Review

Nach drei Italo-Western - darunter als sein erster Film "Per 100,000 dollari ti ammazzo" (Django der Bastard, 1968)) - wandte sich Regisseur Giovanni Fago wie viele seiner Kollegen in dieser Phase dem aufstrebenden Poliziesco zu und nutzte dafür die Erfahrung seines Co-Autors Adriano Bolzoni, der zuvor schon bei "Squadra volante" (Die gnadenlose Jagd, 1974) am Drehbuch mitgewirkt hatte. Bolzoni, ebenfalls im Western-Genre sehr aktiv, entwarf mit "Marc il poliziotto spara per primo" (Das Ultimatum läuft ab) 1975 einen weiteren Polizeifilm, während "Fatevi vivi: la polizia non interverrà" (In der Gewalt des Kindermörders) Fagos einziger Ausflug in das Genre blieb.

Anders als es der reißerische deutsche Titel "In der Gewalt des Kindermörders" vermuten lässt, setzte Fagos Film weniger auf Action und überzeichnete Charaktere wie etwa Umberto Lenzi in "Milano odia: la polizia non può sparare" (Der Berserker), sondern stand in seinem Bemühen, eine ruhige, nachvollziehbare Story zu entwickeln, noch in der Tradition der frühen Polizieschi wie Stenos "La polizia ringrazia" (Das Syndikat, 1972), allerdings ohne deren Komplexität zu erreichen. Der Vergleich zu Lenzis "Der Berserker" liegt trotzdem nah - nicht nur wegen des selben Erscheinungsjahres und der Besetzung Henry Silvas als leitender Commissario, sondern weil sich beide Filme auch der damals in Italien sehr aktuellen Thematik, der Kindesentführung, widmeten - ein Vergleich, der nur zu Fagos Ungunsten ausfallen konnte.

Denn im Gegensatz zu Lenzis energiegeladener, die damalige Situation bewusst zuspitzender Inszenierung, baute er seinen Film langsam auf und blieb auch in den wenigen Action-Szenen fast betulich. In dieser Hinsicht kann "Fatevi vivi: la polizia non interverrà" (sinngemäß "Bleib am Leben: die Polizei wird nicht einschreiten") mit den populären Werken des Genres nicht mithalten, aber das lässt übersehen, dass der Film nicht nur durch die Verknüpfung von Mafia und der Entführungsthematik einen originellen Blickwinkel einnahm, sondern diesen bis ins Detail schlüssig analysierte.

Wenn zu Beginn ein Mann von seinem Fahrer vor dessen Villa abgeholt wird, und kurz darauf ein Mädchen auf dem Weg vom elterlichen Grundstück zum Schulbus von einer vierköpfigen Bande entführt wird, glaubt man an eine Verbindung, doch der distinguierte Geschäftsmann Frank Salvatore (Gabriele Ferzetti) hat nichts damit zu tun. Bei ihm handelt es sich um einen aus Sizilien stammenden Mafia-Boss, der schon lange in der bürgerlichen Mitte angekommen ist und einen tadellosen Ruf genießt. Ferzetti spielt ihn ohne dämonische Ausstrahlung jederzeit gelassen agierend, ganz im Bewusstsein der eigenen Unangreifbarkeit. Darin zeigt sich gleichzeitig die größte Schwäche und die wesentliche Stärke des Films, denn der Verzicht auf eine emotionale Zuspitzung verhindert die innere Ungewissheit ähnlich angelegter Filme und schwört keine paranoide, gefährliche Spannung herauf, bleibt aber jederzeit realistisch.

Auch Henry Silva als Commissario Caprile agiert nicht kopflos, sondern handelt im Rahmen seiner gesetzlichen Möglichkeiten, obwohl er Salvatore schon seit Jahren verfolgt. Sehr schön beschreibt Fago, dass jeder vergebliche Versuch, den Mafioso zu verhaften, zu einer Beförderung Capriles führte - ein stimmiges Beispiel für die inneren Verflechtungen in der Justiz, gegen die sich auch der unbestechliche Commissario nicht wehren kann. Auch die Wahl eines Kindes als Entführungsopfer und die verständlicherweise aufgeregten Eltern erzeugen kein Schüren von Emotionen, sondern sind normaler Bestandteil der Umstände einer Entführung. Die Vorgehensweise der Entführer, die unter der Leitung des "Professors" (Philippe Leroy) versuchen, eine halbe Milliarde Lire zu erpressen, unterliegt einzig pragmatischen Erwägungen. Dieser ist in seiner kompromisslosen Haltung nicht weniger konsequent als der von Tomas Milian gespielte Entführer in Lenzis Film, aber ohne dessen psychische Anfälligkeit und unaufgeregt inszeniert.

Da sich entsprechend Niemand als Identifikationsfigur anbietet, lassen sich deren innere Verbindungen ohne moralische Wertung ausarbeiten, wodurch die Nüchternheit des Films noch betont wird. Commissario Caprile, der über keine Spur zu den Entführern verfügt, versucht Frank Salvatore unter Druck zu setzen, indem er gemeinsam mit der Drogenfahndung Razzien in Como durchführt. Er erreicht sein Ziel anders als geplant, denn Salvatore, der Einnahmeverluste im Drogenhandel hinnehmen muss, beginnt selbst die Entführer zu suchen, die seine Geschäfte stören, was wiederum den "Professor" zwingt, mögliche Zeugen auszuschalten.

Scheinbar behandelte "Fatevi vivi: la polizia non interverrà" damit bekannte Themen, denen sich viele Polizeifilme widmeten, aber er setzte sie sehr eigenständig um. Anstatt die Grundsituation einer Kindesentführung emotional für rigorose Polizeimethoden auszunutzen, wie es im Poliziesco üblich war, ist es hier die Mafia, die sich der Verbrecher annimmt, die weder bei der Verfolgung, noch der Bestrafung der Täter Rücksicht auf rechtsstaatliche Belange nehmen muss. An ihrer tatsächlichen Intention besteht trotzdem kein Zweifel. Einzig der weitere reibungslose Ablauf des Drogenhandels ist von Interesse, auch wenn sich Salvatores Männer sehr abschätzig über Kindesentführer äußern.

Dem Film gelang damit das Kunststück eines Endes, das weder gut noch schlecht ist, weder Befriedigung, noch nihilistische Gefühle vermittelt - passend zu einer Inszenierung, die ohne emotionale Zuspitzung und ohne extreme Charaktere auskommt. Man kann "Fatevi vivi: la polizia non interverrà" mangelnde Attraktivität und damit einen geringeren Unterhaltungswert vorwerfen, aber dahinter verbirgt sich keine Mittelmäßigkeit oder Unentschiedenheit, sondern ein klarer Blick auf die Realität. Nicht erstaunlich, dass der Film heute nahezu unbekannt ist, aber das ändert nichts daran, dass er einen von der Erwartungshaltung an das Genre unvoreingenommenen Blick verdient hat (7/10).

Details
Ähnliche Filme