Ein beeindruckendes Werk, das uns Herr Jodorowsky hier vorsetzt. Beeindruckend deshalb, weil es beweißt, das künstlerischer Anspruch nicht zwangsläufig der Unterhaltsamkeit zuwiderläuft. Mit älteren Filmen des Regisseurs bin ich leider nicht vertraut und ich hoffe, er verzeiht mir die vielleicht etwas oberflächliche Betrachtungsweise, aber für eine durchdringende Interpretation des Films fehlt es mir schlichtweg an Hintergrundinfos, Zeit und dem nötigen Sachverstand. Deshalb nur meine Sicht der Dinge:
Jodorowsky verkleidet bierernste psychoanalytische Theorien in filmischen Symbolismus, der dank einer ausgefeilten Dramaturgie einfach nur bildgewaltig wirkt, auf der Handlungsebene also unterstützt. Genug fabuliert. Kommen wir zur Inhaltsangabe:
Fenix ist ein kleiner Junge, der in einem Zirkus irgendwo in Mexiko aufwächst. Sein Vater Orgo ist ein machohafter Alkoholiker/Messerwerfer, seine Mutter eine verblendete Priesterin/Trapezkünstlerin, die irgendwo am Rande der christlichen Heilslehre eine angebliche Heilige anbetet, welche in früherer Zeit zwei Arme abgeschlagen bekam. In einer selbstgebauten Kirche versammelt sich ihre Anhängerschaft um ein Becken voll mit Blut, was dem örtlichen Kirchenoberhaupt gar nicht gefällt. Er lässt die Kirche abreißen. Es gibt Clowns und Musikanten, einen sterbenden Elefanten und eben alles, was einen Zirkus so ausmacht. Als aber die eben noch mit sich beschäftigte Mutter Fenix ihren Gatten beim Liebesspiel mit der neu zum Zirkus gestoßenen tätowierten Frau erwischt, eskaliert die Situation. Fenix muß mit ansehen, wie sein Vater seiner Mutter beide Arme abschlägt und sich dann selbst richtet. Die Ertappte (femme fatale) flieht mit ihrer taubstummen Tochter Alma, welcher der junge Fenix sein Herz geschenkt hat.
Er ist nun ganz allein...
...wäre seine Mutter nicht noch am Leben, mit der er als menschliche Prothese eine Variete-Show bestreitet. Sie nutzt dieses Abhängigkeitsverhältnis geschickt aus, um ihre Dominanz gegenüber Fenix dank seines ausgeprägten Schuldbewusstseins zu untermauern. Das geht sogar soweit, dass er sich die Morde an Frauen diktieren lässt, zu denen er sich sexuell hingezogen fühlt.
Und nun beginnt die Interpretation: Ödipuskomplex, verdrängte Homosexualität, Schizophrenie. Ein ganzes Arsenal psychoanalytischer Grundmuster wird hier aufgefahren, um den Betrachter in eine triebhafte und reichlich abgründige Welt hineinzuführen, ein wahrgewordener surrealer Albtraum. Es läuft alles nach einem bestimmten Muster ab, es gibt nichts Normales mehr, keine Nebensächlichkeiten, was den traumhaften Charakter der Situationen und Szenarien unterstreicht. Man kann sich ein Leben in dieser Welt außerhalb des Films nicht so recht vorstellen. Die Figuren sind grotesk überzeichnet und kehren ihre inneren Schwächen nach außen. Allein Fenix, der sich zu Anfang des Films als wilder Verrückter auf einem Baum in der Irrenanstalt an seine Geschichte erinnert, verkörpert ein Stück weit Aufbegehren gegen eine zwischenmenschlich entfremdete Welt. Wer also mit der Lektüre Freuds bewandert ist, wird am akribischen Sezieren der metaphorischen Bilder seine Freude haben (und wahrscheinlich Puzzle- für Puzzleteilchen zusammenfügen), aber der Film funktioniert dank seiner Geradlinigkeit auch auf einer rein emotionalen Ebene, wenn auch umso verstörender.
Schauspielerisch auf höchstem Niveau werden rührende Szenen zwischen den jungen Liebenden dargeboten und auch das recht eigentümliche Mutter-Sohn-Verhältnis bietet einiges an visueller Faszination. In zu schöne unwirkliche Bilder getaucht, mit einer imposanten Kamerafahrt zu Beginn des Films, einigen sehr ausführlichen Mordszenen und einem superben Soundtrack ist Santa Sangre für mich eine der schönsten Offenbarungen in Sachen Filmkunst, der ich dieses Jahr beiwohnen durfte. Und es beweißt, und von dieser Meinung muss ich andauernd und recht penetrant meinen Mitmenschen gegenüber Gebrauch machen, dass Kino mit Anspruch auch hohen Unterhaltungswert zu schaffen vermag.
Ich wünsche mir mehr davon.
10/10