind deutlich als solche erkennbar (man denke dabei bloß an die Totalen von Mrs. Edgars Straße oder die Fuchsjagdszene) und zerstören gelegentlich die realistische Atmosphäre.
Auch Tippi Hedren macht nicht die glücklichste Figur: In ihren emotionalen Momenten reißt sie zwar weit die Augen auf und verzieht ihren Mund, aber wirklich abnehmen will man ihr das Schauspiel nicht. Das wirkt mitunter zu angestrengt, auch wenn sie sich sichtlich bemüht, das Optimum aus ihrer Rolle herauszuholen.
Davon abgesehen ist und bleibt „Marnie“ einer meiner Lieblings-Hitchcocks: Einen ganz großen Anteil hat Bernard Herrmanns einmal mehr beeindruckende Musik, die sich mir von Anfang an in den Kopf brannte - so sehr, daß sie mir immer mal wieder in den Sinn kommt, obwohl ich den Film längere Zeit nicht gesehen habe - und den Bildern eine besondere Faszination verleiht. Die orchestrale Begleitung ist beinahe erschlagend, man bekommt in stummen Szenen die Akkorde um die Ohren gehauen, daß man nicht umhin kommt, emotional aufgerüttelt zu werden.
Darüber hinaus ist die Geschichte an sich aufregend genug, wenn auch sehr dialoglastig. Man fragt sich, warum Marnie bei Erblicken der Farbe Rot zusammenzuckt, warum sie panische Angst vor Gewittern hat, warum sie in Träumen von unheimlichen Klopfgeräuschen geplagt, warum sie Geldschränke ausräumt - und warum sie es nicht ertragen kann, daß ein Mann sie anfaßt. Diesen Fragen geht ihr Ehemann Mark im Folgenden eigenwillig auf den Grund: Mal versucht er, behutsam auf Marnie einzuwirken, ein anderes Mal probiert er es mit Gewalt, fast mit Sadismus. Erst ganz zum Schluß soll sich herausstellen, daß ihre Ängste durch ein grausames Ereignis in der Kindheit hervorgerufen werden, das sie all die Jahre verdrängt hat. Bis dahin ist es ein weiter Weg: Marnie begeht einen Selbstmordversuch, begegnet auf einer Party einem ihrer alten bestohlenen Chefs - und muß ihr geliebtes Pferd töten, als es sich schwer verletzt. Kombiniert mit der Musik entstehen hier spannende wie dramatische Augenblicke, die unvergeßlich sind und „Marnie“ niemals langweilig werden lassen. So gibt es auch keine Szene in dem immerhin über zwei Stunden langen Film, die mir überflüssig erscheint.
Höchst interessante Bilder schuf Hitchcocks Stammkameramann Robert Burks. Die ganze Umgebung, in der Marnie lebt, ist farbarm und sehr grau. Um so stärker sticht dann als Kontrast das grelle Rot heraus, das Marnie in Angstzustände versetzt. Also ist es nur logisch, daß - ziemlich untypisch für den Regisseur, gerade erstaunlich nach dem nicht gänzlich witzfreien „Die Vögel“ - dem Film jeglicher Humor abhanden kommt. Kein Moment der Entspannung ist da, der Zuschauer wird in die trostlose Welt gesogen und findet erst wieder heraus, wenn der Abspann über den Bildschirm flackert.
Aufsehen erregte Hitchcock sicherlich durch die Szene, in der Mark Rutland seine frische Gemahlin auf der Flitterwochen-Kreuzfahrt vergewaltigt, die dies ungerührt in völlig apathischem Zustand mit sich geschehen läßt. Hitchcock war zwar Profi genug, die Szene ausgesprochen geschickt aufzubauen, so daß keine Probleme mit dem diesbezüglich schon 1963 sehr prüde auftretenden Zensur-Kommitee auftauchten, dennoch ist sie zweifelsohne für die Entstehungszeit sehr gewagt.
Zu den Schauspielern bleibt zu sagen, daß Sean Connery in der männlichen Hauptrolle ebenso ideal besetzt ist wie Diane Baker als seine Film-Schwägerin Lil und Martin Gabel als Sidney Strutt. Besonders intensiv und überzeugend agiert Louise Latham, die Marnies Mutter darstellt. Ein kurzes Wiedersehen gibt es auch mit Edith Evanson, der aufgeweckten Mrs. Wilson aus „Cocktail für eine Leiche“. Auch hier hat sie einen Gastauftritt als - allerdings schwerhörige - Putzfrau. Außerdem in einer winzigen Nebenrolle zu sehen: Bruce Dern.
Fazit: „Marnie“ ist ein von mir immer wieder gern gesehenes Psychodrama, das von der ersten Minute an stark fesselt. Trotz der stellenweise katastrophalen Kulissen und einer nicht sehr überzeugenden Leistung der Hauptdarstellerin wissen die hervorragenden tristen Bilder und vor allem die wieder einmal herausragende Musik von Bernard Herrmann zu gefallen. Hinzu kommt eine packende Geschichte, die ihren Höhepunkt in der verstörenden, in Brauntönen gehaltenen Kindheitserinnerung erreicht. 10/10.