Auch wenn Robert Sigl mit einigen seiner späteren Arbeiten relative Erfolge gefeiert haben mag, liest sich seine Vita wie das typische Beispiel eines ambitionierten Visionärs, dessen Kreativität in der deutschen Filmindustrie über die Jahre vollständig konfisziert, wenn nicht sogar verzehrt wurde. Nicht, weil er nur noch Schund geliefert hätte, sondern weil er sich trotz seiner ausgewiesenen Affinität für die Phantastik oft mit urdeutschen, staubtrockenen Action- und Krimi-Standards über Wasser halten musste. All dies gilt insbesondere bei einem Debüt wie „Laurin“, das im Vergleich so reich an unbändigem Ausdruck und grenzenloser Fantasie ist, an Neugier über die Wirkung filmischer Mittel, dass es für den Regisseur in einem Land mit einer weniger ausgeprägten Uniformisierung filmischen Wirkens und mit mehr Unterstützung abgründiger Ausdrucksformen durchaus zu einem filmhistorisch bedeutsameren Fußabdruck hätte kommen können.
So bleibt die Geschichte um das Mädchen, das im späten 19. Jahrhundert einem Kindesentführer und -Mörder auf die Fährte kommt, neben den beiden vorausgehenden Kurzfilmen „Die Hütte“ und „Der Weihnachtsbaum“ seine einzige Arbeit mit der Anmutung eines Autorenfilms, überdeckt von diversen TV-Auftragsarbeiten, Serienepisoden und selbst geschriebenen Drehbüchern, die bis heute unverfilmt blieben. Dabei hatte das Business ihn auch als 25-Jährigen auf dem Regiestuhl von „Laurin“ schon mit Kompromissen bedrängt, wurde die Produktion doch aus Kostengründen nach Ungarn verlagert, vornehmlich mit einheimischen Akteuren besetzt und für die internationale Auswertung auf Englisch abgedreht, in einer Fremdsprache also, die man den unkundigen Darstellern am Set anhand der Imitation von Phonemen beibringen musste. Eine regelrecht abstruse Zusammenkunft unpassender Bestandteile, die aber, so lehren uns die ganz großen Werke immer wieder, hinter der Vision völlig unsichtbar werden, wenn diese nur überzeugend genug ausfällt.
Denn „Laurin“ atmet über seinen disruptiven Schnitt, seine gotische Ausstattung und seine dunklen, kräftigen Farben, die wie unauslöschliche Rotweinkleckse expressionistische Schwermut bezeugen. Man trifft in vielen Szenen auf stilisierte Momentaufnahmen, die das Szenenbild zum Stillleben umzudeuten scheinen, bevor die Kontinuität Anlauf nimmt und das Zelluloid wieder in einen natürlichen Bewegungsablauf überführt. Aus diesen Momenten erwacht man dann wie aus einem Traum, in dem die Zeit langsamer vergangen ist. Wenn Sigl ganze Räume für sich einnimmt, dessen Ebenen er mit unterschiedlichen Farben ausleuchtet – vorne grellrot, hinten geisterhaft grün – und durch eine langsame Veränderung der Beleuchtung den Fokus verlagert, ohne dazu konventionell die Tiefenschärfe der Kameralinse zu verändern, ist man in Gesellschaft der Großmeister symbolischer Farbgebung. Hätte man Ingmar Bergman den persönlichen Farbkasten von Mario Bava in die Hand gedrückt, um „Fanny und Alexander“ noch einmal aufzufrischen, er hätte möglicherweise etwas Vergleichbares wie „Laurin“ zutage gebracht. Sigl bezwingt dadurch das meist mit Dario Argento in Zusammenhang gebrachte „Style Over Substance“, denn sein hauptsächlich in der schwarzen Romantik verankertes Märchen besteht keineswegs nur um des Märchens willen. Es bezieht sich anhand seiner vielen Abschiedsszenen, der Zwiegespräche zwischen den Lebenden und den Toten und dem Genre-Katalysator des Kindermörders auf das psychologische Gefüge innerhalb traditioneller Familienstrukturen, aber auch deren Auswirkungen auf die Außenwelt, wie etwa die Szene um Laurins Schulklasse außer Rand und Band bezeugt.
Mitunter könnte man auf den Gedanken kommen, Sigl arbeite durch seine sorgfältige Demontage vermeintlich geordneter Lebensstrukturen sogar Elemente des Poetischen Realismus ein, allerdings fehlt ihm dazu in letzter Konsequenz der Pessimismus. Obgleich der melancholische Blick auf ein Ufer (bei Gegenlicht mit einer traumartigen Farbpalette gefilmt) bei der Verabschiedung des Vaters von der Mutter völlig hoffnungslos erscheint und einen dunklen Schatten auf den weiteren Verlauf wirft, der sich etwa mit der Aufnahme einer toten Krähe im Blumennest eines Grabes fortsetzt, finden sich immer wieder Momente unerwarteten Humors, wobei vor allem Hédi Temessy eine harmonische Komponente einbringt, wenn sie als alte Frau (zum Drehzeitpunkt 62 Jahre alt) das ausgelassene Spiel der Kinder nicht einfach nur duldet, sondern regelrecht bekräftigt. Selbst Károly Eperjes hat als Düsterling eine komische, wenn auch eher tragikomische Seite, ebenso wie Endre Kátay, der als Pastoren-Karikatur kein gutes Haar am Christentum lässt. Und Dóra Szinetár ist eine völlig ungewöhnliche, gleichwohl faszinierende Hauptdarstellerin, die Unschuld und tiefliegende Traurigkeit mit Neunmalklugem zu verbinden weiß. Dabei bleibt sie mit so mancher Nahaufnahme in Erinnerung, in der ihre Mimik zu entgleisen scheint und dem Betrachter ein weitgehend unlösbares Rätsel aufgibt, wobei die Motivation, es eben doch zu lösen, zu den besonderen Dingen gehört, die Filme immer mal wieder unverhofft zu bieten haben.
Wie bei „Das Versteck“ oder auch vielen Argentos wie „Suspiria“ oder „Phenomena“ wird hauptsächlich die Perspektive der Hauptfigur eingenommen, ähnlich wie diese ist „Laurin“ auch nicht völlig in seine eigene Handlung eingewoben, sondern bewegt sich teilweise auch beobachtend darüber. Wie bei David Lynch wiederum werden viele Motive zu reinen psychologischen Sachverhalten abstrahiert und Alltagsgegenstände wie ein Drachen oder ein Mantel zu medialen Verlängerungen, was sich auch in der technischen Umsetzung niederlegt, die beispielsweise einfache Überblendungen verwendet, um die Kommunikation ins Jenseits sichtbar zu machen, während die Fenster regelrecht zur Leinwand eines Traumkinos werden. Kinder drücken dort ihre Nasen an die Scheibe wie einstmals in Bavas „Die Toten Augen des Dr. Dracula“ und stilistisch verfremdet wird vor allem jener Moment in Zeitlupe zelebriert, der als Schlüsselbild überhaupt erst zur Entstehung dieses Films inspirierte: Eine Frau im Kapuzenmantel, die in der Nacht vor etwas flieht.
Hervorhebenswert ist außerdem noch der gespenstische Soundtrack. Dieser passt sich nicht etwa strikt der altmodischen Ausstattung an, sondern konterkariert die gotische Romantik mit Klängen, die teilweise moderner wirken als das Gezeigte und doch immer exakt vorhersehen, wo Spannungsspitzen zu setzen sind und wie sie die visuelle Komponente unterstreichen müssen. Mit ihnen festigt sich der Eindruck, dass die immerhin in kompakten 84 Minuten erzählte Geschichte trotz ihrer durchkomponierten Einzelsequenzen keinen epischen Handlungsbogen zur Grundlage hat, sondern vielmehr assoziativ aufgebaut ist und vom Betrachter über die Interpretation von Blicken, Gesten, aber auch Symbolen und Farben selbst zu erschließen ist.
Der Bezug zu unzähligen Klassikern des Phantastischen Kinos gelingt natürlich verhältnismäßig einfach, was schlichtweg bedeutet, dass man „Laurin“ kaum in einer Hinsicht einen echten Pioniersstatus zuschreiben kann, außer, dass er zur Zeit seiner Entstehung innerhalb deutscher Grenzen ein einsamer Grenzgänger war. Dass Sigl von bestimmten internationalen Regisseuren aus der Phantastik besonders inspiriert, beeindruckt oder sonst wie beeinflusst war, liegt auf der Hand; es schließt aber offensichtlich nicht aus, dass man Gespür für die Wirkung von Bildern besitzt und dieses zumindest einmal im Leben in ein eigenes Schauerdrama bannen kann, das sich im Vergleich mit den Großen nicht verstecken muss.