Review

Fischen im Trüben

„Dieser verfluchte Krieg.“

Der Italiener Mimmo Cattarinich war ein renommierter Szenenfotograf an zahlreichen Spielfilmsets namhafter Regisseure. Im Jahre 1978 trat er erst- und letztmals als Regisseur in Erscheinung: Das italienisch-spanisch koproduzierte Lolita-Drama „Little Lips - Der zärtliche Tod“ blieb sein einziger Spielfilm.

Der Schriftsteller Paul (Pierre Clémenti, „Belle de jour - Schöne des Tages“) hat den Ersten Weltkrieg überlebt, ist jedoch schwer traumatisiert, depressiv und selbstmordgefährdet. Zurück in seiner österreichischen Heimat im Haus seiner Familie lernt er in der Waise Eva (Katya Berger, „Absurd“, in ihrer ersten Rolle) die zwölfjährige Nichte seines Angestellten kennen. Durch sie fasst er neuen Lebensmut und beginnt wieder zu schreiben, entwickelt jedoch auch bald eine ungesunde, sexuell konnotierte Obsession für das Mädchen…

„Du bist ein Mann und ich bin eine Frau!“

Paul führt als Voice-over-Sprecher durch den Film, für dessen Optik exzessiv vom Weichzeichner Gebrauch gemacht wurde – dies schien eine Marotte damaliger Erotik-Regisseure zu sein. Zu einer schwelgerisch-melancholischen musikalischen Untermalung Stelvio Ciprianis visualisiert Cattarinich Pauls Flucht in eine Fantasiewelt: Seine Träume von Mädchen in aufreizenden Posen, Erinnerungen an Sex mit seiner ehemaligen Freundin, deren Fotos er sehnsuchtsvoll betrachtet, Tagträume, in denen sich ihm die splitternackte Eva auf eine Weise hingibt, wie es geschlechtsreife Mädchen und Frauen gegenüber ihren Sexualpartner(inne)n tun.

„Ich habe jegliches Interesse an weltlichen Dingen verloren.“

In der filmischen Realität entdeckt Eva gerade erst die Welt der Sexualität. Sie beobachtet ihre Adoptiveltern beim Sex, schminkt sich und betastet ihre sich gerade ausbildenden Brüste. Und sie lernt einen jungen Gaukler (Michele Soavi, „Ein Zombie hing am Glockenseil“) kennen, mit dem sie erste körperlichen Erfahrungen sammelt, was Paul erneut in eine tiefe Krise stürzt – die er nicht überleben wird. Cattarinich zoomt auf Evas nackte Füße, fängt sie nur spärlich bekleidet am Fluss sitzend ein und zeigt Paul, wie dieser sie beim Schaukeln fotografiert. Expliziter wird er bei der Verbildlichung dessen, was sich in Pauls Gedanken abspielt, und zoomt der zum Drehzeitpunkt gerade 14-jährigen Katya Berger auch schon mal zwischen die Beine. Die Fassung, die ich sah, ist um einige Minuten gekürzt, mutmaßlich präsentiert sich die vollständige Fassung noch um einiges ungehemmter. Darüber hinaus setzt Cattarinich idyllische Bilder grüner Natur in Kontrast zu Rückblenden in Pauls Kriegsmanöver und seine aus ihnen resultierende Kriegsverletzung, aufgrund derer er offenbar impotent geworden ist.

„Little Lips - Der zärtliche Tod“ erinnert an eine Mischung aus Vladimir Nabokovs „Lolita“ bzw. dessen Verfilmung, Louis Malles fragwürdiger Inszenierung einer ebenfalls blutjungen Brooke Shields in „Pretty Baby“ und der Filmästhetik eines David Hamilton („Bilitis“). Letztere wird mit diesen verwaschenen Bildern jedoch nie erreicht und um wirklich in einem Atemzug mit „Lolita“ genannt zu werden, mangelt es „Little Lips“ an inhaltlicher Differenziertheit und kritischer Distanz zum Gezeigten. Mit oft wackliger Kamera und einer – der kurzen Spielzeit zum Trotz – unheimlich langatmigen, betulich schleppenden Dramaturgie (wenn man es überhaupt so bezeichnen kann) versucht sich Cattarinich an so etwas wie einer Gegenüberstellung eines verkorksten Lebens mit einem jungen, unschuldigen, gerade erst aufblühenden, an dem Paul erfolglos teilzuhaben versucht – wohl in der Hoffnung, erlittenes Leid dadurch lindern oder gar vergessen machen zu können. Und an seiner Potenz messen würde Eva ihn auch nicht können, da sie noch keinen Sex hat und sich seiner lediglich in seiner Vorstellungskraft abspielt.

Diese These zur Herausbildung pädophiler Neigungen wird zudem nicht mit gebotener grafischer Zurückhaltung und emotionaler Sensibilität umgesetzt, sondern mittels der Stilistik des Exploitation-Kinos. Und so unterhaltsam diese in anderen Zusammenhängen auch oftmals sein mag, hier ist sie unangebracht. Am schwersten wiegt der Umstand, dass Katya Berger weder eine vielleicht noch kindlich aussehende oder mittels Make-up und Kostüm entsprechend herzurichtende junge Erwachsene noch eine 14-Jährige, die ohne Weiteres bereits als 17- oder 18-Jährige durchgehen würde, war. Nein, „Little Lips“ betont immer wieder ihre kindliche Seite bei beginnender Geschlechtsreife und lässt nicht nur nie einen Zweifel daran, dass es sich bei ihr um ein Kind handelt, sondern stellt Pauls Voyeurismen und Missbrauchsphantasien auch derart schamlos vor der Kamera nach, dass der Film wie auf ein ähnliche Neigungen wie der Protagonist aufweisendes Publikum ausgerichtet erscheint. Und das macht ihn problematisch.

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