Hier haben wir also eine Mystery-Serie, die in den USA binnen kürzester Zeit zum Straßenfeger avancierte.
Eine Maschine von Sydney nach Los Angeles gerät nach dem Abbruch der Funkverbindung und einem unvorhergesehenen Kurswechsel in 10.000 Metern Höhe in heftige Turbulenzen. Die Maschine bricht auseinander und stürzt im Südpazifik ab. Wie durch ein Wunder überleben etwa 75 Menschen das Unglück, größtenteils sogar ohne größere Blessuren. Direkt an der Absturzstelle befindet sich eine Insel. Eine Hälfte des Flugzeugs landet mit 48 Überlebenden auf der einen Seite der Insel, die andere Hälfte landet mit seinen 28 Insassen auf der anderen Seite.
Wochen vergehen, bis die beiden Gruppen, die bisher gegenseitig nichts von ihrer Existenz geahnt haben, aufeinandertreffen.
Und dann gibt es da noch "die Anderen": Eine mysteriöse Gruppe von Menschen, die bereits auf der Insel lebt, und die die beiden Gruppen insgeheim beobachten oder auch des öfteren überfallen, um deren Mitglieder zu töten oder zu entführen. Vor allem scheinen es diese Anderen auf die überlebenden Kinder abgesehen zu haben.
Und da all das für einen guten Erzählstoff noch nicht ausreicht, gibt es noch weitere unheimliche Dinge und Begegnungen auf der Insel: Eisbären, ein unsichtbares Monster, einen Bunker, Halluzinationen und Visionen, Wunderheilungen und noch einiges mehr.
Der Arzt Jack avanciert schnell zum Anführer der größeren Gruppe der Überlebenden. Gemeinsam mit der entflohenen Verbrecherin Cathrine, dem Lottomillionär Hugo, dem vormals gehbehinderten Survivalspezialisten John Locke, dem irakischen Republikanergardisten Sayid, dem drogenabhängigen Rockstar Charlie, der hochschwangeren Claire und diversen anderen Überlebenden richtet er sich langsam auf der Insel häuslich ein. Rettung scheint angesichts der Umstände nicht zu erwarten.
LOST ergeht sich einerseits in spannenden und mysteriösen Andeutungen über die Geheimnisse der seltsamen Insel, andererseits in regelmäßigen Rückblenden über das Leben der Protagonisten vor dem Absturz. Ob es hierbei logisch zugeht, kann nur schlecht beurteilt werden, weil eben der empfundene Mysteryfaktor insgesamt recht hoch ist und somit sämtliche scheinbaren Lücken in der Geschichte ausfüllen könnte. Vor allem aber sind die tatsächlichen Mystery-Häppchen, die dem Zuschauer dargeboten werden, verschwindend gering, so dass man als Zuschauer nie auch nur ansatzweise genügend Informationen in der Hand hält, um mit der Story mitzudenken.
Die Rückblenden hingegen mehren sich endlos aus, werfen einige Fragen auf, beantworten andere Fragen, lassen den Zuschauer aber vor allem immer wieder mit einem großen skeptischen Fragezeichen auf der Stirn zurück.
So gibt es unter den Protagonisten so gut wie keinen normalen Menschen: Mörder, Drogenschmuggler, Rockstars, Folterknechte, Trickbetrüger, Lottomillionär, unheilvolle Prophezeiungen durch Wahrsager, Jakuza-Schläger - es scheint eher so, als wären die Überlebenden des Absturzes allesamt mit extra dramatischen Hintergründen ausgestattet, was sich in der Summe als Spannungsmacher schnell abnutzt. Irgendwann wundert man sich gar nicht mehr, wenn man erführe, dass der vermeintlich einfache Müllmann in Wirklichkeit der erste amerikanische Astronaut auf dem Mond und zudem noch der Schwager von US-Präsident Nixon war. Das nur als Beispiel - bisher ist jedenfalls noch kein raumfahrender Müllmann in der Serie vorgekommen. Aber wenn doch, würde ich nicht einmal überrascht mit der Wimper zucken.
LOST schafft es in der ersten Staffel sehr geschickt, Spannung aufzubauen und mit der Erwartungshaltung des Zuschauers zu spielen. Das ist einer der größten Pluspunkte der Serie. Gleichzeitig liegt hier auch der größte Minuspunkt, denn die Erwartungshaltung wird später (zumindest am Ende der ersten Staffel und in der gesamten zweiten Staffel) so gut wie nie befriedigt. Hat einer der Überlebenden eine unheimliche Begegnung, kann man sich fast sicher sein, dass er diese stillschweigend für sich behält. Und falls er den anderen doch einmal etwas mitteilt, wird der Sache so gut wie nie eine größere Bedeutung zugemessen. Ein unsichtbares Monster auf der Insel? Ok, aber lasst uns erst einmal einen Golfplatz bauen. Ein Gelähmter, der plötzlich wieder laufen kann? Naja, warum denn auch nicht? Flüstern im Dschungel? Behält man auf jeden Fall für sich, und wenn es doch auch andere hören, gibt es eben ein Flüstern im Dschungel. Eine überlebende Französin, die seit 16 Jahren auf der Insel lebt? Na gut, aber noch lange kein Grund, sie mal zu besuchen und sich mit ihr zu unterhalten. Ein Eisbär im Südpazifik? Ist halt so, warum der Sache auf den Grund gehen? Ein plötzlich auftauchendes Pferd? Einmal streicheln, sich freuen, dann ist es schon wieder vergessen.
Es ist fast zum Haareraufen, wie ignorant die Proatoginsten ihrer Umwelt zu begegnen scheinen. Ebenso zum Haareraufen ist die Dreistigkeit der Autoren, die Geschichte elendig in die Länge zu ziehen, so dass 3 Folgen hintereinander nicht das Geringste geschieht, obwohl man doch eigentlich ein entführtes Gruppenmitglied suchen und befreien wollte. Oder noch dreister: Einige Folgen sind nichts weiter, als reine Wiederholungen der vorangegangenen Folge. So haben zwei hintereinanderfolgende Teile der Serie (z.B. Folge 1 und 2 der zweiten Staffel) sogar den gleichen Cliffhanger, ohne dass auch nur irgendetwas Neues hinzugekommen wäre.
Was bleibt, ist die sture Neugier, endlich zu erfahren was es mit dem ganzen Zeug auf sich hat, das man sich nun schon seit Monaten immer wieder anguckt. Und das Gefühl, von den Autoren der Serie langsam aber sicher nur noch veräppelt zu werden: Spekulationen Über die Auflösung der Geschehnisse sind ebenso überflüssig und unangebracht wie sinnlos. Dabei ist es doch eigentlich genau das, was den Reiz einer solchen Mysteryserie ausmacht: Über die Hintergründe zu spekulieren. Leider gibt uns LOST hierfür viel zu wenig in die Hand, und leider vermitteln die Folgen zunehmend den Eindruck, dass sich die Autoren in ihren kleinen Untergeschichtchen hoffnungslos verzettelt haben. So steigt also mit fortdauernder Zeit nicht etwa die Spannung auf die Auflösung der Geschehnisse, sondern viel mehr die Angst, dass die ganze Geschichte über kurz oder lang ganz heftig gegen die Wand gefahren wird.
Ich für meinen Teil bin da mittlerweile sehr skeptisch.
Nachtrag:
Nachdem ich nun alle in Deutschland ausgestrahlten Folgen bis einschließlich Staffel 4 gesehen habe, möchte ich meine bisherigen Ausführungen über LOST etwas präzisieren.
"Etwas" präzisieren, weil es auch nach vier Staffeln nicht viel Neues zu berichten gibt. Man hat mittlerweile "die Anderen" kennengelernt, hat noch etwas mehr über die Hintergründe der Protagonisten erfahren, und es ist so einiges passiert auf der Insel.
Neue Erkenntnisse gewonnen hat man aber leider so gut wie gar nicht. Nach Staffel 4 kennen wir fast alle der Anderen mit Namen, haben unter ihnen gelebt, haben einige Geschehnisse aus ihrer Perspektive miterleben dürfen - aber gelernt haben wir so gut wie gar nichts. Weder über ihre Herkunft, noch über ihre Intentionen. Weder haben wir erfahren, was es mit dem "Monster" auf sich hat (außer dass es ebenfalls über völlig widersprüchliche Eigenschaften verfügt), noch lässt man uns wissen, wie eine Frau, die sechszehn Jahre lang auf einer Insel lebt, die man in maximal vier Tagesmärschen in jeder Richtung durchwandern kann, bisher weder den Hafen, noch das Dorf der Anderen entdeckt hat, nie dem "Monster" begegnet ist, ihre Tochter verzweifelt gesucht, aber nie gefunden hat (obwohl diese nur einen Tagesmarsch von ihr entfernt lebt), oder warum man auf dieser "völlig leeren Insel" plötzlich keine zehn Schritte mehr tun kann, ohne über verlassene Hütten und dutzende Zugänge zu unterirdischen Laboren zu stolpern.
Was sich nach wie vor wie ein roter Faden durch die Serie zieht, ist das mittlerweile schon physischen Schmerz bereitende Desinteresse der Protagonisten an ihrer Umgebung. Gelegenheiten zum Begreifen der Situation werden nie genutzt. Es werden so gut wie nie Fragen gestellt. Fast wie kleine bockige Kinder stellt man sich stur, gibt über sich möglichst nichts Preis, boykottiert gegenseitig jede Form der Zusammenarbeit, sowie jede Möglichkeit zum Wissens- und Gedankenaustausch.
Nach wie vor sind die Figuren Eigenbrödtler, die Wissen für sich behalten, die ihre Freunde anlügen, ihnen Erkenntnisse und Ideen vorenthalten, um nur ja nicht an den Mysterien der Serie zu rühren. Die Charaktere agieren immer unglaubwürdiger, und die Verstrickungen der Figuren untereinander werden ebenfalls immer lächerlicher. Der "grandiose" Cliffhanger der zweiten Staffel entpuppt sich alsbald als laues Lüftchen, auf das zu recht nie wieder eingegangen wird. Das alles wirkt mittlerweile so unrealistisch und billig, dass ein glaubwürdiges und einigermaßen logisches Ende der Geschichte für mich in nahezu unerreichbare Ferne gerückt scheint. Ich gewinne mit jeder Folge mehr den Eindruck, dass LOST nur noch in einem einzigen, gigantischen Mindfuck enden kann.
Verfolgt man die Diskussionen auf einschlägigen Fanseiten wird deutlich, dass die eingefleischten Fans alle Ungereimtheiten der Serie wohlwollend beiseite legen, und auf die vermeintliche Genialität der Macher hoffen, die ich allerdings nirgends auch nur ansatzweise durchblitzen zu sehen vermag. Im Gegenteil häufen sich bei kritischer Betrachtung der Folgen immer mehr Ungereimtheiten und offensichtliche Fehler, die mit Mystery so gar nichts mehr zu tun haben. Hier wird für mein Dafürhalten einfach nur schlampig gearbeitet und auf den guten Willen der Fanbase gebaut.
Kleines Beispiel? In der dritten Folge sehen wir, wie das Flugzeug in 10.000 Metern Höhe in ein Luftloch gerät. Kurz darauf bricht die Maschine auseinander. In dieser Szene kann man aus dem Innern des Flugzeugs die Wolken von oben betrachten. Verzweifelt greifen die Passagiere wegen der dünnen Luft in dieser Höhe nach ihren Sauerstoffmasken.
In einer viel späteren Folge sieht man den Absturz aus Perspektive der Insel. Hier bricht die Maschine plötzlich etwa 500 Meter über dem Boden auseinander.
Auch scheinen so einige Charaktere der Serie im Nachhinein umgeschrieben worden zu sein. So machen einige der Figuren eine Wandlung durch, die ihrem Wesen beim Absturz auf die Insel so völlig widersprechen. Anfangs lernen wir den Koreaner Jin als despotischen und eifersüchtigen Gatten kennen, der seiner Frau nicht die kleinste Freiheit gönnt, sie von den anderen Überlebenden abschottet und gängelt, wo es nur geht. Selbst ein dahingesagtes "Ich liebe Dich" klingt aus seinem Mund wie blanker Hohn. Auch warnt seine eigene Frau einen der anderen Überlebenden davor, wozu ihr Mann fähig sein kann. Wir vermuten in Jin also zurecht einen durchgeknallten Psychopathen.
Doch halt! Plötzlich lernen wir, dass Jin in Wahrheit schon immer ein unglaublich fürsorglicher und rücksichtsvoller Ehemann war, der lediglich (zugegebenermaßen große) Probleme mit dem Vater seiner Braut hatte, die er aber, nur um mit ihr verheiratet sein zu dürfen, allesamt mutig ertragen hat. Zu seiner Frau war er hingegen immer zuvorkommend, einfühlsam und rücksichtsvoll.
Warum behandelt er sie also kurz nach dem Absturz wie eine missliebige Leibeigene?
Und dann habe ich noch ein Beispiel: "Die Anderen" schützen ihr Dorf durch ein elektromagnetisches Schutzfeld, das man ganz einfach überwinden kann, wenn man über einen der Pfeiler dieses "Zauns" klettert. Sowohl für das "Monster" als auch für eine fiese "Spezialeingreiftruppe" stellt der eingeschaltete Zaun jedoch ein unüberwindliches Hindernis dar. Soldaten können anscheinend nicht klettern, und das Monster kann zwar durch die Baumwipfel schweben (warum diese zu Anfang der Serie immer umgeknickt werden, ist mir nach wie vor ein Rätsel), aber über einen drei Meter hohen Zaun kann es eben nicht fliegen.
Solcherart Ungereimtheiten offenbart die Serie mit zunehmender Dauer immer mehr (und weitaus drastischer, als die von mir angeführten Beispiele), so dass als einzige, versöhnliche Erklärung für alles eigentlich nur noch ein surealistischer Traum, oder das Nahtoderlebnis eines der Protagonisten möglich scheint. Und das wäre nach sechs Staffel wirklich ein bisschen billig...
Was bleibt, ist der Suchtfaktor, der irgendwann allerdings vor allem darin besteht, endlich zu erfahren, was man da eigentlich vier Jahre lang angeschaut hat.
Ach ja: Einen bitteren Beigeschmack haben auch die DVD-Extras bei mir hinterlassen. Vor allem, wenn man sich die "flapsige" Haltung der Macher zu ihrer Serie anhört, kommt sehr schnell der Verdacht auf, dass LOST eigentlich nur aus einer einzigen, effektvoll inszenierten Luftblase besteht.
Wie sehr wünsche ich mir, dass ich mich irre...