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Staffel 1

Entweder man liebt es oder man hasst es: „Lost“ scheint die Zuschauer zu spalten wie kaum eine andere aktuelle Serie, von vielen von vorne herein abgelehnt, von den Fans abgöttisch verehrt. Mittlerweile erscheint sogar in Deutschland ein eigenes Begleit-Magazin und der Kult greift immer weiter um sich. Betrachtet man die 2004 veröffentlichte erste Staffel des Hits objektiv, so wird ganz schnell klar was den Erfolg ausmacht und auch warum leicht Vorurteile aufkommen können. Konzeptionell bietet man nichts wirklich neues, die geschickte Verquickung verschiedener Genres macht aber einen ganz besonderen Reit aus. Die Story, welche bekannt sein dürfte, bedient sich ziemlich offensichtlich der Grundidee von William Goldings legendärem Roman „Lord of The Flies“. Dort stürzt ebenfalls ein Flugzeug auf einer unbekannten Insel ab, doch während im Literaturklassiker eine Gruppe junger Teenager überlebt, so hat man es hier mit einem bunt zusammen gewürfeltem Haufen zu tun.

Es gibt noch weitaus mehr Verbindungen zum Roman, doch dazu später. Wichtig für die Funktion der Serie ist der geschickte Erzählstil: In jeder Episode gibt es mehrere Rückblenden zu sehen, meist konzentriert sich eine Folge auch auf einen bestimmten Charakter. Stets werden uns nur Puzzleteile vorgelegt, die erst später sinnvoll erscheinen und mit der Zeit immer weiter ergänzt werden. Dieser elegante Stil erlaubt es die Figuren oftmals in ein völlig anderes Licht zu stellen als zunächst vermutet und den Zuschauer somit hinters Licht zu führen. Hieraus resultiert auch ein hohes Erzähltempo, obwohl auf der Insel nicht sehr viel passiert. Die Spannung wird somit auf vielen Ebenen aufrechterhalten und nahezu jeder Handlungsstrang entwickelt seine ganz eigene Dynamik. Die Funktionsweisen von verschiedenen Genres werden stimmig kombiniert, dabei bedient man sich sowohl im Action-, Horror-, Mystery-, Thriller-, und Abenteuergenre. Die Dreharbeiten auf Hawaii gewährleisten atemberaubende Panoramabilder und eine authentische Tropenatmosphäre.

ABC steckte bisher nie da gewesene Kosten in die Produktion, alleine der Pilotfilm hat ein Budget von sage und schreibe 18 Millionen Dollar. Gedreht auf hochwertigem HD-Material, ausgestattet mit starken visuellen und akustischen Effekten – technisch kann man sich sicher nicht beschweren, die rasanten Schnitte und die perfekte Kameraführung werden einem Kino-Blockbuster in jeder Form gerecht. Kein Wunder, schließlich betraute man J.J. Abrams mit der Gesamtleitung, der mit „Alias“ schon eine erfolgreiche Serie kreiert hatte und aufgrund der großartigen Inszenierung beider Serien wurde Abrams schließlich auch ein Debüt im Kino zugestanden – als Regisseur für „Mission Impossible 3“ setzte er sich gegen viele namhafte Kollegen durch. Mit „Lost“, „Grey’s Anatomy“ und „Desperate Housewives“ hat ABC im Moment drei der am besten laufenden Serien überhaupt am Start und macht HBO ernsthafte Konkurrenz.

Interessant sind vor allem die zahlreichen Interpretationsmöglichkeiten, angefangen bei den soziologischen und psychologischen Beobachtungen über offensichtlich religiöse Motive bis hin zum mysteriösen Geheimnis der Zahlen 4, 8, 15, 16 und 42. Vor allem der radikalen Fan-Fraktion gibt die Vieldeutigkeit der Serie jede Menge Futter für ausgedehnte Diskussionsrunden und mannigfaltige Spekulationen. Die Gruppendynamik erinnert ebenfalls an „Lord of The Flies“, wahrscheinlich ist es auch kein Zufall das in beiden Werken einer der führenden Hauptcharaktere Jack heißt, unzählige weitere Anspielungen finden sich im Verlauf der Handlung.

Die Originalmusik von Michael Giacchino ist feinfühlig komponiert und untermalt das Szenario immer ansprechend. Trotz vieler Schicksalsschläge driften die Dialoge auch niemals in falsches Pathos ab, die Drehbücher wirken geschliffen wie Diamanten. Doch die Serie wäre nichts ohne das fantastisch aufspielende Ensemble, welches bestens gecastet ist und ethnisch sehr gut gemischt. Die Überschneidungen in den Geschichten der einzelnen Personen werden dezent angedeutet und später sicher noch eine wichtigere Rolle spielen. Alle Handlungsverläufe und Wendungen sind meisterlich konstruiert und nicht zu überspitzt. Weniger könnte in den folgenden Staffeln mehr bedeuten, letztendlich läuft aber alles auf die kommenden Auflösungen hinaus. Was prominente Gesichter angeht, so stechen eigentlich nur Harold Perrineau („Romeo und Julia“, „Matrix: Reloaded“) und Dominic Monoghan (Merry aus der „Herr der Ringe“-Trilogie von Peter Jackson) heraus, doch auch die restlichen Darsteller verfügen über ausreichend Talent und Erfahrung; jeder einzelne stellt dies unter Beweis.

„Lost“ fährt auf einer schmalen unsicheren Schiene und könnte mit dem weiteren Handlungsverlauf leicht entgleisen. Bei so viel aufgebauschter Spannung dürfen den kreativen Köpfen nicht die Ideen ausgehen, eine banale Auflösung würde viel zerstören in der Gesamtqualität der Produktion. Ausgehend von der ersten Staffel bin ich persönlich aber zuversichtlich, dass noch viele Überraschungen auf den Zuschauer zukommen und die trickreichen Wendungen nicht so schnell an Reiz verlieren werden. Der ernste Duktus wird nur selten von leiser Ironie durchbrochen, menschliche Abgründe werden genauso offenbart wie Mut, Tapferkeit und Hilfsbereitschaft. Sich auf Löcher in der Logik zu stürzen oder einige (zu verschmerzende) Klischees zu kritisieren ist zwar ohne weiteres möglich, wenn man sich auf die fesselnde Handlung einlässt sind aber Kleinigkeiten zu verschmerzen.

Fazit: Die aufwendige ABC-Produktion gehört mit Sicherheit zu den hochkarätigsten TV-Serien überhaupt und die erste Staffel setzt bereits die Messlatte sehr hoch. Insgesamt wirkt „Lost“ wie ein frischer Wind, innovativ und einfach unerträglich spannend. Inszenatorisch und inhaltlich auf hohem Niveau, glaubwürdig gezeichnete Charaktere, emotional sehr ausgewogen – alles was eine gute Serie braucht ist hier vereint und in der Fernseh-Unterhaltung werden neue Maßstäbe gesetzt. Extrem hoher Suchtfaktor!

8,5 / 10

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