Argento serviert uns mit „Phenomena" gewissermaßen ein Best-Of seiner zentralen Motive und bildet so für mich seinen letzten gelungenen großen Film.
Und? Wie ist die Stimmung?
Gekonnt vermischt der Regisseur hier die grausamen Morde eines dunklen Unbekannten aus seinen Gialli mit der aus „Suspiria" bekannten übernatürlichen Note einer Internatsszenerie und endet dann im handfesten Horror, mit dem er es fast schon ein wenig übertreibt.
Für Argento typisch gestaltet sich die Hauptfigur als sozial isoliertes Individuum, das aber ein Leben in wirtschaftlicher Unabhängigkeit führt, was angesichts der Tatsache, dass wir es mit einem fünfzehnjährigen Mädchen als Mittelpunkt des Films zu tun haben, eher verwundert. Aber der Kunstgriff, das Mädchen (Jennifer Connelly) als Tochter eines berühmten Schauspielers auf ein Internat zu schicken, hilft bei der Herstellung der Ausgangslage.
Im Gegensatz zu „Suspiria" spielt das Gebäude des Internats über seine Funktion als Obdach und Sammelstelle für die diversen Bewohner filmisch keine große Rolle und so beschränkt sich Argento in seiner Bildlichkeit auch auf das Wesentliche und lässt die Discobeleuchtung im Schrank, was aber nicht heißen soll, dass Argento auf das Ausleben seines Bilderfetischs verzichtet. Aber optisch erscheint „Phenomena" in seiner Farbdramaturgie wesentlich naturalistischer, was nicht zuletzt an den vielen Außenaufnahmen liegt.
Gleich zu Beginn beim Prolog schafft „Phenomena" eine erdige und volksmärchenhafte Atmosphäre, wenn es eine schöne Kranfahrt durch Tannenwipfel gibt, die uns die in sattes, feuchtes Grün getauchte, einsame Alpenlandschaft zeigt, in der der Wind in den Wäldern und das Wasser im Bach rauscht. Die Einsamkeit wird dann dem ersten Opfer auch sogleich zum Verhängnis und der erste Mord um ein verlassenes Haus mitten im Wald weckt starke Assoziationen zu Hänsel und Gretel. Und gerade hier verzichtet Argento auf eine Hexe als Bösewichtin. Na sowas.
Nebenbei führt uns der Film an weitere Ort, die die Welt deutlich größer erscheinen lassen, als die sehr auf das Internat beschränkte Welt in „Suspiria", wenngleich Argentos Welten immer etwas verlassener wirken. Da wird ja auch Rom zum Dorf, wie drei Jahre zuvor in „Tenebrae".
Das Haus von Professor McGregor, einem Entomologen, der hier am zeilichen Ablauf der Verwesung und die Bedeutung von Insekten für diesen Prozess forscht, wird mehrfach aufgesucht. Als Entomologe hätte er vielleicht nochmal den Unterschied zwischen Hummel und Biene erklären sollen... Der Kunstgriff, Donald Pleasance in seiner Rolle in den Rollstuhl zu setzen und ihm einen Affen als rechte Hand zur Seite zu stellen, bietet dann eine interessante falsche Fährte, die ich im Nachhinein für die bessere Variante halte als die tatsächliche Auflösung des Films. Hier hätte Argento Richard Franklins Idee zu „Link der Butler" von 1986 bereits vorwegnehmen können. Zusätzlich dient das Haus des Professors als Ekelzentrale für Menschen mit Abneigung gegen Insekten aller Art und gleichzeitig als Ort einer empfundenen Geborgenheit für die Hauptfigur Jennifer, die dort gleich auch alle Käfer rallig macht. Bemerkenswert finde ich auch, dass bei aller Abwesenheit tiefer Zuneigung zwischen den Figuren in allen Argentos gerade ein Affe die emotionalste Bindung zu haben scheint, was wirklich herzergreifend in Szene gesetzt wird, indem der Affe mit Hundewinseln tonal unterlegt wird.
Der Ort des Finales wird am Ende des Films dann einfach ergänzt. Dies finde ich weniger gelungen, denn es hätte sich bis dahin Alternativen angeboten, zu denen der Zuschauer ein intensiveres Gefühl hätte aufbauen können und so verkommt der letzte Akt zu einer Art Geisterbahnfahrt, die allerdings einen wirklichen Ekelhöhepunkt bereithält. Da wird einem glatt das Baden madig gemacht. Das Hinzuklatschen des Hauses verwundert angesichts der Tatsache, dass Argento sehr viel Wert auf den Aufbau einer bedrohlichen Atmosphäre legt, wie sich bereits im ersten Dialog zwischen Jennifer und ihrer Lehrerin Frau Brückner (Daria Nicolodi) zeigt:
„Diese Gegend hat einen besonderen Namen. Man nennt sie das Transsylvanien der Schweiz."
„Warum?"
„Och, ich weiß nicht. Einfach nur so."
Einfach nur so? Na, der Dario wollte gerne Dracula-Grusel aufbauen, darum. So erinnern die Alpenaufnahmen zu Beginn mitsamt der Musik sehr stimmungsvoll an „Nosferatu - Phantom der Nacht" von Werner Herzog, in dem ich den Musikeinsatz angesichts des Sujets immer als sehr ungwöhnlich und eigenwillig empfand, und bei Ankunft am Internat macht Frau Krüger darauf aufmerksam, dass Teile des Anwesens baufällig und verschlossen und daher nicht zu betreten seien, was dann auch ein direktes Dracula-Zitat ist. Der hergestellte Bezug zu klassischem Grusel wird zusätzlich noch doch eine Off-Stimme verstärkt, die als Erzähler darauf vorbereitet, dass es nun grauenhaft werden wird. Argento schafft so eine sehr schaurige und gleichzeitig für den Zuschauer behagliche Atmosphäre, die für mich andere während des Films getroffene Entscheidungen umso unverständlicher macht.
Bis die Ohren bluten
Was hat sich der Mann nur bei der Auswahl der Musik gedacht? Die Stücke gehen teils so krass am Bild vorbei, dass alle Stimmung, die ja gekonnt aufgebaut wurde, mit einem Handstreich zersört wird. Das ist so auffällig, dass man rätselt, was uns der Künstler damit sagen wollte, aber eine sinnige Antwort auf diese Frage habe ich bisher nicht finden können. Ich find`s einfach kacke. Nichts gegen Motörhead, aber der Song ist im Moment seiner filmischen Einbettung so deplatziert, wie es nur irgend möglich ist. Und auch die hektischeren Stücke von Goblin stehen diametral der Grundausrichtung des Films gegenüber, die auf Schauer und Misteriösität baut. Argento macht hier und in dem Nachfolger „Opera" deutlich, dass er die Musikauswahl scheinbar per Lostopf auswählt. Setzen! Sechs!
Der Trenchcoat kann zu bleiben
Jennifer Connellys Darstellung der Figur Jennifer wird dann von ihrer Ausstrahlung getragen und man muss anerkennen, dass die Leistung für ein Mädchen von 15 Jahren beachtlich ist und sie es schafft, der Rolle Ausdrucksstärke und Charakter zu verleihen. Während die anderen Mädchen eben klischeehafte Mädchensachen machen, also herumzicken, erweist sich Jennifer als Willensstark und erwachsener, was durch ihre übersinnlichen Fähigkeiten, mit Insekten telepathisch Kontakt herzustellen, noch weiter verstärkt wird. Und obwohl sie als Schlafwandlerin bedrohlichen Situationen einfach ausgesetzt ist, macht man sich wegen ihrer erkennbaren Stärke um sie eher wenig Sorgen. Zudem spielt für sie die angedeutete erwachende Sexualität aller Mädchen kaum eine Rolle. Zwar hat die Zimmergenossin Sohie ein Techtelmechtel und findet Jennifers Vater heiß, aber ansonsten verhalten sich die Mädchen erfrischend unsleazy. Den Hinweis des Professor, sie errege einen Käfer außerhalb seiner Paarungszeit, winkt Jennifer so beispielsweise lapidar mit der Bemerkung, sie würden sich dabei doch erst so kurz kennen, humorvoll ab. Diese Stärke der Figur, sich nicht als Objekt zur Verfügung zu stellen, hat Jennifer Connelly mit Jessica Harpers Darstellung in „Suspiria" gemein und beide Mädchen kämpfen in ihren Szenen stets um die Kontrolle und gegen die Fremdbestimmung. Geben sie die Kontrolle aus den Händen, bedeutet dies in beiden Fällen eine konkrete Gefahr. Also Mädels: Seid gewarnt! Allerdings geht die Bedrohung in beiden Fällen von Frauen aus, was „Phenomena" noch weiter vom typischen Giallo entfernt.
Ich will ja nicht nerven...
Gewohnt episodenhaft reiht Argento dann Mord- und Spannungsszenen hintereinander, ohne dazwischen einen klaren Fokus auf den zentralen Handlungskern zu legen. Es läuft ein Mörder frei herum, der junge Mädchen, vor allem aus dem Internat, abschlachtet, aber die Polizei ist nur eine Randnotiz und besorgte Eltern gibt es auch nicht. Detektion findet daher eigentlich kaum statt und es geht vielmehr um Jennifer, die versucht, sich aus der Situation durch Verlassen der Szenerie zu befreien, auch wenn sie sagt, sie werde den Mörder ihrer Freundin finden.
Das Ende wendet sich dann drastisch dem Horror zu und findet, wie ich bereits andeutete, nicht die beste Auflösung aller angestauten Fragen. Selbst wenn man die Grundkonstellation beließe, hätte man auf die vollkommen aufgesetzte Figur des Kindermutanten verzichten können. Sie ist einfach vollkommen lächerlich. Aus einer Vergewaltigung entstanden führt der arme Bengel ein Dasein in der Kellerecke, um nur dann und wann überraschend planmäßig als Mörderzwerg mit stilistischem Steck-Stilett sein Unwesen zu treiben. Nun ja...Ob die liebe Mutter von Satan persönlich oder von einem Mischwesen aus Keiler und Ratte vergewaltigt wurde, erfahren wir leider nicht mehr, aber mit rechten Dingen kann es bei der per se ja schon unrechtmäßigen Tat nicht zugegangen sein, wenn Argento so dermaßen übertreibt. Angesichts des zeitnah entstandenen "Demoni" von Lamberto Bava, den Argento produzierte, scheint es, als habe man sich aus dem selben Topf für Einfalle und Masken, und nebenbei auch für Musik, bedient.
Das Bad im Leichenschlamm mit Maden und Bröckchen ist bei alledem so über alle Maßen widerlich, dass es im Film zwar die intensivste Szene darstellt, auf die aber auch genauso gut hätte verzichtet werden können, wenn man nicht Dario Argento wäre, der Dinge stets um ihrer selbst willen in seine Filme einbaut und Narration und Schauspieler nur als notwendigen Ballast zu sehen scheint.
Nach dem ersten Finale kommt, ganz erwartbar, ein zweites hinzu, das einmal mehr von der hervorragenden Tierdressur profitiert. Hier geht eine Szene voran, in der der in Trauer umhersteifende Schimpanse sich ein Rasiermesser aus einem öffentlichen Abfalleimer (!) besorgt. Als er dann die fiese Gegenspielerin in ihre Einzelteile zerlegt, dreht der Film bereits eine beachtliche Zeit in einem Bereich, der durchaus das Prädikat „durchgeknallt" verdient, was durch den Metal-Soundtrack dann mitlerweile gewohnt unpassend untermalt wird und irgendwann rollen dann plötzlich die End-Credits.
Epiloge scheinen schon daher überflüssig, weil sie meistens dazu dienen die Wiederherstellung der Ordnung und die Rückkehr in dieselbe für die Hauptfigur zu zeigen. Da die Hauptfiguren jedoch nie biografisch, charakterlich und sozial ausgeleuchtet werden, spielt die Frage, ob sie nach der Überwindung des Chaos und der Lebensbedrohung wieder ein Leben im Lot führen folglich auch keine Rolle. Die Hexe ist tot und zack! Schon läuft der Anspann.
Fazit
Ich entscheide mich dazu, „Phenomena" als letzten großen, geglückten Argento-Streifen zu sehen, der mit einer größtenteils dichten Atmosphäre und gewohnt guter Bildlichkeit überzeugt. Aber wie so oft serviert einem Argento ein Menue aus mehreren Gängen und unter einigen silbernen Deckeln lauert statt raffiniert austarierter Haute Cuisine dann Orangenfilet mit Fertigremoulade oder gebeizter Lachs mit Caramelsauce. Was ihn bei der Auswahl einiger Songs geritten hat, wird Argento nie schlüssig erklären können und der Fakt, dass er in „Opera" zwei Jahre später diesen extremen Fehler wiederholen sollte, ist schon fast verstörender als der Horror, den Argento hier definitiv bietet.
Leider erarbeitet sich „Phenomena" kein zentrales Leitmotiv, das den Film in sich tragen würde und so rauschen wir durch die Ansammlung an Kuriosem, Ekligem und Mystischem, bis der Film dann halt zu Ende ist. In Erinnerung bleiben stimmungsvolle Sequenzen in der behaglich gruseligen Landschaft der Schweizer Alpen, eine über weite Teile dichte Atmosphäre, funktionierende Darstellerleistungen von Connelly und Pleasance und viele Ideen, die man so im Horror bisher noch nicht zu sehen bekommen hat. Wie Konfus die inhaltlichen Elemente hier verquickt werden, wird dann im deutschen Videotrailer deutlich, der einem erklärt, um was es in dem Film gehen soll. Man fragt sich mehr als einmal, ob die Macher des Trailers den gleichen Film gesehen haben.
So bleibt unterm Strich ein in weiten Teilen gelungener Horrorfilm, dem aber eklatante Fehler unterlaufen und der leicht ein deutlich besserer Film hätte werden können und bei mir mit dem Wissen über Argentos Hang zum ausgeklügelten Bild nur eine Frage unter den Nägeln brennen lässt:
Was ist denn in der Telefonzellen-Szene mit diesem blühenden Busch draußen vor dem Fenster los? Will der sich losreißen? Ruhig, Bunter, ganz ruhig...
Da ich weiß, auf welchem Niveau Argento dann 1987 und 2004 arbeitete, ist dies hier wohl mein letzter Argento. Allerdings wurde ich gestern durch „Sleepless" mit dem späteren Werk wieder etwas versöhnt, aber der Ruf von Filmen wie „Mother of Tears" oder „Dario Argento`s Phantom der Oper" lässt doch vermuten, dass „Phenomena" einer der letzten guten und gelungenen Argentos ist.