Der Teufel ist ein Eichhörnchen
„Sind Sie vom Jugendamt?“
Für Kriminalhauptkommissar Jan Casstorffs (Robert Atzorn) achten Hamburger Fall innerhalb der „Tatort“-Krimireihe verfilmte Regisseur Daniel Helfer ein Drehbuch Elke Schuchs und Marc Blöbaums, Helfers nach „Rückfällig“ (1995) und „Mietsache“ (2003) dritter „Tatort“. Das Ergebnis ist die Episode „Verlorene Töchter“, die am 21.11.2004 erstausgestrahlt wurde. Der Fall kombiniert eine Krimihandlung mit einem psychologischen Drama.
Eine Clique minderjähriger Mädchen verbringt seine Freizeit mit Diebstählen und gewalttätigen Übergriffen, wenn sie nicht gerade abhängt, Videofilme schaut und sich zudröhnt. Ihren Mitmenschen und auch der Polizei gegenüber tritt sie komplett respektlos auf. Dies bleibt zunächst auch so, als Ronja (Lulu Grimm, „Emil und die Detektive“), eine ihrer Freundinnen, von einem Turm gestürzt tot aufgefunden wird. Casstorff, der zusammen mit seinem Kollegen Eduard Holicek (Tilo Prückner) und seiner Kollegin Jenny Graf (Julia Schmidt) ermittelt, beißt auf Granit. Durch ihre beharrliche Beobachtung der Mädchen und immer neue Versuche, mit ihnen ins Gespräch zu kommen, erhalten die Ermittler(innen) jedoch nach und nach Einblicke ins Leben der Delinquentinnen, in deren Folge sich zumindest die türkischstämmige Fatma (Jasmin Aksan, „Führer Ex“) gegenüber Casstorff und Lucy (Charlotte Buschner), die ihren dementen Großvater pflegt, gegenüber Graf etwas öffnen. Die Spur führt zu deren Mitschüler Piet (Yanik Zitzmann), der regelmäßig von den Mädchen überfallen und gedemütigt wurde. Ronjas Cousine, die introvertierte Marie (Marie-Therese Katt, „Mitfahrer“), wiederum ist auf sich allein gestellt, weil sich ihre Eltern gerade ohne sie im Urlaub befinden, und hat den Hass der Clique auf sich gezogen, der sie Obdach in der elterlichen Wohnung gewährt hat. Marie zieht zu Ronjas verzweifelter alleinerziehender Mutter (Inga Busch, „Alles auf Zucker!)“ auf deren Hausboot und beginnt, in ihr eine Ersatzmutter zu sehen…
„Verlorene Töchter“ bemüht das Klischee schwieriger Familienverhältnisse bzw. zerrütteter Familien, um das Verhalten der Clique zu erklären. Dabei schießt man mitunter, beispielsweise im Zusammenhang mit den Türkenklischees um Fatmas Person, übers Ziel hinaus. Neugierig macht, dass weder Täter(in) noch Motiv bekannt sind und man als Zuschauer(in) ebenso im Dunklen tappt wie die Ermittler(innen), die sich für jeden noch so kleinen Teilerfolg eine Vielzahl an Respektlosigkeiten bieten lassen müssen und mitunter selbst nicht wissen, ob sie nicht schlicht permanent an der Nase herumgeführt werden. Das ist ebenso wie provokant wie unterhaltsam, wenngleich die unruhige Kameraführung mehr stört, als dass sie für Dynamik sorgen würde.
Schließlich ist es Jenny Graf, die mit weiblicher Intuition und Einfühlungsvermögen vorankommt, während ihre männlichen Vorgesetzten und Kollegen noch immer rätseln. Dies führt zu einem polizeiinternen Konflikt, in dessen Zuge das Autoritätsgefälle zwischen Casstorf und Graf zutage tritt, wodurch zugleich Kritik an eben jenem geäußert wird. Immerhin konnte Graf in Erfahrung bringen, dass Lucy in Ronja verliebt war und mit ihr Stunt-Übungen auf dem Dach des Turms durchführte, Ronja aber nicht mit ihr nach Los Angeles gehen wollte – womit sich der Kreis der Verdächtigen nach ca. einer Stunde erweitert. Als Lucy plötzlich verschwindet, überschlagen sich im letzten Drittel die Ereignisse; auf einen Selbstmordversuch folgt eine überraschende Wendung, die aus dem Fall ein abgründiges psychologisches Drama macht.
Dieses ist es dann auch, das „Verlorene Töchter“ ungemein aufwertet und zu mehr macht als einer groben Skizze solcher Mädchen und Frauen, deren Leben bisher mehr Enttäuschungen als Glücksmomente bereithielt und die unterschiedlich darauf reagieren, denen jedoch allen eine mal mehr, mal weniger offen nach außen dringende Aggressivität innewohnt. Die Agenda, die dieser „Tatort“ dabei vertritt, ist die der soziologischen Pädagogik, niemanden aufzugeben und beharrlich zu versuchen, das Vertrauen zu gewinnen, um an die Problemursachen herankommen zu können. Den brisant diskutierten Aspekt, inwieweit auch Maßregelungen und Strafen dazu beitragen und entsprechende Wirkung erzielen können, spart man unterdessen aus. Vielmehr handelt es sich um ein Plädoyer für Geduld und Besonnenheit, das hier und da mit etwas Erklärbärerei innerhalb der Dialoge angereichert wurde und den damaligen Hit der Gruppe Rosenstolz, „Lass es Liebe sein“, ebenso prominent wie pathetisch präsentiert.
Der Fokus aufs weibliche Geschlecht macht nicht zuletzt aufgrund der überzeugenden Jungschauspielerinnen Spaß, die vollkommen unterschiedliche Typen verkörpern und eine fragile Zweckgemeinschaft bilden. Dankenswerterweise ist man kaum versucht, sich in die Richtung eines schmierigen „Schulmädchen-Reports“ zu bewegen, wenngleich sich mit dem Plottwist zu den bereits genannten Klischees eine alles andere als repräsentative, ziemlich unwahrscheinliche Komponente gesellt – man also sein eigenes sozialdramatisches Kriminal-Sujet verlässt, um einen höheren Unterhaltungsfaktor zu erzielen.