L. O. S. T.
Vier große weiße Buchstaben auf schwarzem Grund, die auf den Zuschauer zuschweben, untermalt von unheilschwangeren Klängen. Verloren im Dunkel, scheinbar ziellos, ohnmächtig treibend. Kaum jemals zuvor war ein Serienvorspann so kurz und doch so prägnant und vielsagend wie bei dieser einzigartigen Serie.
Denn genau darum geht es: um einige Dutzend Menschen, die nach einem (atemberaubend effektvoll in Szene gesetzten) Flugzeugabsturz auf einer einsamen Insel irgendwo im Südpazifik stranden und nun irgendwie klarkommen müssen. Daraus könnte man eine simple multiple Robinsonade machen, eine Art „Verschollen“ ohne Tom Hanks, sondern mit einer Vielzahl von Menschen. Wie Nahrung und Wasser beschaffen, Schutz vor dem Wetter und vor Krankheiten suchen usw. usf. Das Übliche halt.
Weit gefehlt. Der Anfang der ersten Staffel handelt natürlich auch davon. Doch schon bald geht es um weit mehr. Denn dieses Eiland zeigt immer mehr Merkwürdigkeiten, die man auf einer palmengesäumten Trauminsel eher nicht erwarten würde: Bäume knicken wie Streichhölzer um, Halluzinationen erscheinen wie wahre Begebenheiten, unidentifizierbare Geräusche erklingen, dunkle Dämpfe wabern durch den Dschungel. Ein Rollstuhlfahrer kann auf einmal wieder gehen, eine Krebskranke ist plötzlich geheilt. Was soll das? Wie geht das?
Und damit noch nicht genug. Die Überlebenden sind ganz offensichtlich nicht die einzigen Menschen auf dieser Insel. Es gibt noch andere, und niemand kennt ihre Absichten. Es wird nur klar, dass sie eine Gefahr bilden.
Die neuen Inselbewohner also sind konfrontiert mit einer eher feindlichen und unheimlichen Umgebung – und mit sich selbst. Denn sie ziehen nicht unbedingt an einem Strang, um den Gefahren zu begegnen, von der Insel wegzukommen oder die Geheimnisse zu lüften. Ein Haufen unterschiedlichster Charaktere traut oder misstraut sich, kommt zusammen oder geht sich lieber aus dem Weg. Dem Zuschauer wird es dabei nicht soapmäßig einfach gemacht: Es gibt hier weder den makellosen strahlenden Helden noch den absoluten intriganten Bösewicht. Abseits von solch einem Schwarz-Weiß-Schema haben wir es mit vielschichtigen, oft in sich zerrissenen und dadurch umso glaubwürdigeren und interessanteren Charakteren zu tun. Zugute kommt den Charakterzeichnungen, dass für eine Serie überdurchschnittliche Schauspieler –darunter auch einige bekannte– engagiert wurden.
In fast jeder Folge werden die einzelnen Charaktere jeweils durch Rückblenden in ihr normales Leben vorgestellt und vertieft. Dabei entdeckt der Zuschauer neben manch überraschender Biografie, dass sich der Titel „Lost“ nicht nur auf die Situation auf der Insel bezieht, sondern auch auf jede der Personen in ihrem zivilen Leben: Keiner ist vor dem Absturz glücklich und zufrieden gewesen; jeder war schon auf seine eigene Art verloren in seiner Tragödie, seinen Erinnerungen, seinen Enttäuschungen. Das Gesamtbild, das „Lost“ zeichnet, stellt die zunehmende Vereinzelung und das Auseinanderdriften in der modernen Gesellschaft dar.
Es kommt mit der Vorstellung der Personen aber noch etwas überaus Mysteriöses hinzu: Viele der Charaktere kannten sich bereits vorher, hatten miteinander zu tun, meistens ohne es jetzt zu wissen. Und damit schließt sich der Kreis: Was verbindet ihr bisheriges Leben mit dem, was auf der Insel geschieht? Der Zuschauer bekommt hier einen kleinen Wissensvorsprung geschenkt: Er kennt gewisse Verbindungen, während die Figuren fast ahnungslos umherirren. Zunächst scheint es, dass den Gestrandeten ein totaler Neuanfang möglich ist auf der Insel. Und doch holt die Vergangenheit die Menschen immer wieder ein. Seine Wurzeln kann ein Mensch eben nie loswerden.
Im Hintergrund scheint noch etwas viel Größeres zu dräuen, was mit jeder Folge unheimlicher und komplexer wird. „Lost“ schafft es, eine Spannung aufzubauen, indem dem Zuschauer episodenweise neue, mal kleine, mal größere Häppchen hingeworfen und bisweilen falsche Fährten gelegt werden. Bei der Erhaltung der Spannung wird taktisch verzögert, indem Cliffhanger nicht sofort am Anfang der nächsten Folge aufgelöst werden und bei der Beantwortung einer Frage sogleich zwei neue gestellt werden.
In der ersten Staffel führt diese Strategie allerdings dazu, dass viele Folgen durchhängen. Nichts Neues zum Hintergrund, sondern bloße Vorstellung der Charaktere sind dann deren Ziel. Und nicht jeder Charakter ist gleich interessant. Diese Exposition geduldig zu verfolgen, lohnt sich aber! In der zweiten Staffel kann man die Charaktere dadurch in ihrem Tun besser einschätzen und nachvollziehen, und es wird begonnen, die Fragen zu beantworten. Hier hängt kaum mehr etwas durch, hier verzweigen und vertiefen sich die Handlungsstränge, hier kann alles passieren. Die ersten Geheimnisse werden enthüllt – und neue tun sich auf.
Die insgesamt gekonnte passende Verknüpfung der Erzählebenen um die unerwartet rätselhafte Insel, wobei nicht klar ist, ob das alles wissenschaftlich erklärbar ist, erzeugt eine beunruhigende Grundstimmung beim Zuschauer. Verstärkt wird sie durch die Wackelkamera, durch deren Wirken man glaubt, man stehe gleich neben den Menschen auf der Insel, und durch die düstere Musik, die nur bei den wenigen erfreulichen Ereignissen fröhlicher ertönt.
Und eine alte große Frage stellt sich auf der Insel in Miniaturform: Ist unser Leben in seinen Einzelheiten vorherbestimmt – oder ist alles nur blinder Zufall, was geschieht? Sind diese Menschen nur zufällig an der Stelle abgestürzt – oder hat die Insel sie zu sich geholt, weil jeder eine bestimmte Aufgabe hat? Ob die Beantwortung dieser Frage drei, fünf oder gar acht Staffeln lang spannend aufgeschoben werden kann, hängt ganz von der Fantasie der Macher ab. Dem Erfinder und Produzenten J.J. Abrams jedenfalls ist es mit „Alias“ und „Lost“ gelungen, Mystery neu zu definieren. Dies war angesichts der Langeweil-Schwemme nach „Akte X“ auch dringend notwendig. Wir verzeihen einige durch das Konzept unvermeidbare Logiklücken, wie die schnelle äußere Veränderung einiger Personen innerhalb weniger Serientage (da nun mal einige Monate in echt), und hoffen auf die Beibehaltung, wenn nicht sogar Steigerung der Qualität der zweiten Staffel für die weitere Serie.
7,5 von 10 Punkten.