Da muss man erst fast 40 Jahre alt werden, um diesen einen perfekten Weihnachtsfilm zu entdecken – und das nicht etwa, weil irgendein Fernsehsender seinen Sendeplatz zur Abwechslung mal rein zufällig nicht mit den üblichen Verdächtigen wie „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“ und „Weihnachten bei Hoppenstedts“ gefüllt hätte, sondern weil die britische Kollegin bei der Frage nach ihren Weihnachtstraditionen mit „The Snowman“ antwortete.
Ich gebe zu, zuvor von diesem gerade einmal knapp über 25 Minuten laufenden Zeichentrickfilm nichts gehört zu haben, obwohl er in Großbritannien ein immer wieder gezeigter Klassiker ist wie bei uns „Der kleine Lord“ an jedem Freitag vor Heiligabend in der ARD. Als Vorlage diente das gleichnamige Kinderbuch von Raymond Briggs aus dem Jahr 1978, das auch in Deutschland unter dem Titel „Mein Schneemann“ erschien. Vier Jahre später gab der britische Sender Channel 4 die Adaption in Auftrag – und verzauberte Jung und Alt gleichermaßen.
Die Gründe dafür sind so verschieden wie zahlreich. Da wäre zum einen die Story: Ein Junge nutzt den frisch gefallenen Schnee, um einen Schneemann zu bauen – mit einem Brötchen anstatt der obligatorischen Mohrrübe als Nase. Des Nachts erwacht der Schneemann zum Leben, woraufhin der euphorische Junge ihm erst einmal sein Haus zeigt. Selbst eine Motorradtour durch den nahegelegenen Wald unternehmen die beiden. Schließlich fliegt der Schneemann mit dem Jungen im Arm zum Nordpol, um mit anderen Schneemännern und -frauen mit dem Weihnachtsmann ein Fest zu feiern. Klassischer und einfacher geht es nun wirklich nicht, aber es sind alle Elemente enthalten, die man gemeinhin mit Weihnachten verbindet: ein Kind als Protagonist, viel Schnee, die Reise zum Nordpol, Santa Claus. Das wird vor allem denjenigen in leichter Variation bekannt vorkommen, die Robert Zemeckis‘ „Der Polarexpress“ gesehen haben. Doch wo die Motion-Capture-Technik ihre Seelenlosigkeit trotz des an sich besinnlichen Inhalts nie verhehlen konnte, läuft „The Snowman“ vor Liebe geradezu über.
Die im besten Sinne altmodische Buntstiftanimation mit ihren simplen, aber dennoch detailfreudigen Zeichnungen und niedlichen Figuren erwärmt das Herz und profitiert dabei gleichzeitig von der allgegenwärtigen Musik von Howard Blake, die als Triebfeder des gänzlich dialogfreien Films funktioniert und am laufenden Band etwas schafft, von dem etliche Weihnachtsfilme nur träumen können: den Sense of Wonder zu versprühen – zur Perfektion getrieben in dem Moment, in dem der Schneemann sich mit dem Jungen in die Luft erhebt und mit ihm Seite an Seite über die vereinfachten, aber nach realistischen Maßstäben gezeichneten Winterlandschaften der South Downs, des Royal Pavilion und des Brighton Palace Pier über das Meer hinweg bis nach Norwegen fliegt. Der ewige Traum so vieler Kinder, fliegen zu können – hier wird er Wirklichkeit, unterstützt durch die ätherische Sangesstimme des Chorjungen Peter Auty, der mit dem berühmten und später mehrfach gecoverten Song „Walking in the Air“ über dieser vierminütigen Szene schwebt und den emotional anfälligen Zuschauer zu Tränen rührt, wie es den Disney-Studios mit ihren Liedern über die Jahrzehnte seit „Schneewittchen“ nur selten gelungen ist. (Es existiert auch eine deutsche Version mit dem Titel „Spaziergang durch die Luft“, die allerdings bei Weitem nicht an das Original heranreicht.)
Nicht zuletzt schwingen in der melancholischen Grundstimmung Themen mit, die zwischen den Zeilen transportiert und durch das verwehrte Happy End noch stärker apostrophiert werden. Dazu gehören die Einsamkeit des Jungen, der, mit seinen Eltern irgendwo im Nirgendwo lebend, anscheinend nicht sehr viele Freunde hat und durch die Macht der Fantasie mit dem Schneemann wenigstens für eine Nacht einen Spielkameraden gewinnt, sowie Trauer und die Vergänglichkeit des Lebens, hier symbolisiert durch den Schneemann, der spätestens dann verschwindet, wenn die Außentemperaturen wieder Plusgrade angenommen haben. Nichts bleibt für immer – auch nicht das blühende Vorstellungsvermögen eines Kindes, in dem alles möglich erscheint. Schließlich werden wir alle irgendwann erwachsen.
Ein wahrhaft bezaubernder Film, der zukünftig unbedingt regelmäßig seinen Platz im deutschen Fernsehen erhalten sollte, denn mit ihm allein hätten zu Weihnachten in Zeiten der Energiekrise über Tage hinweg die Wohnstuben geheizt werden können. 10/10.