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Der Roman „Mysterious Skin“ des US-amerikanischen Schriftstellers Scott Heims galt zunächst als unverfilmbar, bis sich der asiatisch/US-amerikanische Regisseur Gregg Araki („The Doom Generation“) an den Stoff heranwagte, der im Jahre 2004 in niederländisch-US-amerikanischer Koproduktion in die Kinos kam. Der Sommer des Jahres 1981 wird schicksalhaft für die beiden Achtjährigen Neil McCormick und Brian Lackey. Neils Sexualität erwacht, er spürt, dass er sich zum männlichen Geschlecht hingezogen fühlt. Sein Baseballtrainer nutzt dies aus, missbraucht den Jungen über einen längeren Zeitraum sexuell und gibt ihm dabei das Gefühl, nichts Falsches zu tun; Neil genießt die Zuneigung seines Idols. Der unsportliche Brian hingegen erwacht nach einem Zusammenbruch mit blutender Nase und kann sich nicht erinnern, was sich in den Stunden zuvor abgespielt hat. Er glaubt, von Außerirdischen entführt worden zu sein und widmet sein Leben als junger Erwachsener der Suche nach weiteren Entführungsopfern und seiner eigenen Vergangenheit. Neil verdingt sich währenddessen als sexuell äußerst freizügiger Strichjunge und zieht schließlich vom ländlichen Kansas in den Großstadtmoloch New Yorks. Brians Nachforschungen führen beide Jungen schließlich zusammen, die ganze Wahrheit über Brians Blackout offenbart sich durch sein Aufeinandertreffen mit Neil...

Lange Zeit verlaufen beide aus Sicht ihrer Protagonisten in Rückblenden erzählten Handlungsstränge parallel zueinander. „Mysterious Skin“ wirkt dabei gleichermaßen wie ein Jugenddrama und Science-Fiction-Film, bis sich im zugegebenermaßen recht vorhersehbaren Ende herausstellt, was es wirklich mit Brians (Brady Corbet, „Funny Games U.S.“) vermeintlicher Entführung auf sich hatte. Doch der Weg dorthin ist gespickt mit einem provokant offenen und selbstverständlichen Umgang mit den Themen Pädophilie, Homosexualität und Prostitution, der in erster Linie daraus entsteht, dass Araki den unbedarften Neil (Joseph Gordon-Levitt, „Halloween H20“) sein Leben aus seiner eigenen Sicht erzählen lässt. Schwer verdaulich ist dabei, dass Neil am Sex mit seinem Trainer tatsächlich Freude zu haben scheint. Durch seine seltsame Gefühlskälte und seinen sorglosen Umgang mit seiner Sexualität jedoch wird bald deutlich, dass mit ihm etwas nicht stimmt und die Ereignisse deutliche Spuren, Narben auf Seele und Herzen, hinterlassen haben. Ohne mit der Wimper zu zucken, lässt er sich von schmierigen, älteren Männern für seine sexuellen Dienstleistungen bezahlen, lässt sich erniedrigen und begibt sich schließlich auch in handfeste Gefahrensituationen, die nicht gut für ihn ausgehen. Bis zu diesem Punkt findet er jedoch rein überhaupt nichts dabei, sein Leben auf diese Weise zu führen und redet offen darüber, als handele es sich um einen Job als Zeitungsausträger. In welchem Ausmaße hierfür ein gestörtes Verhältnis zur Sexualität verantwortlich ist, dessen Grundstein in seiner Kindheit, der er beraubt wurde, gelegt wurde, erschließt sich dem Zuschauer nach und nach, ohne die Zusammenhänge mit erhobenem, lehrerhaftem Zeigefinger präsentiert zu bekommen. Das ist nicht nur mutig, sondern wirkt auch erst einmal stark irritierend bis verstörend, wenngleich nichts glorifiziert wird. Die ungewohnte Art, wie diese Themen behandelt werden, vermag insbesondere konservative Kreise zu entsetzen.

Auch Brian ist für sein Leben traumatisiert, doch bei ihm hat ein Verdrängungsmechanismus eingesetzt, den er verzweifelt und unnachgiebig zu überwinden versucht. Obwohl sie den gleichen Trainer hatten, wiesen Brians und Neils Leben scheinbar keine Parallelen auf, bis es endlich zum Treffen der beiden Jugendlichen kommt. Beide sind total entgegengesetzte Charaktere: Brian ist optisch der Typ „Klassenstreber“ und ein sensibler, zerbrechlich anmutender Gefühlsmensch, der unter seinem herrischen Grobian von Vater zu leiden hatte, mit dem er gebrochen hat, während Neil sich extrovertiert zahlreichen Exzessen hingibt und seine gebrochene Seele unter einer abweisend-coolen, hedonistischen Fassade erfolgreich verbirgt. Beiden gemein ist eine Entfremdung von der Welt der Erwachsenen. Brians Wege zu Neil führen über Ufo-Forschung und ein aufdringliches weibliches Entführungsopfer in Neils Freundeskreis; erst als Neil aus New York nach Hause kommt, um seine Mutter zu besuchen, kommt es zum lange herbeigesehnten Treffen.

Die totale, antimoralistische Offenheit des Films erinnert bisweilen an „Kids“, wobei „Mysterious Skin“ aber weniger Milieustudie als intensive Beleuchtung zweier Einzelschicksale ist. Araki taucht diese gern in grelles Ambiente und beherrscht die Ästhetisierung von Oberflächlichkeiten ebenso wie die mit voranschreitender Laufzeit zunehmenden leiseren Töne und die auch für Neil immer deutlicher als solche erkennbar werdenden Härten des Lebens – zwei junge Menschen stoßen bereits an ihre Grenzen und drohen auszubrennen, wenn andere mit weniger bewegter Vergangenheit gerade erst aufblühen. Neben dem hervorragend eingefangenen Schick der jeweiligen Epoche sind es aber allen voran die Schauspieler, die zu begeistern wissen und entschieden zum Funktionieren des Films beitragen: Sowohl die Neil und Brian als Achtjährige darstellenden Kinder als auch ihre jugendlichen Äquivalente spielen mit einer Glaubwürdigkeit und Intensität, die fast schon erschreckt und ihresgleichen sucht. Welche Ausstrahlung und Ausdrucksstärke Araki aus ihnen herauskitzelt, zeugt von einem großen Verständnis für die Arbeit mit Kindern und Jungdarstellern sowie für die sensible Thematik. Diese Schauspieler sind es, die „Mysterious Skin“ sein Gesicht geben, das sich vermutlich lange im Gedächtnis festsetzen wird, mit dem man den Film assoziieren wird: Eine Collage aus der Mimik von Kindern und Jugendlichen, die Unfassbares erfahren, Unfassbares durchleben und Unfassbares tun, innerhalb einer doppelmoralischen Gesellschaft, die die Täter einerseits ächtet, andererseits aber kaum versteckt sich nur allzu gern an jemandem wie Neil auslässt, auf welche Weise auch immer.

Dass es ausgerechnet ein muskulöser Baseballtrainer mit kräftigem Schnauzbart, zu dem die Eltern ihre Kinder wie im Falle Brians gern schicken, damit sie etwas von seiner „Männlichkeit“ abbekommen, ist, der nicht nur homosexuell, sondern auch noch pädophil veranlagt seinen Trieben freien Lauf lässt, ist die Dekonstruktion eines Männlichkeitssymbols und ein heftiger Tritt gegen die vermeintlich heile Welt US-amerikanischer Kleinstädte. Ein Sakrileg für so manchen, in überholten Vorstellungen von Geschlechterrollen Gefangenen, für sicherlich jeden Zuschauer aber in erster Linie ein Film, den man erst einmal sacken lassen muss, dessen direkte Art und fast vollkommener Verzicht auf Sentimentalität eine mit den bunten, schönen Bildern kontrastierende Schroffheit an den Tag legt, die bei genauerer Überlegung hervorragend zur inhaltlichen Härte passt. Ein absolut sehenswertes, in seiner Ehrlichkeit einzigartiges Drama, in dem sich insbesondere Gordon-Levitt als Darsteller hervortut und eine unvergessliche, ihm viel Abverlangende Leistung abliefert. Keinesfalls richtet sich „Mysterious Skin“ vornehmlich an eine homosexuelles Publikum; Araki war weise genug, seinen Film nicht in seiner Zielgruppe zu beschneiden.

Am Ende ist Brian an seinem „Ziel“ angekommen; wie es für beide weitergeht, erfährt man nicht. „Mysterious Skin“ bietet keine Lösung an – welche sollte das auch sein? Ich weiß es nicht und bin trotzdem sehr angetan.

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