Endlich, Michael Mann („Heat“, „The Last of the Mohicans“) ist zurück und zwar mit einer weiteren Liebeserklärung an „sein“ Los Angeles. Dabei ist „Collateral“ nur auf den ersten Blick ein typischer „Mann“, denn mit den Ursprüngen des Films hat er diesmal gar nichts zu tun. Ursprünglich sollte der Film schon 2001 von Mimi Leder („The Peacemaker“, „Deep Impact“) realisiert werden. Als sie von dem Projekt absprang war Steven Spielbergs Kameramann Janusz Kaminski („Lost Souls“) als Regisseur im Gespräch. Schließlich wurde er, nachdem weder Spielberg noch Scorsese Interesse zeigten, wiederum von Mann ersetzt. Der stand nach den beiden gefloppten „The Insider“ und „Ali“ gewaltig unter Druck endlich wieder einen Film zu drehen, der nicht nur die Kritiker begeisterte, sondern auch an den Kinokassen einen finanziellen Erfolg verbuchten konnte. Mann verlagerte das Szenario von Manhattan, New York nach Los Angeles, ließ Stuart Beatties („The Pirates of the Caribbean“) Skript durch, den dank der beiden hervorragenden Stephen-King-Adaptionen „The Shawshank Redemption“ und „The Green Mile“ bekannt gewordenen, Drehbuchautor Frank Darabont (hier auch Produzent) überarbeiten und machte sich an das Casting. Bekannten Namen wie Edward Norton („Red Dragon“, „Fight Club“) und Colin Farrell („S.W.A.T.“, „Phone Booth“) wurde die Rolle des Vincent unterbreitet, während für Max zeitweise sogar US-Komiker Adam Sandler („Waterboy“, „Happy Gilmore“) im Gespräch war. Schließlich sollten Tom Cruise („The Last Samurai“, „Jerry Maguire“) und Jamie Foxx („Bait“, „Any Given Sunday“) den Zuschlag bekommen.
Was Michael Mann hier mit dem doch recht kleinen Budget von 60 Millionen Dollar für einen Film auf die Beine stellt, ist schlicht beeindruckend. Der Mann ist ein Visionär und das zeigt sich in „Collateral“ so deutlich wie nie zuvor. Der Film ist optisch und audiotechnisch schlichtweg brillant, eben weil er völlig anders ist und mit Konventionen bricht. Mann hat neue Ideen und drehte fast nur in High Definition, damit er dieses charakteristische Night-Flair von L.A. einfangen konnte. Die Software der Kameras musste für den nächtlichen Einsatz erst mit Hilfe niederländischer Fachleute entwickelt werden. Dafür taugliche Rekorder gibt es gerade mal 5 Stück auf der Welt, 2 davon gehören einem gewissen George Lucas. Was dabei heraus kam, ist eine ästhetische, dynamische Optik, die seinesgleichen sucht – natürlich mit dem markanten Blaustich versehen. Für Schnitt, Kamera und Ton sollte dem Film eine „Oscar“ – Nominierung eigentlich sicher sein. Schon allein deswegen, weil dieses Jahr bisher kein Film weit und breit erschienen ist, bei dem diese Elemente so miteinander harmonieren. „Collateral“ sieht aus wie ein edles Kunstwerk und das ist er auch.
Aber nun zum Film selbst. Der Plot spielt in einer einzigen Nacht und fokussiert in einer Extremsituation die Beziehung zweier auf den ersten Blick völlig unterschiedlicher Personen. Vincent (Tom Cruise) ist ein Profikiller, der bis zum nächsten Morgen fünf Zielen einen Besuch abstatten muss. Dafür mietet er Max (Jamie Foxx) Taxi und gibt sich als Geschäftsmann aus. Als schon während des ersten Stops etwas schief geht, nämlich die Leiche auf das Fahrzeug knallt, müssen die beiden sich arrangieren. Entweder Max chauffiert seinen mörderischen Fahrgast, einen intelligenten Soziopathen, oder Unschuldige werden sterben.
Das ist die auf den ersten Blick so einfache Konstellation. Wer Manns Filme kennt, weiß dass dieser sich aber nicht mit einem spannenden Thriller zufrieden gibt. In intelligenten, tief schürfenden Dialogen porträtiert er sein Duo und lässt das Filmgeschehen größtenteils im Taxi ablaufen. Wie schon in „Heat“ werden unvergessliche Charaktere erschaffen, die ganz frei von Klischees agieren dürfen. Recht schnell wird klar, dass die beiden gar nicht so unterschiedlich sind, eine abstrakte Beziehung knüpfen und dem gegenüber mehr als sonst jemandem in ihrem Leben mitteilen. Fast schon gemächlich, im übrigen ohne Opening Credits (Der Abspann beginnt mit „Directed by Michael Mann“ und schließt mit dem Titel) , beginnend, dreht Mann das Tempo und die Dramatik schrittweise höher. Vincent ist ein Mann mit Prinzipien, dem dank seiner jahrelanger Erfahrung in diesem Geschäft nichts mehr aus der Ruhe bringt. Stets kontrolliert er das Geschehen, findet für jedes Problem eine meist sehr direkte und kompromisslose Lösung. Die Gefühlskälte sorgt für Gänsehaut und doch kann man dem Mann eine gewisse Sympathie nicht absprechen. Aber ist er wirklich diese starke Figur, die er nach außen abgibt? Seine Weisheiten, die er aus dem Ärmel schüttelt, wirken wie auswendig gelernt. Ist die äußere, harte Schale nur gespielt? Professionalität und Kaltblütigkeit als Deckmantel einer von der Gesellschaft enttäuschten Existenz?
Max ist da ganz anders. Er hängt sich an seinem Lebensziel auf und ist ein Menschenfreund. Er fährt zwar nun schon 12 Jahre Taxi, hat es aber immer noch nicht geschafft seinen Traum realisieren. Das merkt Vincent und versucht ihn zu manipulieren, indem er ihn desillusioniert, ihm seine Widerspenstigkeit nimmt. Zunächst scheint das zu gelingen, denn Max beginnt zu verzweifeln und zu einem willigen Helfer zu avancieren. Jeder Versuch seinerseits Vincents Arbeit zu unterbrechen führt zu unschuldigen Toten. Zunächst... Seine Menschenkenntnis, sein unbändiger Wille und schließlich sein Mut sollen ihm aus seiner Starre lösen. Unwissentlich verhilft Vincent Max zu neuer Stärke, in dem er seine Schwächen offen legt und ihm die Augen öffnet. Max wächst an der Herausforderung über sich hinaus und überwindet seine Ängste, wird dabei aber nie zum unkaputtbaren Heilbringer stilisiert. Das macht ihn zur Identifikationsfigur. Wenn er zum ersten Mal eine Pistole in der Hand hält und nicht weiß, wie man sie bedient, dann verkörpert er den typischen modernen, unfreiwilligen Helden unserer Zeit. Der Dialog via Funkgerät mit Max Chef und der Besuch im Krankenhaus sind zwei Beispiele für dieses ganz eigene Beziehung, in der Vincent langsam Sympathie für Max entwickelt und damit seinen ersten fatalen Fehler begeht.
Nach der schon beeindruckenden Leistung in „The Last Samurai“ liefert Tom Cruise hier eine „Oscar“ – reife Leistung ab. Sich nun endgültig von seinem Sunnyboy-Image lösend, ist seine nuancierte Darstellung des zynischen, stets die Kontrolle behaltenden, Profikillers Vincent sein persönliches Paradestück. Präsentiert er sich bei seiner Ankunft noch als unzerstörbarer, nach außen makelloser Charakter, so spürt der Zuschauer im Film, wie seine Fassade langsam zu bröckeln beginnt. Der ergraute, stoppelbärtige Vincent ist eine ausgehöhlte Seele, für den Moral und Werte nicht mehr gelten. Das spürt auch Max, wird aber trotzdem ein ums andere Mal durch dessen Handlungen überrascht. Besonders imposant ist dabei Cruises Waffeneinsatz. Das intensive Training mit S.A.S. – Ausbilder Mick Gould, der schon „Heat“ prägte, hat sich ausgezahlt. Vincents tödliche, zutiefst kaltblütige und befremdend routinierte Reaktionen sehen wie aus dem Lehrbuch aus.
Jamie Foxx steht Cruises Leistung dabei in nichts nach. Ich hätte ihm diese Leistung im Vorfeld nicht zugetraut, aber die Rolle des sich in seiner eigenen Lebenslüge suhlenden Max spielt er umwerfend. Foxx wächst hier über sich hinaus. Es zeigt sich hier einmal mehr, dass Michael Mann es stets schafft das Bestmögliche aus seinen Hauptdarstellern herauszuholen. Selbst die in einer Nebenrolle zu sehende Jada-Pinkett Smith („The Matrix Revolutions“) spielt weiter über ihrem Standard. Doch zurück zu Foxx. Der hat hier bewiesen, dass er tatsächlich, wenn man ihn fordert, richtig gut schauspielern kann.
In den weiteren Nebenrollen und einem parallel verlaufenden Plot sind neben Peter Berg (Regisseur von „The Rundown“) Mark Ruffalo (ersetzte Val Kilmer) und Bruce McGill („Timecop“, „The Last Boy Scout“) zu sehen.
Der wahre Star heißt aber weder Cruise noch Foxx, er heißt Los Angeles. Mann fängt die Metropole in surrealistisch anmutenden Bildern ein. Es ist ein Menschen leeres, einsames Neo-Lichtermeer an dem man sich nicht satt sehen kann. Das Publikum wird in die abgelegensten Hinterhöfe, Discotheken und Raffinerien entführt, begleitet von Kompositionen James Newton Howards („The Fugitive“, „Wyatt Earp“) und völlig unterschiedlichen, sich dem Tempo und der Dramatik anpassenden Musikstilen (Klassik, Rock, Techno, etc). Manns Inszenierung strahlt einen dokumentarischen Flair aus, so dass man als Zuschauer die Stadt förmlich fühlen kann, den Smog riecht, ja sich komplett in den Film versetzt fühlt – als Teil des Ganzen. Besonders während der Gespräche im beengten Raum des Taxis kommt das zum Tragen. Meine persönliche Szene des Jahres ist wohl die, in der Max anhält, weil auf dem einsamen Freeway plötzlich zwei Kojoten den Weg seines Taxis kreuzen. Wie dann die Musik einsetzt und Mann zwischen den wissenden Gesichtern seiner beiden Protagonisten wechselt, das ist ganz großes Kino. Man spürt förmlich wie beide in der selben Sekunde das Gleiche denken.
Immer wieder überrascht „Collateral“ mit seinem bis zum Ende nie vorhersehbaren Plot. Die völlig unerwarteten Reaktionen und vor allem die Denkweise Vincents sind dabei das Salz in der Suppe. Allein wie der scheinbar so friedliche Besuch in der Jazzbar mit anschließender Diskussionen über Miles Davis auf einmal mit seiner Wendung verblüfft, ist meisterhaft umgesetzt. Bis dahin verzichtet Mann fast völlig auf Action, verlässt sich auf die fast schon surrealen Locations, das Duo und seine Dialoge, um dann in einer Disco, eine halbe Stunde vor Schluss, zum ersten Showdown zu blasen. Das dortige Zusammenspiel von Ton, Schnitt und Kamera ist referenziell und steht der Straßenschießerei von „Heat“ in nichts nach. Wobei man beide nicht vergleichen kann, denn „Collateral“ ist in dieser Szene auf einen engen, mit in Panik versetzten Menschen, überfüllten Raum begrenzt. Hier tritt Vincents ganzes tödliches Talent in den Vordergrund - seine Maske fällt. Er muss er nicht nur die Bodyguards seines Opfers ausschalten, sondern sich nebenher auch noch FBI-Agenten und einen Polizisten der L.A.P.D erwehren. In schnellen Schnitten, Kameraschwenks und der pulsierenden Technomusik von Paul Oakenfold schießt, prügelt und schlitzt sich Vincent blutig und brutal durch seine Widersacher- ohne Gnade.
Die letzten Filmminuten sind dann wieder auf dem melancholisch-dramatischen Niveau des Endes von „Heat“ und finden dieses Mal in einer Straßenbahn statt. Es ist das letzte Aufeinandertreffen der beiden, nur einer wird es überleben. Der Auslöser ist etwas überhastet actionbetont, aber der folgende, kurze, ehrliche Wortwechsel, der im Grunde alles noch mal zusammenfasst und nachdenklich stimmt, entschädigt dafür. Als die Straßenbahn dann weiterfährt und die Kamera ihr in einem letzten Schwenk hinterher blickt, bleibt man allein mit der Erkenntnis zurück, eine beeindruckende Nacht, die alle Beteiligten für immer verändert, mitverfolgt zu haben.
Der Erfolg an den Kinokassen gab Michael Mann recht. Inzwischen an der 100-Millionen-Dollar kratzend, erweist sich „Collateral“ endlich mal wieder als finanzieller Erfolg. Das dürfte auch am Kassenmagneten Tom Cruise liegen, der zwar als Zugpferd gecastet wurde, aber auch Leistung erbringt. Es ist ein Film der leisen Töne, ein Thriller, der sich als Charakterstudie ausweist und tief in die Seelen der beiden Hauptdarsteller blickt, ohne den eigentlichen Plot aus den Augen zu verlieren. Die experimentierfreudige Inszenierung ist da nur das Sahnehäubchen, dürfte aber Einfluss auf zukünftige Produktionen haben. Insbesondere Manns optisch innovative Spielereien, wie der Zoom aus dem im Dunkeln liegendem Büro auf das Lichtermeer L.A.s und den dabei in lose, durchsichtige Konturen verschwimmende Cruise, sowie die darauf folgende Fahrt zurück, sind ein Leckerbissen sondergleichen. Gleiches gilt für die aus den Polizeihelikoptern aufgenommen Perspektiven auf das, sich im glänzenden Lack des Helis wiederspiegelnde, Lichtermeer. Überhaupt werden aufmerksame Filmfans hier in fast jeder Szene die Liebe zum Detail erkennen können. Man kann sich an Mann einfach nicht satt sehen – keine Szene die irgendwie deplaziert oder überflüssig ist, die nicht einen Zweck erfüllt.
Inwiefern „Collateral“ auch ein politisches und gesellschaftliches Statement ist, darf vom Zuschauer frei interpretiert werden. An Max lassen sich jedenfalls eine Menge Mankos der heutigen Zeit ausmachen. Dieses Sicherheitsdenken und das Scheuen von Risiko sind eindeutig Symptome unserer krankenden Gesellschaft. Aus Angst vor dem Verlust der eigenen Existenz schaut man weg, lügt sich selbst etwas vor, versucht zu ignorieren, sich anzupassen und möglichst nicht aufzufallen. Max folgt diesem Trend, bis ihm die Sache zu persönlich wird und Menschen, die ihm wirklich etwas bedeuten, in Gefahr geraten. Wie ein Weckruf zum couragierten Handeln wirkt da der Besuch im Krankenhaus.
Vincent ist auf den ersten Blick ein nach außen hin unscheinbarer, makelloser Zeitgeist, der mit seinen Weisheiten um sich wirft und Statistiken und wahnwitzige Wahrheiten hinzuzieht, um Max für seine Zwecke zu missbrauchen. Und doch sind seine Aussagen größtenteils nur Fassade. Dahinter versteckt ein einsamer, berechnender Geist, ein Individuum, dass sich längst zum Einzelgänger entwickelt hat – ausgespuckt von der Gesellschaft, gern angenommen von denen, die sie aussaugen. Wer möchte, kann diese Charakterzüge auf eine Vielzahl bekannter Personen (sei es Politik oder Wirtschaft) anwenden.
Fazit:
Ein Meisterwerk - der beste Film des Kinojahres 2004 - wenn nicht der letzten Jahre. Mit „Collateral“ schuf Regisseur Michael Mann einen visionären Mix aus Thriller und Drama, der sich in seinen intelligenten, tiefschürfenden, philosophisch angehauchten Dialogen, den Charakterportraits und seinen überraschenden, nie vorhersehbaren Plotwendungen ganz dem anspruchsvollen Kino verschrieben hat. Dank der versierten Inszenierung atmet man die Luft von Los Angeles förmlich. Die meisterhaft choreographierten Actionszenen, das großartig aufspielende Duo Cruise/Foxx und der intelligente Mix diverser Musikstile erledigen den Rest. Ganz großer, unvergesslicher, atmosphärischer Crowd-Pleaser, wie man ihn heutzutage leider nur noch sehr selten zu sehen bekommt. Danke, Michael Mann! Zumindest 5 Oscar-Nominierungen für Regie, Kamera, Schnitt, Ton und bester Hauptdarsteller sollten angesichts der schwachen Konkurrenz kein Problem sein.