Genreware für ein gereiftes Publikum stand am Anfang: Der Karloff-Grusler "The Man Who Changed His Mind" (1936) oder der Abenteuerfilm "King Solomon's Mines" (1937) nach H. Rider Haggard etwa, aber auch noch der Hedy Lamarr-film noir "Dishonored Lady" (1947)... ab 1957 drehte Robert Stevenson dann Beiträge für die langlebige Serie "Disneyland" (1954) – und wenig später gar abendfüllende Kinofilme für die Disney-Studios: Fantasy-Komödienklassiker wie "Darby O'Gill and the Little People" (1959), "The Gnome-Mobile" (1967) und "Blackbeard's Ghost" (1968), die Literaturverfilmungen "Kidnapped" (1960) und "In Search of the Castaways" (1962), die Original-Flubber-Filme "The AbsentMinded Professor" (1961) und "Son of Flubber" (1963), die ersten Herbie-Filme "The Love Bug" (1969) und "Herbie Rides Again" (1974) – und natürlich die Realfilm-/Zeichentrick-Mischungen "Bedknobs and Broomsticks" (1971) sowie "Mary Poppins" (1964), Stevensons populärster Klassiker, der gerade seine späte Fortsetzung "Mary Poppins Returns" (2018) erhält.
Dass "Mary Poppins" vor allem als Klassiker der Realfilm-/Zeichentrick-Mischungen in die Filmgeschichte eingegangen ist, entbehrt nicht einer gewissen Ironie, hatte Vorlagenautorin P. L. Travers doch für Zeichentrickfilme wenig übrig. Andererseits ist das Eintauchen der Figuren in gemalte Straßenbilder ein Bestandteil der Vorlage, der sich anders kaum adäquater umsetzen ließe.
Mehr Freiheiten nahm man sich hingegen bei der Dramaturgie, welche die episodenhafte Nummernrevue der Mary Poppins-Bände ein bisschen in ein kleines Familiendrama einspannt – welches freilich voll und ganz kindgerecht geraten ist. Mary Poppins kommt und geht auch hier in dieser Filmversion, "wenn der Wind sich dreht" – womit aber (zum Zeitpunkt des Gehens) auch ein Umschwung im Familienklima gemeint ist: Mary Poppins verleiht der Beziehung zwischen Kindern und Vater eine neue Tiefe und hat dann ihre Aufgabe erledigt; ihr Auftrag erschöpft sich nicht bloß im Zusammenführen von Realität und Fantasie, im Schildern eines an Wundern vollen Alltags.
Geglückt ist diese neue dramaturgische Verdichtung nur in Ansätzen und es dominiert zunächst noch die Episodenhaftigkeit: Am Anfang steht gewissermaßen der Prolog, in welchem die zwei Banks-Kinder Jane und Michael wieder einmal ein Kindermädchen vergrault haben. Vater Banks plant, eine strenge Erzieherin einzustellen, die endgültig für Ordnung sorgen soll – doch das von ihm zerrissene Stellenausschreiben der Kinder fliegt durch den Kamin und landet zusammengesetzt in den Händen Mary Poppins', mit deren Ankunft der Prolog endet. Es folgt dann – neben kurzen Variationen des Gedankens des Medizin versüßenden Zuckers – das Eintauchen in die Bilder des Straßenmalers Bert. Die zweite Episode – ein Besuch bei Onkel Albert – veranschaulicht am Folgetag, dass Heiterkeit erhebt und Ernsthaftigkeit und Trauer runterziehen. Am nächsten Tag besuchen auf Mary Poppins' Weisung Jane und Michael mit ihrem Vater jene Bank, in welcher er wie sein Vater seit langen Jahren arbeitet. Doch als die Kinder – wie von Mary Poppins eingefädelt – ihr Erspartes lieber in Vogelfutter investieren wollen und dem Bankdirektor Mr. Dawes sr. das Geld gleich wieder entreißen, kommt es unglücklicherweise zum Sturm auf die Bank, welche ihren Kunden das Ersparte nicht aushändigen zu wollen scheint (dritte Episode); und Mr. Banks wird am Folgetag – nachdem Bert als Schornsteinfeger die Freuden des Lebens auf der untersten Stufe der gesellschaftlichen Hierarchie besungen hat – von Mr. Dawes sr. gefeuert (fünfte & sechste Episode); nicht jedoch, ohne von den von Mary Poppins gelernten Lektionen (des versüßenden Zuckers und des Supercalifragilisticexpialigetischen) Gebrauch zu machen. Mr. Banks ist ein neuer Mann: heiter, nicht mehr ernst; vom liebevollen Gefühlsüberschwang erfüllt, nicht mehr beherrscht, geordnet und durchorganisiert. Der Wind hat sich inzwischen gedreht und Mary Poppins wird gemäß ihrer Ankündigung wieder gehen. Und dann gibt es in diesem Epilog noch eine glückliche Wendung: Mr. Dawes sr. ist über einen von Mr. Banks rezitierten Witz wie Onkel Albert vor Lachen geradezu in die Luft gegangen – er hat sich womöglich, so der einzige abgründigere Gag des Films, gar totgelacht: jedenfalls ist er abkömmlich und überlässt seinen Direktionsposten Mr. Banks.
Am Ende also greifen die vorherigen Episoden mit ihren Lektionen und perfektionieren letztlich ein suboptimales Familienleben, in welchem der Patriarch auf Ordnung, Regeln, Sitten und Ernsthaftigkeit pocht. Nicht zufällig wurde die Handlung in das frühe 20. Jahrhundert verlagert, in welchem Mrs. Banks als vergnügte Suffragette agiert: als Suffragette, die zuhause dann doch wie selbstverständlich auf ihren Mann hört und seine Wünsche zu erfüllen gedenkt. Es ist hingegen Mary Poppins, die – bei aller Orientierung an klassisch weiblichen Attributen – recht eigensinnig das männliche Selbstverständnis unterläuft und sich gegen das Familienoberhaupt durchzusetzen weiß. (Wobei allerdings auch sie das Gelächter von Onkel Albert und ihrem Begleiter Bert rügt – ganz konsequent ist Mary Poppins' Pädagogik letztlich nicht.)
In diesem – letztlich freilich keinesfalls feministischem – Plädoyer für mehr Fantasie und Gefühl in einer auf Effizienz und Erfolg ausgelegten Gesellschaft schwingt allerdings ein Ausmaß an Heuchelei mit, das sich schwerlich übersehen lässt. Erfolgreiche Filmschaffende lassen hier nicht bloß das glückliche Leben auf der untersten Stufe der Gesellschaft besingen, sondern präsentieren auch ausgesprochen wohlhabende Hauptfiguren, denen das Abweichen von Ordnung und Gehorsamkeit zunächst einen Schicksalsschlag, dann aber sogleich einen lukrativen Aufschwung beschert.
Sowenig wie Mary Poppins' Eigenschaften – zu denen immerhin auch Dickköpfigkeit und eine milde Arroganz zählen – und ihre Pädagogik ein rundes Ganzes ergeben, vetritt der Film eine konsequente Moral: Ziemlich durchsichtig und beinahe schon dreist feiert er eine "Erfolg ist nicht alles"-Moral, um sich kaum mit dem Misserfolg abzugeben – und hat mit dieser Masche überaus großen Erfolg gehabt: an der Kasse ebenso wie bei der Kritik und den Oscar-Verleihungen.
Natürlich: der Zeichentrick-/Realfilm-Mix ist noch immer faszinierend und wegweisend, Gesangsnummern wie Chim-Chim-Cheree erweisen sich noch immer als Ohrwürmer, der Tanz der Schornsteinfeger auf den Dächern ist beachtlich choreografiert worden und ein Highlight des 60er-Jahre-Musicals und manche Gags & Botschaften sind (im Rahmen des Kinder-/Familienfilms) durchaus gewitzt & hintergründig; und Julie Andrews – am Broadway als My Fair Lady bereits ein Star, im Filmgeschäft aber für Cukors "My Fair Lady" (1964) noch durch Audrey Hepburn ersetzt – versprüht in der Hauptrolle viel Charisma, wohingegen David Tomlinson als Mr. Banks recht routiniert all seine altbekannten Vorzüge ins rechte Licht setzt. Dick Van Dyke überzeugt vor allem als greiser Bänkler – eine Rolle, die er gerade erst als Mr. Dawes jr. in "Mary Poppins Returns" wiederholt hat.
Liebhaber des Musicals, des Disney- und Familienfilms haben also durchaus gute Gründe, sich an "Mary Poppins" zu erfreuen. Doch der dramaturgisch – im direkten Vergleich mit "Bedknobs and Broomsticks" – etwas ungeschickte Aufbau, die Inkonsequenz der pädagogischen Botschaften und die etwas heuchlerische zentrale Moral – welche angesichts der mit dem Film aufgekommenen ökomischen Ausschlachtung des Mary Poppins-Stoffes besonders befremdlich wirkt – lassen kaum übersehen, dass "Mary Poppins" auch eine von vielen Problemen durchzogene und von kommerziellen Interessen getriebene Produktion ist, welche aus den erfolgreichen Kinderbuchvorlagen etwas überfordert und ratlos eine konventionelle und wenig überzeugende Moralmär zusammengezimmert hat. Der Film ähnelt damit im Grunde seinem Motto "Supercalifragilisticexpialigetisch" und ist ein inmitten der Sprachlosigkeit rausgehauener behelfsmäßiger Platzhalter, der womöglich Gefühlsüberschwang ausdrückt und dabei dennoch unsinnige Inhaltsleere aufweist.
Gute 7/10.