„Wenn Sie etwas sehen, was mit allen logischen Regeln in Widerspruch steht, aber trotzdem da ist, fangen Sie an, sich Fragen zu stellen...“
„Obsession – Besessene Seelen“ aus dem Jahre 1992 ist nach „Schloss des Schreckens“ (1961, mit Deborah Kerr) die zweite Verfilmung der Novelle „The Turn of the Screw“ (Michael Winners Prequel „Das Loch in der Tür“ nicht mitgerechnet) aus dem Jahre 1898 des US-amerikanischen Schriftstellers Henry James. Der in britisch-französischer Koproduktion entstandene Film ist der zweite der zusammen mit einer weiteren Literatur-Adaption, „Die Reise zum Mittelpunkt der Erde“, nur zwei Beiträge umfassenden Filmographie des Regisseurs Rusty Lemorande.
Die junge Frau Jenny (Patsy Kensit, „Absolute Beginners“) wird vom vermögenden, aber unabkömmlichen Vormund der Kinder Miles und Flora engagiert, sich als Privatlehrerin und Kindermädchen auf dem abgelegenen Landsitz, auf dem die beiden zusammen mit der Haushälterin Mrs. Grose (Stéphane Audran, „Spider Labyrinth“) leben, um sie zu kümmern. Doch schon kurz nach ihrer Ankunft wird sie Zeugin eigenartiger Phänomene. Bald glaubt sie, dass die Geister der verstorbenen früheren Bediensteten Quint und Miss Jessel ihr Unwesen treiben und negativen Einfluss auf die Kinder ausüben…
Vergleiche mit der mir lediglich durch eine Inhaltsangabe und unterschiedliche Interpretationsansätze bekannten Literaturvorlage stelle ich aus gutem Grunde nicht an, ebenso wenig mit „Schloss des Schreckens“, da ich „Obsession – Besessene Seelen“ als eigenständige Verfilmung betrachte. Diese versucht sich auch direkt zu Beginn durch eine zeitliche Neueinordnung von den Vorlagen abzusetzen, indem sie während des noch in Schwarzweiß gedrehten Prologs eine alte Dame (Marianne Faithfull, „Intimacy“) in der Gegenwart aus Tagebucheinträgen Jennys zitieren lässt. Der Film fungiert demnach als eine Rückblende in die 1960er-Jahre, in denen die Haupthandlung angesiedelt wurde. Diese Erzählerin kommentiert fortwährend immer mal wieder die Geschehnisse aus dem Off. Ihre Identität wird im Epilog gelüftet.
„Obsession – Besessene Seelen“ präsentiert sich als eine Mischung aus Mystery-Drama und klassischem Grusel mit Gotik-Anleihen – und ist optisch sehr durchdacht und geglückt. Zeitweise bewegt man sich fast in Richtung künstlerischer Kubrick-Optik, arbeitet mit ebenso prachtvollen wie effektiven Ausleuchtungen und entsprechenden Farbkontrasten. Neben Aufnahmen des Ambientes, die immer dann besonders beeindruckend sind, wenn sie Weitläufigkeit und Tiefe aufweisen oder Architektur übermächtig erscheinen lässt, wird relativ häufig auf die Gesichter der Protagonisten gezoomt und insbesondere die Augenpartie der attraktiven Patsy Kensit betont in Szene gesetzt. Ihre großen, verzweifelt aufgerissenen Augen spiegeln mehr Schrecken wider, als der Zuschauer eigentlich zu sehen bekommt. Die 60er-Dekade indes wird in der Retrospektive beinahe überstilisiert, fast karikiert, um als Kontrast zum Landleben auf dem Anwesen herzuhalten, wo die Zeit stehen geblieben zu sein scheint. Großteile des Films wurden unterlegt mit sanften Klaviermelodien, die sich wohldosiert abwechseln mit wunderbar atmosphärischen dramatischen Klängen, in denen Glockengeläut zum dominanten Element wird.
Auf der Traumebene begegnet Jenny Quint und wird Zeugin seines Treibens; unpassenderweise zeichnete man ihn leider als weichzügigen Schönling, was zumindest bei mir – nicht unbefangen durch Kenntnis von Erstverfilmung und Prequel – nicht so recht mit der imaginären Vorstellung seiner Person korrespondieren will. Die sexuelle Aufgeladenheit der Vorgeschichte um Quint und Miss Jessel und die Rolle, die die Kinder dabei spielten, bleibt weitestgehend angedeutet und wird kaum provokativ oder offenherzig eingesetzt, beflügelt dafür jedoch die Phantasie des Rezipienten – auch dank einiger gruseliger Motive und Details. Als dramaturgische Unbeholfenheit möchte ich „Obsession – Besessene Seelen“ aber ankreiden, dass Jenny und Mrs. Grose wenig nachvollziehbar bereits zu einem frühen Zeitpunkt als gegebenen Fakt hinnehmen, dass Quint und Miss Jessel als Geister durchs Gemäuer spuken. Insbesondere Jennys Abdriften in den Wahnsinn – denn diese Frage nach Wahn oder Wahrheit stellt der Film, und zwar recht geschickt – hätte eines sorgfältigeren Aufbaus bedurft. Doch statt eine Vielzahl auf verschiedene Weise gruseliger Geistererscheinungen auf Jenny respektive das Publikum loszulassen, lässt man sie in Form eines „Running Gags“ sich ständig vor der Haushälterin erschrecken und löst somit etwas sehr häufig falschen Alarm aus – von dem ich bezweifle, dass er so humoristisch intendiert war, wie er auf den Betrachter wirkt. Letztendlich wirkt „Obsession – Besessene Seelen“ trotz seiner passablen bis überzeugenden Schauspieler und seiner visuellen Pracht mitunter doch arg rührselig und melodramatisch, weshalb ich mir eine noch stärkere Verortung im Horrorbereich oder aber eine stärkere Hervorhebung des Psycho-Thriller-Aspekts gewünscht hätte. Ich gebe aber zu, dass diese Auffassung mit einer etwas fehljustierten Erwartungshaltung zusammenhängen kann, weshalb ich beizeiten gern eine Zweitsichtung einräumen werde. Das dramatische Finale jedenfalls wirft sämtliche Zutaten noch einmal munter zusammen, die bösartige Pointe droht dabei etwas unterzugehen.
Fazit: Wenig bekannte, doch interessante Neuverfilmung eines Klassikers mit vielen Stärken, jedoch auch einigen inhaltlichen Schwächen. Nichtsdestotrotz ein kleiner Genuss für Freunde des etwas sanfteren, wohligen Grusels mit zum Nachdenken und Interpretieren einladender psychologischer Komponente, deren mehrere Auslegungsmöglichkeiten sich evtl. nicht sofort erschließen.