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Vor vier Jahren verzauberte uns der französische Regisseur Jean-Pierre Jeunet mit seinem Wunderwerk „Die fabelhafte Welt der Amelie“. Jetzt ist sein nächster Film, „Mathilde – Eine große Liebe“, bei uns in die Kinos und die Frage ist: Kann Jeunet den Level von „Die fabelhafte Welt der Amelie“ halten? Die Antwort: Er kann! Und wie er kann!

Jeunet beglückt den Zuschauer wieder mit einer Fülle von skurrilen Figuren, vielen witzigen Einfällen und unzähligen kleinen Details, von denen einem beim ersten Ansehen sicher nur die Hälfte auffällt.

Aber das wichtigste ist: Jeunet bietet auch jetzt wieder eine tolle Geschichte! Eine Geschichte, aus der ein weniger begabter Regisseur sicher in ein gutes, aber im Grunde gewöhnliches, auch pathetisches Kriegsdrama gemacht hätte. Aber Jeunet belässt es nicht bei einem Drama. Sein Film ist auch eine Liebesgeschichte, ein Krimi und ganz nebenbei noch ein Anti-Kriegs-Plädoyer, bei dem auf Pathos komplett verzichtet wird. Es drängt sich die Frage auf: Kann das alles nebeneinander funktionieren? Die Antwort: Es kann! Und wie es kann!

Die Geschichte beginnt im Jahre 1920. Die mit einem steifen Bein gezeichnete Mathilde lebt mit ihrem Onkel und ihrer Tante am Meer. Ihr Verlobter ist vor einigen Jahren zum Kriegsdienst eingezogen worden und seither nicht mehr zurückgekehrt. Die Vermutung liegt nahe, dass ihr Verlobter gefallen ist. Aber Mathilde will das nicht glauben und macht sich nun daran, herauszufinden, was mit ihrem Verlobten geschehen ist. Sie weiß, dass ihr Verlobter im Krieg mit vier anderen Soldaten wegen Selbstverstümmelung zum Tode verurteilt wurde, dann verliert sich seine Spur. Sie beauftragt einen Privatdetektiv, den Verbleib der vier anderen Soldaten zu klären, stellt aber auch eigenen Nachforschungen an. Die Personen die der Privatdetektiv und Mathilde im Verlaufe ihrer Ermittlungen treffen, erzählen nun Stückchen für Stückchen, was sie über die Vorkommnisse in Bingo Crepiscule, so der seltsame Name des Schützengrabens, in dem ihr Verlobter Soldat war, selbst wissen, zu wissen glauben oder was sie erzählt bekommen haben. Ganz nebenbei erfährt man übrigens so die Geschichten aller fünf zum Tode verurteilten Soldaten.

Im Verlaufe der Ermittlungen kommt es immer wieder zu den Jeunet-typischen, teilweise urkomischen, aber auch völlig überraschenden Zwischenspielen, die als willkommener und gar nicht unpassender Kontrast zu den Bildern der traurigen Kriegserlebnisse eingeschoben werden:
Da ist z. B. die Episode, in der Mathilde in einer Bibliothek Zugang zu Unterlagen aus dem Krieg erlangen möchte. Ihrem Helfer ist das gar nicht recht, also gaukelt sie ihm vor, der Zustand ihres Beines hätte sich derart verschlechtert, dass sie im Rollstuhl sitzen muss. In diesem Rollstuhl versteckt sie schließlich in einem unbeobachteten Moment die gestohlenen Unterlagen. Als sie mit ihrem Rollstuhl aus dem Fahrstuhl der Bibliothek gefahren ist, steht sie plötzlich unter den Augen verdutzter Bibliotheksbesucher auf und sagt dazu nur: „Tja, so was gibt es nicht nur in Lourdes.“
Mathildes Onkel ist stolz auf seinen Hof, der sehr ordentlich mit Kies gefüllt ist. Deshalb lässt es sich der Postbote, der täglich neue Briefe für Mathilde bringt, nicht nehmen, jeden Tag mit seinem Fahrrad durch den neu gerechten Kies zu fahren, was den Onkel zur Weißglut und schließlich auf eine Idee bringt …
Nächtliche Zwischenfälle wie eine umgefallene Kerze und eine schreiende Katze bekommen plötzlich eine völlig andere Bedeutung …
Mathilde stellt sich im Zusammenhang mit dem Überleben ihres Verlobten immer wieder unsinnige, aber hoffnunggebende Ultimaten wie: Wenn mein Onkel vor der Katze in mein Zimmer kommt, um mich zu wecken, lebt mein Verlobter noch!
Und es gibt noch jede Menge andere Episoden und Zwischenspiele, die viel besser im Kino zu erleben sind.

Technisch gesehen, ist „Mathilde – Eine große Liebe“ brillant.
Die wunderschönen, aber, wen es um die Darstellung der Kriegshandlungen geht, auch sehr drastischen Bilder des oscarnominierten Kameramanns Bruno Delbonnel sind unvergesslich. Als Beispiel seien hier die Kamerafahrten um den Leuchtturm genannt, den Mathilde mit ihrem Verlobten vor dessen Einzug zum Kriegsdienst immer wieder aufsucht. Oder die Darstellung des Wochenmarktes in Paris. Oder das Lazarett, das notdürftig in einem alten Hangar eingerichtet ist, in dem sich noch ein mit Wasserstoff (!!!!!) gefüllter Zeppelin befindet.
Die Bilder des Krieges erinnern in ihrer Intensität und Grausamkeit an den Kubrick-Klassiker „Wege zum Ruhm“, was nicht verwunderlich ist, denn in beiden geht es um den Krieg an der gleichen Front.
Für die Szenen im Haus des Onkels oder andere Szenen auf dem Land wird ein Gelbfilter verwendet, während die Bilder von der Front in kaltes Grau getaucht sind. Dadurch bekommen die Bilder eine zusätzliche Bedeutung, gewinnen Schärfe und Authentizität.
Auch die Ausstattung des Films ist perfekt und die verwendeten Spezialeffekte sind konsequent der Geschichte untergeordnet.

Auch was die Schauspielerischen Leistungen angeht, lässt „Mathilde – Eine große Liebe“ keine Wünsche offen. Einige Darsteller aus „Die fabelhafte Welt der Amelie“ sind auch hier wieder mit von der Partie: Natürlich die bezaubernde Audrey Tautou, die die Rolle der Mathilde der Figur angemessen ernster als die der Amelie spielt, aber nicht minder einfühlsam. Dominique Pinon, der in den letzten Produktionen von Jeunet immer vertreten war, spielt den Onkel von Mathilde. Von den mindestens 20 (!!!) Sprechrollen seinen an dieser Stelle noch zwei hervorgehoben: Marion Cotillard, die zuletzt in „Liebe mich, wenn Du dich traust“ positiv auffiel, darf in der Rolle der Hure Tina Lombardi glänzen. Und die zweifache Oscarpreisträgerin Jodie Foster begnügt sich bei Jeunet mit einer kleinen, aber feinen – und ungewöhnlich freizügigen, wenn auch nicht zeigefreudigen – Rolle der Ehefrau von einem der fünf verurteilten Soldaten.

Der Hauptunterschied zwischen „Die wunderbare Welt der Amelie“ und „Mathilde – Eine große Liebe“ besteht nicht in der Komplexität der Geschichte, sondern in der Ernsthaftigkeit des Themas. Während es in „Amelie“ im Wesentlichen um eine Liebesgeschichte ging, ist in „Mathilde“ der Krieg das Hauptthema, dem eine Liebesgeschichte untergeordnet ist. Das macht „Mathilde“ für mich nicht zu dem besseren, aber zu dem wichtigeren Film.

Wie „Amelie“ ist auch „Mathilde“ ein berührendes Kunstwerk.
Jeunet ist einer der wenigen Regisseure überhaupt, denen es gelungen ist, einen eigenen Stil, eine eigene Bildersprache zu entwickeln. Diesen Stil hat er mit „Mathilde“ vervollkommnet.

Und wenn es am Ende vielleicht doch nicht so kommt, wie erwünscht, macht das gar nichts, denn Mathilde ist der glücklichste Mensch der Welt und „sieht ihn an und sieht ihn an und sieht ihn an …“

Bitte unbedingt ansehen!
9/10

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