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Wenige Jahre zuvor hatte Wojciech Has mit "Rekopis znaleziony w Saragossie" (1965) den großen Klassiker der phantastischen Literatur von Jan Potocki verfilmt - vermutlich das Werk von Has, das ihm am ehesten dazu veholfen hat, nicht völlig in Vergessenheit zu geraten, was nicht zuletzt auch der Popularität der Vorlage zu verdanken war. Mit "Sanatorium pod klepsydra" widmete er sich erneut einer Verfilmung phantastischer Literatur und knüpfte nun an eine Erzählung von Bruno Schulz an, die wie ihre Verfilmung zu Unrecht nur noch einer Minderheit bekannt ist.
Bei Schulz reist [Achtung: Spoiler!] der Protagonist der kurzen Erzählung einem Sanatorium entgegen, in dem sein eigentlich verstorbener Vater liegt; allerdings - da die Zeit an diesem Ort ausgehebelt ist - in einem schläfrigen Zustand zwischen Leben und Tod, dahinschreitend durch scheinbar real werdene Erinnerungen und verloren in einem Labyrinth aus Raum und Zeit, das sich auf unbegreifliche Weise immer weiter verschiebt. Auch der Sohn verirrt sich in dem Sanatorium, in dem er alle möglichen Räume und Zeiten durchlebt, bis er seinen Vater zurücklässt und flieht... allerdings erfolglos: die Rückreise im Zug nimmt kein Ende mehr, er selbst übernimmt die Identität des Eisenbahners der Anreise. Ob er sich bloß in anderer Gestalt in einer seiner Erinnerungen (an die Anreise) verloren hat und noch immer in den endlosen Räumlichkeiten des Sanatoriums verweilt, oder ob er selbst in den immer gegenwärtigen Vergangenheiten des Sanatoriums, die als "abgetragene", "löcherige", "wie erbrochene" Zeit beschrieben durchaus morbide wirken, den Schritt ins Jenseits getan hat und nun als neuer Eisenbahner und damit Fährmann des Todes seinen Vorgänger auf der Eisenbahn ablöst um andere Menschen zu geleiten, bleibt offen.
Die Erzählung, die sowohl in dem irritierenden Ineinandergreifen der Räumlichkeiten, als auch in dem seltsamen Sohn-Vater-Verhältnis (irgendwo zwischen sehnsüchtigem Hoffen auf gegenseitige Annäherung und hoffnungslosem Aneinander-Vorbeilaufen) ein wenig an Kafka erinnern mag (dessen "Der Prozeß" Schulz auch ins Polnische übersetzte), ist insgesamt trotz einiger bedrückender Motive und des aussichtslosen Schlusses deutlich weniger düster und beklemmend, wird durch Humor und schöne Erlebnisse spürbar aufgelockert.

Auch der Film, der sich weitestgehend an die Erzählung hält - es fehlt das Auftauchen eines hündischen Mannes, das den Protagonisten zur Flucht antreibt! -, sie aber mit Elementen aus anderen Geschichten von Bruno Schulz ausschmückt und (gelungen) streckt,[1] entbehrt nicht solcher Momente: auch hier ist die Stimmung mitunter heiter, die Situation für die Hauptfigur ungefährlich, ja angenehm, die Farbgebung hell und warm, die Tonkulisse lieblich. Aber wenn Has düstere Töne anschlägt, dann wirkt die Verfilmung weit hoffnungsloser, traurig-schwermütiger, melancholischer, entsetzlicher als die Vorlage. Der Film lässt dies schon anklingen, während die Titel ablaufen: noch bevor Joseph (so lautet der Name der Hauptfigur) das Sanatorium betritt und auf die sonderbar stille Krankenschwester und den rätselhaften Arzt stößt, welcher ihm die Funktionsweisen des Sanatoriums erklärt, bevor er wie im Buch vor den Kuchen und Törtchen des Esssaals steht (allesamt Szenen, die mit einer leicht surrealen Komik inszeniert werden, die den entsprechenden Stellen der Vorlage durchaus gerecht werden), zeigt Has die Anreise in einem düsteren, geräumigen Zug ohne jeden humoristischen Unterton zu einem dumpfen Dröhnen auf der Tonspur, in dunklen, bräunlich-gräulichen Farben und voller Todessymbolik, so dass der Zuschauer sich gleich zu Beginn auf einen bisweilen unangenehm düsteren Tonfall einstellen kann.

Die Todessymbolik dieser Szene liegt nicht nur in den wie leblos daliegenden, in den Sitzlehnen hängenden Fahrgästen, sondern auch der unwirklich am Fenster vorbeiziehende schwarze Vogel mutet wie ein Todesbote an (Vögel ziehen sich in Anlehnung an andere Geschichten von Schulz wie ein Leitmotiv durch den Film, scheinen aber nicht immer denselben symbolischen Gehalt zu besitzen), ebenso der Eisenbahner, der durch seine offensichtliche Blindheit stärker an das Motiv des Fährmanns herangerückt wird, indem er als Blinder nach literarischen Vorbildern sowieso bereits als ein Mittler der Unterwelt kenntlich gemacht worden ist[2] - und schließlich entrückt bereits das bewusst unstimmige Zusammespiel vom Zuginneren und am Fenster vorbeiziehenden Wolkenlandschaften diese Szene einer gewöhnlichen Realitätsebene. Und nicht zuletzt mag auch die Zugfahrt selbst - schon in der Vorlage ist der Zug bei der vermeintlichen Abreise des Protagonisten mit Unrat und Stroh gefüllt - Assoziationen an die Transporte im zweiten Weltkrieg wecken... was auf den ersten Blick freilich allzuweit hergeholt wirkt, mag etwas glaubwürdiger erscheinen, führt man sich vor Augen, dass Bruno Schulz 1942 in seiner Heimatstadt von der Gestapo erschossen worden ist und dass Has in seinem Film jüdischen Figuren erheblich großen Raum zuschreibt und ihr Judentum überdeutlich hervorkehrt, was in der Vorlage nicht der Fall war. So oder so ist in Literatur und Film des 20 Jahrhunderts die Zugfahrt als Todesmetapher zu finden: etwa in Johan Daisnes "De train der traagheid" (1948) und Andre Delvauxs Verfilmung "Un soir, un train" (1969), im Amicus-Episodenhorrorfilm "Dr. Terror's House of Horrors" (1964), oder in Fritz Leibers Erzählung "Belsen Express" (1975)...

Zwar wird der Holocaust niemals direkt angesprochen, aber dass Has vor dem Hintergrund der Ermordung des Autors der Vorlage durch die Nazis den Stoff um viele Auftritte einer jüdischen Gemeinschaft anreichert, wirkt insgesamt doch sehr zielgerichtet. (Womöglich spielt auch deshalb Jan Nowicki in der Hauptrolle, der zwei Jahre zuvor in Zulawskis damals überaus populären WKII-Drama "Trzecia czesc nocy" (1971) in der Hauptrolle brilliert hatte.) Die Ermordung von Schulz als ein Bestandteil der zahllosen Gräuel der Nazizeit lässt seine Geschichte über einen Schwebezustand als Übergang zwischen Leben und Tod, über eine Gegenwart aus durcheinandergewürfelten Vergangenheitsschichten in einem tragischeren Licht erscheinen und entsprechend grimmiger ist Has Verfilmung mehr als 35 Jahre später ausgefallen.

Umso eindeutig düsterer fällt auch das Ende bei Has aus: Joseph tritt auch hier am Ende in der Rolle des Eisenbahners auf, wird anders als bei Schulz ebenfalls als Blinder präsentiert - seine Rolle als neuer Fährmann des Todes wäre damit schon deutlich genug - und klettert in der letzten Einstellung aus einem der Gewölbe des Sanatoriums durch einen dunklen, erdigen Schacht auf einen alten Friedhof empor, auf dem in dunkler Nacht dutzendweise Kerzen flackern.

Inhaltlich also ist "Sanatorium pod klepsydra" eine Verfilmung von Motiven des gleichnamigen Erzählbandes von Bruno Schulz, wobei die gleichnamige Titelgeschichte hier am stärksten den roten Faden abgibt. Allen Vorlagen ist das Thema von individueller oder kollektiver Erinnerung gemeinsam, weshalb sich die verschiedenen Vorlagen - nicht zuletzt dank der Prämisse der Titelerzählung - zu einem homogenen Ganzen zusammenfügen. Aus der Perspektive von Wojciech Has, der das Schicksal des Autors und unzähliger jüdischer Zeitgenossen mit berücksichtigen kann - schiebt sich das Thema des Todes noch viel weiter in der Vordergrund und macht den Film auch zu einem tragischen Kommentar auf die Entstehungszeit der Vorlage.
Auf formaler Seite beeindruckt sein Film mit schier überbordener Phantasie, wenn es um die Ausstattung und den fließenden Wechsel der Kulissen geht. Neben surrealen Motiven wie von Luis Bunuel gibt sich der Film nahezu durchgängig so opulent wie etliche Filme von Terry Gilliam oder Fererico Fellini. In meist satten, immer sorgfältig eingesetzten Farben durchwandert der Protagonist unmerklich ineinander übergehende Orte: leere, verstaubte Kammern gehen riesigen Marktplätzen voraus, denen Urwälder folgen, die in gläserne Gartenhäuschen und schilfbewachsene Weiher übergehen - selten lassen sich diese Übergänge logisch erklären (darauf legen es Buch und Film ja auch an), aber nie wirken sie dabei unglaubwürdig, was auf den perfekten Schnitt und die unglaubliche Kameraarbeit von Witold Sobocinski zurückgeht, der sein Können schon in "Trzecia czesc nocy" bewiesen hat. Damit gerät "Sanatorium pod klepsydra" zu einer sogartig wirkenden Bebilderung einer Traumlogik, wie sie in der Filmgeschichte nur selten mal erreicht wird.
Wer mit eigenwilligeren Vertretern des europäischen phantastischen Films der frühen 70er Jahre generell auf gutem Fuße steht, ist mit "Sanatorium pod klepsydra" sicher gut beraten. Eine begleitende Lektüre der zugrundeliegenden Erzählungen (bei Fischer sind die drei Erzählbände "Sklepy Cynamonowe", "Sanatorium pod klepsydra" und "Kometa" vereint in dem Band "Die Zimtläden" zusammengefasst worden) ist sicherlich hilfreich, umso weit wie möglich die Orientierung zu behalten - denn etwas Sprunghaftes, Unzusammenhängendes bringt die Handlung ohnehin schon mit und gerade ohne Vorlagenkenntnis mag dies sicherlich dem einen oder anderen Zuschauer zu wirr erscheinen.

Gute 8/10 für eine originelle, atmosphärische und opulent in Szene gesetzte Perle des phantastischen Kinos.


1.) Vor allem "Das Buch" und "Der Frühling" werden eingearbeitet; letztere Erzählung recht umfangreich in der Szene mit den mechanischen Wachspuppen.
2.)
Vgl. dazu: Harry Merkle: Die künstlichen Blinden: blinde Figuren in Texten sehender Autoren. Königshausen und Neumann 2000.

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