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"Santa Sangre" nimmt den Zuschauer bei der Hand und entführt ihn in eine absurde Welt, in der es um Mord, Heilige, Zirkusartisten und Prostituierte geht. Es ist ein Werk von Alejandro Jodorowsky, um genau zu sein, das Werk, das er über 10 Jahre nach seiner Enttäuschung mit dem Desaster "Tusk" drehte. Es war mal wieder Zeit für ein Meisterwerk. "Santa Sangre" geht wieder zurück zu den Ursprüngen Jodorowskys Erfolg, zu den Wurzeln, aus denen seine Kultklassiker "El Topo" und "Montana Sacra" entstanden, ohne sie jedoch nur annähernd zu plagiieren oder zu versuchen an ihnen anzuknüpfen.

Im Gegensatz zu den "El Topo" und "Montana Sacra" befinden wir uns in "Santa Sangre" nicht in einer vordergründig phantasmagorisch-verzerrten Spiegelwelt, sondern in einem relativ realitätsnahen Mexiko, das allerdings - wie könnte es anders sein - als Schauplatz für arg surreale Dinge dient. So muss man hier auf die bizarren Bildbombasmen á la "Montana Sacra" verzichten, bekommt dafür aber dennoch ein durchaus zufriedenstellendes Exzerpt der surrealen Kreativität Jodorowskys. Am Erstaunlichsten ist im Falle von "Santa Sangre" eine Sequenz, in der ein toter Elefant in einem gigantischen Sarg einen Abhang heruntergestürzt wird. Unten angekommen wird der prächtige Sarg von hungrigen Dorfbewohnern aufgerissen, und der darin befindliche Kadaver wird zur Versorgungsquelle. Neben solch gleichsam wunderschönen und verstörenden Bildern setzt Jodorowsky wieder sein übliches Pensum an "Freaks" ein: Die Zirkusattraktionen sind farbenfroh und eigentümlich, es kommt ein obligatorischer Zwerg vor und es werden Mongoloide als Irrenanstaltsinsassen eingesetzt, die dem Film einen Dokutouch geben.

"Santa Sangre" erzählt die Geschichte des jungen Fenix, der als Mitglied eines Wanderzirkus aufwächst. Sein Vater Orgo ist ein tätowierter Messerwerfer, dessen Messer Symbole für seine sexuellen Begierden sind. Seine Mutter, eine Trapezartistin, hingegen ist eher begeisterungsfähig für die Religion, als für fleischliche, weltliche Lust: Sie leitet eine Kirche, in der ein Pool voller roter Farbe steht. Die rote Farbe soll das "Heilige Blut" einer angeblichen Heiligen versinnbildlichen, der in der Kirche einst die Arme abgeschnitten und missbraucht wurde. Doch die christlichen Autoritäten wenden sich von ihrem fehlgeleiteten Glauben ab, und lassen die Kirche zerstören. Nicht nur das, sie muss Orgo auch zusammen mit einer anderen, ganzkörpertätowierten Frau erwischen. Mittels einer Säure verätzt sie ihm seine Genitalien, und noch bevor er an den Nachwirkungen stirbt, trennt er ihr ihre Arme vom Körper ab - ganz so wie der "Heiligen", die sie immer so verehrte. Und nun das Fatale: Der junge Fenix wurde Zeuge dieses abartigen Mordes.

Jahre später sehen wir den erwachsenen Fenix in einer Irrenanstalt komplett vereinsamt und desozialisiert dahinvegetierend. Als urplötzlich seine Mutter wieder vor ihm steht, befiehlt sie ihm ab sofort ihre Hände zu ersetzen. Von nun an steckt Fenix seine Hände von hinten in ihr Kleid hinein und agiert völlig willenlos auf Geheiß seiner "heiligen" Mutter. Das die Mutter eifersüchtig und herrschsüchtig ist, zeigt sich daher, dass sie ihren Sohn dazu nötigt, jede Frau abzuschlachten, zu der er körperliche Zuneigung empfindet. Das ödipale Duo wird zu einer gefeierten Kabaretattraktion, und nur Alma, ein stummes Mädchen aus Fenix' Vergangenheit scheint das bösartige Schicksal aufbrechen zu können.

Inhaltlich hält uns Jodorowsky kaum etwas wirklich Neues vor. So ist die Geschichte eine Bunuel'sche Interpretation von Hitchcocks Norman Bates-Figur, und sogar die finale Auflösung aus "Santa Sangre" erinnert an "Psycho". Ganz anders als in seinen bekannteren Filmen versucht Jodorowsky gar nicht erst das Geschehen durch orgiastisch-aufgeplusterte Effekte zu verschlüsseln, sondern zeigt uns relativ konkret, was er uns erzählt. Sicherlich, hin und wieder schwenkt er ins Irreale aus, zum Beispiel wenn Fenix auf einem Friedhof mit seinen zum Leben erwachenden Opfern konfrontiert wird, oder in einer wunder-, wunder-, wunderschönen Szene, in der sich Fenix und Alma erstmals küssen und ein Kran sie bis unter die Decke hebt, und die Kamera ihnen bedingungslos bis in den buchstäblich "siebten Himmel" des Bauwerkes folgt; im Großen und Ganzen jedoch bleibt Jodorowskys Regie "down to earth". Anders, als uns zum Nachdenken zu bringen, und abstoßen zu wollen, schafft es Jodorowsky hier, uns der pure Emotionalität der Geschehnisse beizuwohnen. Viele seiner Sequenzen strotzen nur so vor starken Emotionen, ohne viele Worte zu verlieren - man denke nur einmal an viele der Szenen mit der stummen Alma, oder an die Tätowierungsszene mit Orgo.

Mit Claudio Argento, dem Bruder des italienischen Giallo-Königs Dario, als Ko-Drehbuchautor entstanden natürlich auch die relativ grafischen Mordszenen, die letzten Endes so detailverliebt gestaltet worden sind, dass es zu einem NC-17-Rating in den USA kam.

Wer bereit ist, sich durch zwei Stunden "Jodorowsky für Fortgeschrittene" zu kämpfen, dem eröffnet sich ein inhaltlich und optisches wunderschönes Porträt eines grauenhaften Schicksals, angefüllt mit Referenzen an Freud, Jung, Hitchcock, Fellini und Bunuel. Die karnivalistische, "foreign art film"-Version von "Psycho", mit dem eigenwilligen Score und dem massiven Symbolismus ist ein großartiges, wenngleich auch sehr sperriges und massenunkompatibles Stück Film.

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