„Wenn ich mich nur erinnern könnte..." - Plausability Missing (Not That Much) Part 7 oder „Die Nacht der leidenden Reichen“
Nach Argentos Ausflug in den Bereich des fantastischen Humbugs mit „Suspiria" und „Inferno", der die Elemente des Giallo zwar noch integrierte, sie aber der Mystik und dem Horror klar unterordnete, kehrt Argento nun 1982 bereits zu seinen Wurzeln zurück, die er mit „Das Geheimnis der schwarzen Handschuhe" bereits zu weiten Teilen ausgebildet und mit „Profondo Rosso" dann für sich perfektioniert hatte, indem er sich, zu meinem Bedauern, voll auf die visuelle Ausgestaltung konzentrierte.
Wieder haben wir einen Künstler aus dem anglo-sprachigen Raum, der sich beruflich in Rom aufhält und in den Strudel mörderischer Ergeignisse gerät. Und wieder haben wir die üblichen Zutaten wie den Mörder mit den Lederhandschuhen, blutige Morde, meist an Frauen, und die kleinen und großen Geheimnisse und Rätsel, die am Ende zu einer anvisierten Überraschung führen sollen, nachdem der Film den Zuschauer auf etliche falsche Fährten gelockt hat.
Das klingt jetzt alles nach einer eher langweiligen Variation der immer gleichen Zutaten und zugegeben: So richtig spannend ist „Tenebre" auch nicht geworden. Allerdings ist der Film durchaus unterhaltsam geraten, was vor allem daran liegt, dass Argento hier etwas mehr Sorgfalt walten lässt, wenn es um Figurenhandlung und das Verfolgen eines zentralen Erzählstranges geht, was dem Film äußerst gut tut und ihn mit für Argento nicht selbstverständlicher Konzentration ablaufen lässt.
Natürlich gibt es auch hier wieder Unwahrscheinlichkeiten, die der Zuschauer einfach schlucken muss, wenn zum Beispiel ein Opfer auf der Flucht vor einem Hund, übrigens eine sehr coole Szene mit einem sehr sportiven Dobermann, durch Zufall in des Mörders Haus landet und wegen des Hundes letztlich auch strandet. Da alle Opfer in Verbindung zur Hauptfigur stehen oder aus ihrem unmittelbaren Umfeld stammen und folglich alles andere als zufällig ausgewählt werden, muss man an dieser Stelle zumindest die Stirn in Falten legen. Allerdings ist die Inszenierung der Architektur so gelungen, dass die Schauwerte die epidermischen Wogen sofort wieder glätten. Wie gut, dass hier alle so reich sind. Und Rom ist halt ein Dorf. Colosseum, Flughafen, Grünanlagen und 10 Häuser. Fertig.
Ebenso ist die Logik bei der Täterhandlung für mich im Nachhinein nicht in jedem Fall nachvollziehbar, so bekomme ich gerade den ersten Mord für mich nicht mehr sinnvoll in den Film und seine Erzählung eingeordnet. Der zweite Mord legt dann aber richtig los, wenn Argento sehr verspielt mit einer langen Kamerakranfahrt über zwei Minuten braucht, bis er an das zu öffnende Fenster gelangt. Der sich anschließende Doppelmord selbst fällt dann fast etwas sachlich aus, wenngleich es jede Menge weibliche Rundungen zu begutachten gibt. Hätte die nackte Hälfte der lesbischen Beziehung (Gier! Sabber! Schlotz!) die Szene überlebt, hätte sich ein Spin-Off angeboten: „Busella - Das ewig nasse Vollweib"! Das italienische und europäische Publikum wäre bereit gewesen für Dialoge wie:
„Wie benutzt man eigentlich so ein Handtuch?"
„Du feuchtes Dummerchen! Seif mir die Brüste ein und ich zeige es dir!"
Diese sleazige und exploitative Episode beinhaltet aber mit dem Opfer Tilde dabei eine durchaus interessante Figur, die dem Krimiautor Peter Neal zu Beginn des Films vorwirft, seine Erzählungen basierten nur auf der gewalttätigen sexuellen Ausnutzung von Frauen. Der Vorwurf der Misogynie in einem Giallo muss natürlich als Kommentar verstanden werden. Und der Film reagiert, indem er aus der Frau, die im modernen Krimi eine allgegenwärtige Frauenfeindlichkeit anprangert, eine Lesbe macht, der der Hals aufgeschlitzt wird. Freilich, nachdem sie sich mit ihrer nackten Freundin gestritten hat, weil die einen „Bumser" da hatte.
Noch Fragen?
In einem Argento-Film verwirrt dies jedoch sehr und wirkt sehr ironisch bis sarkastisch, denn im Vergleich zu anderen Regisseuren, wie beispielsweise Sergio Martino, hält es der Regisseur ziemlich modern und deutlich weniger exploitativ, was die weibliche Körperlichkeit und Sexualität angeht, wie „Suspiria" sehr anschaulich zeigte. Auf der anderen Seite bleibt der Fakt, dass alle Frauen bis auf Nicolodi im Film ermordet werden. Aber Argento reagiert halt auf den generellen Vorwurf der Frauenfeindlichkeit sehr trotzig mit einer für ihn ungewohnt vollen Packung Sleaze.
Nun, Sleaze ist dem italienischen Genrekino natürlich nichts Fremdes und so bleibt die Frage, was Argento außer seinen Kameraspielereien, dem Blut und nackten Tatsachen denn so im Angebot hat, um „Tenebre" von der Masse abzuheben.
Neben der sehr spannend inszenierten Verfolgung mit dem Dobermann sind mir besonders die Darstellerleistungen von John Saxon und Anthony Franciosa in Erinnerung geblieben, die hier für das Genre Überdurchschnittliches abliefern. Na gut, John Saxon finde ich einfach nur cool. So viel Screentime hat er letztlich gar nicht, aber der mir bisher nicht aufgefallene Franciosa gibt schon ziemlich Gas und liefert eine schmissige Vorstellung ab. Über Daria Nicolodi hülle ich mich hier in Schweigen und verwende lieber noch ein paar Worte auf Lara Wendel, die hier mit 16 oder 17 Jahren eine gute Vorstellung abliefert und als Opfer erstmalig ein Gefühl der Tragik einfließen lässt.
Hier fällt dann aber auf, wie unfähig die Figuren in Argentos Welt zur Trauer sind, wenn das Ableben von bekannten Mitmenschen als verhältnismäßig unangenehmer Fakt zur Kenntnis genommen wird. In „Twin Peaks" erschüttert ein Mord scheinbar die ganze Welt, in Argentos Welt ist alle Gewalt nur ein Phänomen, das enträtselt und ins Begreifbare überführt werden will.
Ein wesentlicher Grund dafür dürfte sein, dass Argentos Figuren in nahezu allen seinen Filmen bindungs- und beziehungslos sind. Wir sehen keine familiären Strukturen, wir sehen keine wirkliche Intimität, die über einen allenfalls getätigten körperlichen Liebesakt hinausgeht, wir sehen allenfalls Andeutungen von intakten privaten Beziehungen, wodurch alle Figuren für sich isoliert scheinen. So stirbt dann eben auch mal eine nette Vierzehnjährige aus dem Umfeld den blutigen Axttod, aber was soll man machen.
Da die Polizei in „Tenebre" ziemlich präsent ist und deutlich weniger stümperhaft wirkt als in anderen Gialli, wenngleich der Kommissar schon sehr damit hausiert, dass er in Krimis nie den Mörder entlarvt, ergeben sich für die anderen Figuren dadurch deutlich weniger Möglichkeiten, sich vollkommen idiotisch ins Unglück zu stürzen, wie beispielsweise später die Hauptfigur in „Opera" von 1987. Nur eine Figur verabschiedet sich mit dem Gedanken: „Ich gehe nochmal zurück an den unbewachten Tatort im Dunkeln, denn ich glaube eine wichtige Kleinigkeit übersehen zu haben, die den Mörder entlarven wird, der ja noch immer frei und die Axt schwingend draußen rumläuft." Worauf die Hauptfigur dann nur noch entgegnet: „Ja, mach das. Und bring mir doch auf dem Rückweg bitte noch ein Eis mit. Aber natürlich nur, wenn du noch lebst." Ich paraphrasiere hier, aber inhaltlich läuft es mehr oder weniger genau so ab.
Kern dieser idiotischen Idee des nur schwer zu bremsenden Mordopfers ist der bekannte Kniff, im Film einen Hinweis auf den Täter zu verstecken, wie man es beispielsweise in „Das Geheimnis der schwaren Handschuhe" oder ganz ausgefeilt in „Profondo Rosso" hatte. In beiden Filmen könnte man an der entsprechenden Stelle bereits den Hinweis sehen, wenn man nicht unwissend auf andere Dinge achten würde, was ich als sehr wirksam empfinde. Hier allerdings geht Argento etwas plumper vor und die Wirkung ist eher mau.
Auch die falschen Fährten sind eher generisch und erledigen sich nach und nach sowieso, wodurch die letztliche Auflösung wohl nicht der große Kracher ist, den Argento damit erreichen wollte. Aber wie die Hauptfigur selbst sagt, wenn sie Sherlock Holmes zitiert:
„Wenn man alles Unmögliche eliminiert, muss das, was übrig bleibt die Wahrheit sein, egal wie unwahrscheinlich sie ist."
Das klingt mit Kenntnis des Films fast so, als hätte sich Argento selbst überzeugen müssen, seine Auflösung so durchzuziehen, bzw. als hätte er die Notwendigkeit gesehen, beim Publikum eine Akzeptanz seiner Auflösung mit einer literarischen Autorität vorbereiten zu müssen. Und so ganz falsch ist das auch nicht, denn wirklich schlüssig will einem die finale Kehrtwende nicht erscheinen und letztlich ergibt sich eventuell mehr Konfusion als es dem Film gut tut.
Schön ist dabei, dass vollkommen auf die Inkompetenz der Polizei gesetzt wird, die weder den Versuch der ersten Hilfe startet, noch den Tod einer Person überprüft. Selber Schuld!
Die Musik von Goblin funktioniert bei alledem einmal mehr sehr gut und drückt uns nicht blind das immergleiche Thema auf die Ohren, sondern akzentuiert passend die Spannungsmomente, wie es sich für Filmkompositionen eben gehört. Im Vergleich zu „Profondo Rosso" von 1975 wirkt das Zusammenspiel von Film und Musik hier deutlich stimmiger.
Fazit
Als der Giallo bereits lange, und das bedeutet hier mindestens schon 7 Jahre, seinen Zenit überschritten hatte, kehrte Argento zu seinem ureigenen Sujet zurück und lieferte einen Spät-Giallo ab, den man sich gut und gerne anschauen kann. Zwar bleibt die filmische Qualität hinter der Genialität einzelner Episoden aus „Profondo Rosso" zurück, dafür findet Argento hier mehr zu einer sonst so oft vermissten Stringenz auf der erzählerischen Ebene, die zwar nicht frei von Lücken und kleineren Stolperern ist, aber den Zuschauer die gesamte Laufzeit über an den Film bindet. Insofern ist „Tenebre" weniger Geniestreich als vielmehr äußerst solide Thrillerkost aus Italien, die mit vereinzelten toll inszenierten Sequenzen aufwarten kann, dabei den ein oder anderen blutigen Mord gekonnt in Szene setzt und darstellerisch weitestgehend überzeugt. Die Logik wird nicht gänzlich ausgeschlossen und so gibt es verhältnismäßig wenig zu bemängeln. Im Vergleich zum deutlich unrunderen „Profondo Rosso" fehlt es aber an diesen besonderen Twists, die den Zuschauer mitreißen. Die sind hier zwar vorhanden, verfangen dabei aber leider nicht so wie im Vorgänger von 1975. Dennoch ist „Tenebrae“ gerade wegen seiner ausgeprägteren Konventinalität der besser funktionierende Film, da er seine Logiklöcher durch mehr Drive besser kaschieren kann als der collagenhafte „Profondo Rosso“.