Ein Liebeslied aus Blut und Tränen
ELFEN LIED von Mamoru Kanbe
nach einem Manga von Lynn Okamoto
Japan 2004
Vorsicht, die folgende Kritik enthält Inhaltsangaben, die man als SPOILER interpretieren könnte!
Ich bin ganz gewiss kein ausgewiesener Anime-Liebhaber, muss aber mittlerweile einräumen, dass sich in diesem Genre immer wieder Perlen von seltenem Wert finden lassen. Zu den außergewöhnlichsten und wertvollsten darunter zählt ohne jeden Zweifel die hier besprochene dreizehnteilige TV-Serie.
Als der Japaner Lynn Okamoto Ende 2003 die ersten Bände seines umfangreichen Mangas Elfen Lied veröffentlicht hatte, konnte deren filmische Umsetzung offenbar gar nicht schnell genug erfolgen. Bereits im Juli 2004 startete der in Tokio ansässige Satellitenkanal AT-X die Erstausstrahlung der gleichnamigen Serie, welcher in etwa die ersten 60 Kapitel des Buches zugrunde liegen. Erst über ein Jahr später erschien der Abschlussband des insgesamt 107 Kapitel umfassenden Mangas.
Was in diesem Fall nicht lange währte, wurde trotzdem gut: Elfen Lied ist nicht nur ein Vorzeigeobjekt des Genres, sondern ein Ausnahmewerk, das niemand, der willens und fähig ist, sich darauf einzulassen, jemals vergessen wird.
INHALT & KRITIK: Die Menschheit hat eine neue und ziemlich beunruhigende Stufe ihrer Evolution erreicht: Zumindest in Japan (wo sonst ...) werden immer mehr Mädchen geboren, die sich durch einige anatomische Besonderheiten auszeichnen und (auch im Plural) Diclonius genannt werden. Rein äußerlich fallen sie lediglich durch zwei kleine und eigentlich recht niedliche Hörner am Kopf auf, welche sehr stark an Katzenohren erinnern. Wesentlich gravierender ist der Umstand, dass sie im Kleinkindalter zumeist vier unsichtbare, mitunter mehrere Meter lange telekinetische Arme ausbilden, die sie bei Bedarf aus ihrem Rücken „ausfahren" können. Diese sonderbaren Extremitäten, die als Vektoren bezeichnet werden, verfügen über eine gewaltige Kraft und können hochfrequent schwingend und mit enormer Geschwindigkeit bewegt werden. Da sie auf diese Weise in der Lage sind, selbst härtestes Material mühelos zu durchtrennen, bergen sie natürlich ein erhebliches und unberechenbares Gefahrenpotenzial. Besonders fatal ist, dass sie von ihren Besitzerinnen auch tatsächlich gern als vernichtende Waffe gegen die Vertreter des Homo sapiens eingesetzt werden. Neben ihrer tödlichen Sofortwirkung haben die Vektoren zudem eine Fortpflanzungsfunktion, denn wer das Glück hat, von ihnen nicht umgehend zerteilt, sondern nur berührt zu werden, dessen fortan gezeugten Nachkommen tragen ebenfalls die Merkmale der Diclonii (so will ich sie dann doch lieber nennen). Die menschliche Gesellschaft sieht also einer höchst ungewissen Zukunft entgegen.
Angesichts dieser Bedrohung weiß man sich nicht anders zu helfen, als die betreffenden Mädchen sofort nach ihrer Geburt zu töten. Nur wenige von ihnen werden in ein geheimes, auf einer Insel gelegenes Forschungsinstitut gebracht, wo sie grausamen Untersuchungen ausgesetzt sind und unter strengsten Sicherheitsvorkehrungen ein Dasein fristen, gegen welches das Leben von Laborratten eher gemütlich erscheint.
Dummerweise ergibt es sich aber, dass diese Sicherheitsvorkehrungen eines Tages nicht mehr ausreichen, um eine besonders gefährliche und denkbar schlecht gelaunte Mutantin namens Lucy noch länger unter Kontrolle halten zu können.
An dieser Stelle beginnt der Film.
Der etwa sechzehnjährigen Lucy gelingt es, sich aus ihrer Fixierung innerhalb eines Metallkäfigs zu befreien. Die weiträumig angeordneten Gitterstäbe dieser Schutzeinrichtung bereiten ihr danach ebenso wenig Probleme wie das heraneilende Wachpersonal, denn die Kugeln, welche die Männer auf sie abfeuern, kann sie dank ihrer Fähigkeiten mühelos ablenken beziehungsweise aufhalten. Ohne jedes Zögern macht sich das nur mit einem Helm bekleidete Mädchen daran, in den sterilen Räumen des Instituts ein regelrechtes Schlachtfest zu veranstalten. Nachdem sie mit ihren Vektoren so ziemlich jeden dahingemetzelt hat, der ihr absichtlich oder ungewollt über den Weg gelaufen ist, gelingt ihr durch einen offen stehenden Notausgang die Flucht in Richtung Meer. Ein Scharfschütze, welcher das Massaker überlebt hat, sendet ihr noch ein panzerbrechendes Geschoss hinterher, das sie am Kopf streift und ihren Helm zerstört. Lucy stürzt die Steilküste hinab und landet im Wasser.
Einige Zeit später wird sie anderenorts an Land gespült und von zwei jungen Leuten gefunden. Es handelt sich um den Studenten Kota (oft auch Kohta geschrieben) und seine etwa gleichaltrige Cousine Yuka, die sich gerade zum ersten Mal seit vielen Jahren getroffen haben, da Kota beabsichtigt, in eine leer stehende Herberge einzuziehen, welche Yukas Eltern gehört.
Das orientierungslose nackte Wesen mit den langen rosaroten Haaren und den kleinen Hörnern, das die beiden am Strand vorfinden, hat jedoch nichts mehr mit der eiskalten Furie zu tun, die gerade noch im Forschungsinstitut gewütet hat. Durch den Treffer des Scharfschützen wurde sie äußerlich zwar nur leicht verletzt, erlitt aber offensichtlich einen psychischen Defekt, der sich in einer massiven Persönlichkeitsstörung äußert. Nunmehr scheint sie sich auf dem geistigen Niveau eines Kleinkindes zu befinden und kann nicht einmal mehr sprechen. Lediglich ein nicht gerade aussagekräftiges „Nyu!" gelingt ihr hin und wieder.
Während Kota und Yuka noch über ihre neue Bekanntschaft staunen und beschließen, sie mit in die Herberge zu nehmen, organisiert man an höherer Stelle bereits die Verfolgung von Lucy. Man setzt eine Spezialeinheit unter Leitung des psychopathischen Söldners Bando ein, um die Entkommene aufzuspüren und zu töten.
Dass zumindest Letzteres nicht so einfach ist, wie es zu diesem Zeitpunkt scheint, wird sich bald herausstellen. In außergewöhnlichen Situationen oder bei Gefahr verwandelt sich nämlich das gutmütige Geschöpf, das inzwischen in Anlehnung an seinen sehr übersichtlichen Wortschatz „Nyu" genannt wird, sehr schnell wieder in die kreuzgefährliche Lucy, gegen die man mit herkömmlichen Methoden auf verlorenem Posten steht. Und so mangelt es in der Folge nicht an schicksalhaften Begegnungen und dramatischen Ereignissen. Weitere Figuren werden eingeführt, Rückblenden legen verborgene Zusammenhänge, Hintergründe und Handlungsmotive frei und fast unvermeidlich fließen noch oft, sehr oft Blut und Tränen ...
Elfen Lied ist kein Kindermärchen: Daran, dass hier immer wieder Menschen einschließlich gehörnter Mädchen auf ziemlich humorlose Weise in ihre Einzelteile zerlegt werden, muss man sich gewöhnen. Feingeister und Zartbesaitete dürften sich schon bei der ultrabrutalen Eröffnung entsetzt abwenden. Im Dutzend fliegen unsanft abgetrennte Arme, Beine und Köpfe durch die Gegend, Kugelschreiber verwandeln sich in schädeldurchdringende Wurfgeschosse, ein Herz wird buchstäblich herausgeboxt und das Blut spritzt kübelweise bis zur Decke, wobei man zunächst noch nicht einmal weiß, warum das eigentlich so ist, da man Lucys Vektoren nicht sehen kann. Und selbst wenn man meint, sich auf derartige Gewaltausbrüche eingestellt zu haben, wird man noch häufig genug mit offenem Mund dasitzen und nicht so recht glauben wollen, was da gerade passiert ist. Das Schockierende daran ist weniger die grafische Darstellung (es ist einfach so, dass gezeichnetes Blut nicht die gleiche Wirkung hat wie echtes), sondern vielmehr die Konsequenz, mit welcher in solchen Momenten bis zum Äußersten gegangen wird.
Daneben gibt es vor allem in den ersten Episoden ein paar recht merkwürdig und deplatziert anmutende Szenen, in denen man sich über selbstzweckhaft präsentierte nackte Haut und einige unmissverständliche Anzüglichkeiten wundern darf. Wer sich allerdings auf ein umfangreiches Etchi-Spektakel (wie es in manchen Rezensionen suggeriert wird) freut, kann sich gleich wieder beruhigen – das Ganze bleibt immer harmlos. Die besagten Szenen sind lediglich ein wenig irritierend und sollten weder für Puritaner noch für krankhaft hormongesteuerte Mitbürger ein ernsthafter Grund zur Erregung sein.
Wenn man nun in der Lage ist, die reichlich realitätsferne Ausgangsidee, exorbitante Blutmengen und gelegentlich ein paar unbekleidete minderjährige Mädchen zu akzeptieren, darf man sich freuen. Es wird nämlich sehr bald deutlich, dass der Inhalt der Serie keinesfalls auf ihre berüchtigten Gewaltszenen und etwas Fanservice reduziert werden kann, sondern sich vielmehr in Form einer mitreißenden und erstaunlich komplexen Geschichte darstellt, in der es um nicht weniger als Ausgrenzung, Verlust, Hass, Eifersucht, Verrat, Rache, unerfüllte Liebe, Schuld und Vergebung, Aufopferung, sogar Kindesmissbrauch und nicht zuletzt das Überleben der Menschheit in ihrer bestehenden Form geht. Das ist eine Menge Stoff. Schwerer Stoff, aber Elfen Lied ist nun mal keine weichgespülte Familienunterhaltung für das Sonntagvormittagsprogramm. Es ist ein ebenso kompromissloses wie todtrauriges und zutiefst bewegendes Werk, das trotz seiner transparenten Struktur und einer fast kindgerechten Optik ausschließlich für ein reifes Publikum konzipiert wurde.
In Anbetracht der genannten Themen verwundert es nicht, dass das Geschehen nach einigen ruhigen Passagen, die vor allem der Einführung der Charaktere dienen, überaus tragische Züge annimmt. Besonders die Diclonii haben dabei herzlich wenig zu lachen.
Im Zentrum der Handlung steht Lucy (beziehungsweise Nyu), die Elfe, wie sie im ersten Kapitel des Mangas vorgestellt wird. Ausgegrenzt und anhaltenden Demütigungen unterworfen verbrachte sie ihre Kindheit in einem Heim, wo jene schmerzhafte, von Zweifeln und innerer Zerrissenheit geprägte Entwicklung zur erbarmungslosen Rachegöttin, die ihren Hass auf die Menschen nicht mehr unter Kontrolle hat und selbst Unschuldige in Stücke reißt, ihren Ausgang nahm. Ihre sozialen Kontakte führten fast ausnahmslos zu Enttäuschungen und traumatischen Erlebnissen. Nur ein einziges Mal durfte sie ehrliche Zuneigung erfahren, doch gerade diese wenigen Momente des Glücks mündeten in einer Katastrophe, deren Folgen nicht mehr zu kompensieren sind.
Daneben lernt man die bedauernswerte Nana kennen, die den Wissenschaftlern von Geburt an als Versuchskaninchen dienen musste und ungeachtet ihrer vollkommen friedlichen Veranlagung immer wieder in den gewaltsamen Konflikt zwischen Menschen und Diclonii hineingezogen wird, wodurch sie mehr als einmal vor allem körperlich entsetzlichen Schaden nimmt.
Später begegnet man schließlich der kleinen und unberechenbaren Mariko, welche in völliger Isolation und Dunkelheit im Forschungsinstitut dahinvegetiert, bereits einen völlig verkümmerten Bewegungsapparat hat und nur auf eine Gelegenheit wartet, ihre besonders stark ausgeprägten und zahlreichen Vektoren gnadenlos einsetzen zu können.
Als würden vor allem die Forscher diesen Mädchen nicht schon genug zusetzen, geraten sie auch wiederholt in Situationen, in denen sie gegeneinander kämpfen müssen, was angesichts ihrer abnormen Physis stets ausgesprochen ungesunde Folgen hat.
Aber auch die Vertreter der herkömmlichen menschlichen Spezies haben ihre Sorgen: Kota hat den noch immer nicht eindeutig aufgeklärten Verlust seines Vaters und seiner kleinen Schwester zu verarbeiten, während Yuka darunter leidet, dass ihre tiefen Gefühle für Kota nicht im erhofften Maß erwidert werden. Neben ihnen spielen zwei weitere Personen tragende Rollen: Mayu, die von ihrem Stiefvater missbraucht wurde, von zu Hause ausriss und ein erbärmliches Leben als Straßenkind führt, sowie der leitende Wissenschaftler des Forschungsinstituts, Doktor Kurama, der zum Opfer seiner fragwürdigen Tätigkeit wird und sich eines Tages mit der Notwendigkeit konfrontiert sieht, seine eigene Tochter zu töten. Leid also, wohin man auch schaut.
Damit das Werk unter dieser Last nicht zusammenbricht, wird zumindest in den ersten und mittleren Episoden auch für ein paar heitere Momente gesorgt, vor allem durch die immer wieder von Missgeschicken begleiteten Aktivitäten der unbeholfenen Nyu. Es gibt diese Momente nicht gerade im Überfluss, aber sie verhindern immerhin den bisweilen drohenden Absturz in die vollkommene Trostlosigkeit. Darüber hinaus nutzt der Anime die Möglichkeiten der filmischen Darstellung, um seine eher ruppige Vorlage ein wenig zu glätten und durch den Einsatz von Musik und Farben sehr gefühlvolle, oft von einem weichen und warmen Licht getragene Szenen entstehen zu lassen, die gleichsam als Ruhepunkte im Strom der schwerwiegenden Ereignisse dienen. Nicht zuletzt ebnet die Handlung begrüßenswerterweise auch einigen der genannten Personen einen Ausweg aus ihrer freudlosen Situation.
Die große Stärke des Films liegt darin, dass es ihm gelingt, all die angesprochenen, durchaus widersprüchlichen Aspekte zu einem faszinierenden Ganzen zu verdichten. Hier passt zusammen, was eigentlich gar nicht zusammenpassen kann. Das verbindende Glied ist die Geschichte selbst, die nie aus den Augen verloren wird und die Extreme braucht, um in der gewünschten Weise zu funktionieren.
Elfen Lied will nicht vordergründig intellektuell herausfordern, moralisieren, mit kühl berechneter Wichtigtuerei blenden oder durch visuelle Manierismen auffallen, sondern konzentriert sich ganz auf die emotionale Wirkung dessen, was sich Stück für Stück vor dem Auge des Betrachters ausbreitet. Daher wird zunächst ausreichend Zeit eingeräumt, um die wichtigsten Personen eingehend vorzustellen, wobei angenehm auffällt, dass sich diese in den meisten Fällen absolut nicht in das übliche, bequeme Gut-Böse-Schema einordnen lassen. Geradezu exemplarisch zeigt sich das bei der Hauptfigur, deren Charakter immer wieder einem dramatischen Wandel von der liebenswerten Nyu zur todbringenden Lucy und umgekehrt unterzogen ist. Gerade diese Ambivalenz trägt aber ganz wesentlich dazu bei, dass die Handelnden in den meisten Fällen interessant und auch glaubwürdig sind und der Zuschauer erwartungsvoll an ihrem Schicksal Anteil nimmt. Ferner sorgen die differenzierten Charaktere dafür, dass die Geschehnisse zu keinem Zeitpunkt wirklich vorhersehbar sind. Nur eins weiß man schon seit der Eröffnungssequenz: Hier ist alles möglich, und wenn es hart auf hart kommt, werden keine Gefangenen gemacht. Auf dieser Grundlage entwickelt die Serie eine fast unbeschreibliche Sogwirkung, der man sich von Minute zu Minute schwerer entziehen kann. Gerade am Ende der Episoden werden immer wieder zusätzliche Spannungsmomente geschaffen, sodass man sich mitunter fast gewaltsam aus dem Bann der Ereignisse lösen muss. Und wenn der letzte Abspann vorüber ist, dürfte jeder, der sich ein Mindestmaß an Gefühlen nicht verbieten kann, für längere Zeit aufgewühlt und erschüttert zurückbleiben.
Wie tief sich Elfen Lied in die Gedankenwelt des Betrachters eingraben kann, wird so manchem vielleicht erst viel später bewusst, wenn die Erinnerung an das Gesehene auch nach Tagen nichts von ihrer Lebendigkeit verliert, wenn die ergreifenden und verstörenden Bilder der Serie einfach nicht verblassen wollen, sich immer wieder wie ein Schleier über die nüchterne Gegenwart des Alltags legen.
Im Gegensatz zu vielen anderen Rezensenten empfinde ich das Ende des Animes übrigens als ausgesprochen gelungen. Dass man diesen mehr als fünfstündigen schonungslosen Exkurs in wahrhaft unheilvolle Gefilde nicht mit einem plötzlich aus dem Hut gezauberten Happyend abschließen kann, dürfte unumstritten sein. Andererseits ist ein Hoffnungsschimmer unentbehrlich, denn noch mehr Tragik und Elend hätten wohl aufgesetzt und übermäßig kalkuliert gewirkt. Die gewählte Variante trägt diesen Gesichtspunkten Rechnung: Mit dem Statuswechsel zweier wichtiger Symbole wird ein neuer Abschnitt im Leben derer, die mit heiler Haut davongekommen sind, eingeleitet. Ein Abschnitt, in dem genügend Raum für eine Zukunft fernab der erlebten Schrecken zu bleiben scheint – auch wenn der herrschende Entspannungszustand nach Lage der Dinge noch immer trügerisch genug ist.
Dass am Ende nicht alle im Verlauf des Geschehens aufgeworfenen Fragen beantwortet werden, muss keineswegs als Manko gewertet werden. Zunächst ist ein gesundes Maß an Interpretationsspielraum in jedem Fall sehr anregend, und darüber hinaus verlieren einige Handlungsfäden gegen Ende zumindest so viel an Bedeutung, dass ihre Auflösung nicht mehr zwingend notwendig erscheint. Beispielsweise rückt die globale Bedrohung durch die Diclonii mit der Zeit deutlich in den Hintergrund. Aber wenn man in den letzten Episoden intensiv mit den Hauptfiguren mitfiebert und mitleidet, dann ist das Schicksal der restlichen Menschheit in der Tat eine vergleichsweise unbedeutende Randnotiz, an der man kaum noch ein nennenswertes Interesse entwickelt. Letztendlich werden die Handelnden selbst und ihre Beziehungen zueinander zum zentralen Thema der Serie. Es geht um konkrete Personen, ob gehörnt oder nicht, die um ein würdevolles Leben und die Verwirklichung ihrer Träume kämpfen, wenngleich diese Bemühungen in manchen Fällen von Anfang an zum Scheitern verurteilt sind. Mögen auch noch so viele abgetrennte Arme, Beine und Köpfe durch die Luft fliegen, im Kern bleibt Elfen Lied ein zutiefst menschliches, fast sensibles Werk über das Streben nach Zuneigung und Liebe in einer Welt, die sich oft genug als feindselig erweist. Vor Kitsch muss man sich dabei allerdings nicht fürchten: Der Film behandelt seine schwierigen Themen weitgehend rational, und jedes sich andeutende Übermaß an Rührseligkeit wird sehr schnell und gründlich von einer neuen Welle aus Blut hinweggespült. Damit schließt sich der Kreis.
Die nicht umfassend abgeschlossenen Handlungslinien können übrigens auch als Hinweis darauf verstanden werden, dass sich die Verantwortlichen schon im Vorfeld Gedanken über eine mögliche Fortsetzung beziehungsweise zweite Staffel der Serie gemacht haben. Verwertbaren Stoff böte der Manga noch zur Genüge, auch wenn die vorliegende Verfilmung in den letzten Episoden recht deutlich von ihrer Vorlage abgewichen ist. Anknüpfungspunkte ließen sich aber ohne Mühe finden.
Damit aber des Lobes noch nicht genug: Uneingeschränkte Anerkennung verdient der grenzgeniale Score von Kayo Konishi und Yukio Kondou, der sowohl die melancholischen als auch die düsteren Momente des Films eindrücklich unterstreicht. Eine herausragende Stellung nimmt das sakrale Titel- und Leitthema „Lilium" ein, dessen feierliche Erhabenheit den Betrachter schon während des Vorspanns tief in die Welt des Films hineinzieht. Im krassen Gegensatz dazu steht Chieco Kawabes vergleichsweise quietschvergnügter Popsong „Be Your Girl", der den Abspann begleitet und nach den atmosphärisch dichten Szenen am Ende der Episoden mitunter wie ein kräftiger Schlag auf den Hinterkopf wirkt, gleichzeitig aber die Rückkehr in die Realität ganz erheblich erleichtert.
Auch die technische Umsetzung der Serie gibt keinen Anlass zum Klagen. Zeichnungen und Animation werden Kennern des Genres sicherlich keine spontanen Begeisterungsrufe entlocken, entsprechen aber fraglos gehobenem Standard. An manchen Stellen wirken die Bilder ein wenig schlicht, an anderen wiederum fallen sehr schöne, detailreiche Hintergründe auf. Das Charakterdesign bewegt sich fast ausnahmslos auf höchstem Niveau, während die Farbgebung vorwiegend kräftig ist und angesichts der düsteren Grundstimmung des Werks überraschend freundlich wirkt. Bemerkenswert sind die Hintergrundzeichnungen des Vorspanns, die einigen bekannten Gemälden aus der goldenen Periode des österreichischen Malers Gustav Klimt (1862–1918) nachempfunden sind. So sieht man beispielsweise mit Figuren des Animes versehene Variationen der Werke Adele Bloch-Bauer I, Der Kuss, Die Erfüllung oder (während des Abspanns) Danae.
Auch Lynn Okamoto selbst ließ sich übrigens von Kunst aus dem deutschsprachigen Raum inspirieren: Das titelgebende Gedicht Elfenlied stammt von Eduard Mörike (1804–1875) und wurde 1888 vom Wiener Komponisten Hugo Wolf (1860–1903) vertont. Dieses Gedicht beziehungsweise seine Vertonung spielt am Ende des Mangas eine maßgebliche Rolle. Im Anime, dessen Episoden interessanterweise auch im japanischen Original deutsche Titel haben, wird nicht darauf eingegangen.
An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass es neben der dreizehnteiligen Serie noch eine vierzehnte Episode gibt, die den Titel Regenschauer trägt und im April 2005 als OVA veröffentlicht wurde. Dabei handelt es sich nicht um eine Fortsetzung, sondern um die Darstellung von Ereignissen, die sich zeitlich zwischen der zehnten und elften Episode einordnen lassen.
Diese zusätzliche Folge handelt vorwiegend von Nanas kläglichen Versuchen, sich im Haushalt der Herberge nützlich zu machen und ihrer Beziehung zu Lucy beziehungsweise Nyu. Ferner gibt es einen Rückblick, welcher die Umstände schildert, unter denen Lucy einst in die Hände der Forscher gelangte.
Wirklich wichtig ist das alles freilich nicht, weshalb sich der Sinn dieses Nachtrags, der auch durch einige zeichnerische Besonderheiten und teilweise ungewohnt fröhliche Musik ziemlich fremdartig wirkt, nur mühsam erschließen will. Man kann sich also getrost mit den regulären dreizehn Teilen begnügen, welche einem klaren und abgeschlossenen Konzept folgen und eine Ergänzung der vorliegenden Art nicht brauchen. Vorbehaltlose Anhänger der Serie werden natürlich über jede zusätzliche Minute, die sie mit den liebgewonnenen Figuren verbringen können, mehr als dankbar sein.
Erfreulicherweise können interessierte Filmfreunde die Serie auch hierzulande mühelos auf DVD erwerben, was allerdings zu spürbaren Abmagerungserscheinungen des Geldbeutels führt. Immerhin ist man inzwischen nicht mehr gezwungen, über einhundert Euro in die zuerst veröffentlichten vier Einzel-DVDs zu investieren, sondern kann auf verschiedene kontofreundlichere Gesamtausgaben zurückgreifen. Die günstigste Variante dürfte zurzeit die britische Complete Collection von ADV sein, welche auch über die deutsche Tonspur und deutsche Untertitel verfügt, obwohl dies auf dem Cover nicht angegeben ist.
Die deutsche Synchronisation ist übrigens ganz ausgezeichnet ausgefallen und kann ohne Einschränkung empfohlen werden, obwohl ich gerade bei Filmen aus dem asiatischen Raum fast grundsätzlich die Verwendung des Originaltons befürworte, da es noch immer viel zu viele lustlose, stimmlich unpassende und mitunter geradezu sinnentstellende deutsche Sprachfassungen fernöstlicher Werke gibt. Im Fall von Elfen Lied aber hat man nicht jeder Pappnase, die gerade an der Studiotür vorbeigelaufen ist, einen Textzettel in die Hand gedrückt – hier kamen ebenso geeignete wie begabte Synchronsprecher zum Einsatz, die sich ihrer Aufgabe mit dem gebührenden Engagement gewidmet haben.
Anime-Muffeln und Zeitgenossen, die eher despektierlich auf gezeichnete Filme herabblicken, sei abschließend noch mit auf den Weg gegeben, dass es sich durchaus lohnen kann, einmal über den eigenen Schatten zu springen. Wenngleich die genrebedingten Eigenheiten für das ungeübte Auge anfangs etwas seltsam und gewöhnungsbedürftig erscheinen werden, so sorgt doch vor allem das gegebene Handlungsumfeld dafür, dass man die kulleräugigen, auf den ersten Blick kindlich anmutenden Figuren schon nach erstaunlich kurzer Zeit sehr, sehr ernst nimmt. Und irgendwann merkt man überhaupt nicht mehr, dass man da eigentlich einen Trickfilm anschaut.
FAZIT: Elfen Lied ist ein herausragendes Beispiel dafür, welches Potenzial der Animesektor birgt und reiht sich darüber hinaus in mancherlei Beziehung würdig unter die beeindruckendsten wie auch immer gearteten Publikationen nicht nur der fernöstlichen Filmgeschichte ein. Die unter Leitung von Mamoru Kanbe entstandene Manga-Verfilmung präsentiert sich als Werk von unglaublicher emotionaler Wucht und Nachhaltigkeit, das auch bei wiederholtem Ansehen nicht einen Bruchteil von seiner Faszination verliert – fesselnd, kompromisslos, extrem blutig und gleichzeitig zu Tränen rührend.
Wer nach Fehlern und Schwächen sucht, wird sie zweifellos finden. Wer sich aber tief genug in diese Geschichte fallen lassen kann, der wird am Ende vor der traurigen Gewissheit stehen, dass er etwas Gleichwertiges wohl nur noch ganz, ganz selten erleben darf. Dabei ist Elfen Lied kein Erlebnis schlechthin, sondern eher eine Erfahrung. Eine einzigartige.
10 von 10 Punkten.