Die Kritik beruht auf der ungeschnittenen Fassung vom österreichischen Label Dragon!
Nach "Tenebrae" ist "Phenomena" Dario Argentos nächster Horrorfilm, zu dem er mit Franco Ferrini gemeinsam das Drehbuch schrieb.
Dabei wandelt Dario Argento einmal mehr auf phantastischen Pfaden, in dem er die Hauptprotagonistin mit telekinethischen Fähigkeiten darstellt, die in der Lage ist, mit Insekten zu kommunizieren. Die Handlung spielt überwiegend in einem Internat, womit eine weitere Parallele zum Roman "Carrie" von Stephen King gezogen werden kann.
Trotzdem bleibt Argento seinem eigenen Stil treu und inszenierte einen reinen Horrorthriller mit parapsychologischen Motiven und vereinzelten Stilelementen des Giallo.
Im Schweizer Hinterland treibt in den letzten Monaten ein Serienmörder sein Unwesen, der mit Vorliebe junge Mädchen tötet, den Opfern die Köpfe abtrennt und die Leichen verschleppt. Nach dem Fund eines halb verwesten Schädels erhofft sich der ermittelnde Inspektor Rudolf Geiger von der Kantonspolizei gemeinsam mit seinem Assistenten Kurt Hilfe vom behinderten Entomologen Professor John McGregor. Dieser ist in der Lage, mit seinen Insekten den genauen Todeszeitpunkt von verstümmelten Körpern zu ermitteln, indem er die Zahl der Insekten, das Aussehen und die Art bestimmt. Der Professor datiert den Todeszeitpunkt auf etwa acht Monate zurück, so dass Geiger den gefundenen Kopf fast zweifelsfrei Vera Brandt, einer vermissten 16-jährigen dänischen Touristin, zuordnen kann.
Unterdessen trifft Jennifer Corvino, Tochter eines berühmten Schauspielers, im nahe gelegenen Zürich in dem internationalen Mädcheninternat „Richard Wagner" ein. Mit der aus Frankreich stammenden Sophie, die sie freundlich empfängt, teilt sie sich ein Zimmer und erfährt durch sie von der Mordserie. In der ersten Nacht steht Jennifer im Unterbewusstsein auf, schlafwandelt durch das weiträumige Internatsgebäude mit leerstehenden Trakten und wird dabei in Trance Augenzeugin eines bestialischen Mordes. Fluchtartig verlässt sie daraufhin den Tatort, gelangt über Umwege an den Waldrand, wo sie von der Schimpansin Inge, einer dressierten Gehilfin des Insektenforschers McGregor, zufällig gefunden und zu ihrem „Herrchen“ gebracht wird. Die Schülerin, die von Insekten fasziniert ist und zudem telepathisch mit ihnen kommunizieren kann, fühlt sich sofort beim alleinstehenden und eher menschenscheuen Professor wohl, da er mit ihr die gleiche Leidenschaft teilt. Bei ihrer Rückkehr wird Jennifer als Verrückte abgestempelt, die dringend einer psychiatrischer Behandlung bedarf und bald auch von ihren Mitschülerinnen gemieden und gehänselt wird.Sie vertraut sich mit ihren übersinnlichen Wahrnehmungen dem Professor an, der von dem jungen Mädchen so fasziniert ist und sie darin bestärkt, ihre neu entdeckte Gabe zu nutzen, um den psychopathischen Mörder dingfest zu machen. Er übergibt ihr eine ausgewachsene Fliege jener Spezies, die sie in der näheren Umgebung eines Tatorts im Handschuh des Mörders entdeckt hat. Die Fliege soll sie auf die Spur der verschwundenen Körper führen. Da die Lage der Leichen unbekannt ist, macht Jennifer mit dem Insekt eine Busreise. An einer bewaldeten Bergregion wird das Insekt plötzlich unruhig, Jennifer steigt aus und marschiert zu Fuß zu einer abseits gelegenen, unbewohnten Berghütte, in der sich in einem Kellergewölbe Leichenteile befinden.
Eine Erkenntnis, die den Tod des Professors besiegelt und Jennifer auf die Todesliste des Killers setzt...
Handlungstechnisch bietet Dario Argento hier eine ganze Menge, wobei seine Stärken nicht bei den Dialogen liegen. Vereinzelte Passagen wirken teilweise unfreiwillig komisch und absurd.
Von der übersinnlichen Thematik einmal abgesehen, besticht "Phenomena" vor allem durch Einblicke in die Entomologie, wofür dem Team ein Spezialist zur Verfügung stand. Die Mischung aus wissenschaftlicher und polizeilicher Ermittlungsarbeit und Jennifers telekinethischen Fähigkeiten macht den Reiz dieses Thrillers aus, wobei auch hier wieder Argentos inszenatorische Finessen überzeugen.
Die langsamen Kamerafahrten über die Landschaften der Schweizer Alpenlandschaft zusammen mit den düsteren Syntheziser-Klängen von Goblin sorgen für eine unheimliche, bedrohliche Atmosphäre, die gleich zu Beginn im ersten Mord ihren Höhepunkt findet.
Argentos Mordszenarien in "Phenomena" sind bei weitem nicht so intensiv und brutal inszeniert wie bei "Tenebrae" oder "Opera", zwischen denen Argentos Werk in seiner Filmographie steht, aber allein die subjektiven Kamerafahrten aus der Sicht des Killers reichen aus, um beim Publikum für Spannung und Dramatik zu sorgen.
Der von Simon Boswell und Goblin komponierte Score ist stimmig auf das Geschehen zugeschnitten und passt ausgezeichnet zum übersinnlichen Charakter des Films.
Einzig die Heavy-Metal-Kompositionen, unter anderem von Iron Maiden, wirken wie Fremdkörper und fanden später bei "Opera" eine bessere Verwendung.
Die Identität und Motivation des Killers ist in dessen Vergangenheit zu suchen, es wird aber nicht in eingestreuten Rückblenden darauf hingewiesen. In diesem Punkt unterscheidet sich "Phenomena" von Argentos Giallo-Inszenierungen.
Das oftmals verwendete Mutter/Sohn-Beziehungsmotiv kommt hier zwar zur Anwendung, resultiert jedoch nicht auf Inzest, sondern auf das Ergebnis einer brutalen Vergewaltigung, die die Geburt eines verunstalteten Kindes zur Folge hatte, das im Jugendalter die angestauten Aggressionen durch Mord abbaut, während die Mutter ihr Kind schützt, in dem sie die Spuren seines grausigen Treibens verwischt und alle Mitwisser umbringt.
Insgesamt ist "Phenomena" ein spannender, düsterer und effektvoller Horrorfilm mit einer erlesenen Besetzung: vor allem Donald Pleasence als alternder Professor verleiht dem Werk allein durch seine Präsenz einen hohen Anspruch, ähnlich wie Charaktermime Max von Sydow später in "Sleepless".
Regisseur Argento ist ein Meister im Inszenieren von Stimmungen und Spannungen, Schauspielführung ist nicht seine Stärke. Umso besser für den gesamten Film, wenn der Regisseur auf einen versierten Charakterkopf zurückgreifen kann, der den Film trägt.
Wer mit "Phenomena" einen Giallo erwartet, nur weil Maestro Argento auf dem Regiestuhl saß, wird von dessen Werk und seiner phantastischen Geschichte enttäuscht sein. Wer sich mit dem übersinnlichen Charakter der Handlung anfreunden kann, kommt in den Genuß eines stimmigen und wunderbar erzählten Werks, bei dem das Ausmaß von Sergio Stivalettis Effektarbeit in den letzten zwanzig Minuten in einem feurigen Finale zur ganzen Entfaltung kommt.
7,5 von 10 Sarcophagen