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In dem Jahr seines Todes wurde Pier Paolo Pasolinis finales Werk uraufgeführt: "Die 120 Tage von Sodom" - eines der umstrittensten Werke der Filmgeschichte, dass die Kinozuschauer zum Herhausrennen, die Zensoren zum Verzweifeln und die Gerichte schließlich sogar zum Verbieten brachte. Zu Recht? Wir werden sehen.

Zunächst, die Geschichte. Was erzählt uns "Die 120 Tage von Sodom"? Vier dekadente Großbürger rekrutieren in der Zeit des diktatorischen Italiens je acht Jungen und acht Mädchen, die sie auf ihrem Sitz durch orgiastische Ausschweifungen erniedrigen und pervertieren wollen. Das durch Waffengewalt und Mord erzwungene Selektieren der Opfer geht schnell vorüber, schnell stellt sich der Film der Geschehnisse in dem Schloss - ein Schauplatz für jede nur erdenkliche Perversion ohne Rücksicht auf die Menschenwürde. Die Jungen und Mädchen müssen drei Tage des seelischen und körperlichen Terrors durchmachen, die Pasolini in ebenfalls drei, an Dante angelehnte Höllenkreise unterteilt: Die Höllenkreise der Leidenschaft, der Scheiße und des Blutes.

"Die 120 Tage von Sodom" basiert auf dem gleichnamigen Buch des Marquis de Sade. De Sade verfasste eingekerkert die von Pasolini verfilmte Bauanleitung für die sadistische Wollust, nach der man sein Opfer erst erniedrigen und unterordnen muss, um wahre Lust und Befriedigung zu verspüren. Und genau nach dieser Devise gestalten die vier großbourgeoisen Herren ihre Tage mit ihren Lustsklaven. Streng reglementiert und observiert geben die kindlichen Männer und Frauen sich ihren Herren in allen Lebenslagen geschlagen, und fügen sich fast ohne Protest, den Terror hinnehmend. So nehmen sie im Orgiensaal platz und müssen den ausschweifenden Erzählungen verschiedener gedienter Luxusprostituierten lauschen, deren Berichterstattung stimulierend wirken soll. Danach kommt es zu den geplanten Spielen der vier Herren: Es wird vergewaltigt, sodomiert, degradiert. Sämtliche Sexualpraktiken, auch wenn sie Fäkalien, Demütigung und Folter beinhalten, werden getrieben und lobpreist.

Was also ist "Die 120 Tage von Sodom"? Ist es wirklich verbietenswerte Exploitation, die sich darauf gefällt, das Verachtenswerte der menschlichen Animalie für viel Geld und Aufsehen auszuschlachten? Nein, denn Pasolini geht bei der Inszenierung seines Films einen recht eindeutigen Weg. Sein Film ist karg, ohne Vitalität, ohne Schönheit. Die Dekors innerhalb des Hauses sind leb-, farblos und flach. Tonino Delli Collis Kameraarbeit ist fast immer statisch, nie bewegt sich die Kamera auf eine ästhetisch ansprechende Weise, sondern scheint einfallslos, beziehungsweise dokumentarisch einfach dazustehen. Pasolinis Bilder sind einfach nicht schön. Auf glitzernde Opulenz oder subtile Erotik verzichtet er ganz, sondern zeigt uns nur die Perversionen und Gewalttätigkeiten in einer Direktheit und Klarheit, dass sich durchaus der Magen des Zuschauers umdrehen mag.

Kontrastiert werden die schrecklichen Episoden, in denen die jugendlichen Opfer dazu gezwungen werden, sich inzestuös untereinander und innerhalb des eigenen Geschlechts zu paaren, und ihre eigenen Exkremente zu verspeisen, durch die hohe Kultiviertheit der "Bösen". Hochtrabend zitieren sie Nietzsche und Baudelaire und hängen sich Picasso-Gemälde in ihrem Schloss auf. Ihr Verhalten bleibt untereinander immer gesittet und gebildet, wenden sie sich ihren zu Objekten degradierten Opfern zu, werden sie zu reißenden Bestien, nur darauf aus, ihnen Schaden hinzuzufügen und zu ejakulieren. Pasolini zeigt und sagt: Das Böse schlummert überall. Auch der intelligenteste, hochgestellteste Mensch hat jene dunkle Seite in sich.

Ja, Pasolinis Werk muss, auch wenn man das Gezeigte verabscheut, eine respektable Wahrheit zuschreiben. Er zeigt den Horror, das Unmenschliche im Schöngeistigen und zeigt auch, wie konsequent das Böse ist. Am Ende des Films stehen Folter- und Tötungsszenen, die zwar oft nur angedeutet werden, aber wieder durch die gleichgültige Freude der vier Männer zu einer fürchterlichen, absurden Intensität geschaukelt werden. Da wird skalpiert, verbrannt und zerschnitten. Und die Politiker tanzen, onanieren und scherzen dazu. Pasolini zeigt ein ehrliches Sittenbild; er erfindet die Perversion nicht, er bildet nur die Realität ab, zeigt uns, in welche Abgründe der menschliche Geist, unabhängig des Bildungsgrades, fallen kann.

Der Film kümmert sich in seiner Erzählung nicht im Geringsten um seine Charaktere. Teilnahmslos und uninteressiert beobachtet er die Opfer. Zwar wird hin und wieder eine der Figuren gesondert betrachtet, jedoch wird nie das Leben und Leiden der Jungen und Mädchen außerhalb der obsessiven Spiele dramatisiert. Keine Fluchtpläne, keine stärkenden Freundschaften – nicht einmal die Beobachtung einer Träne bei Nacht. Nein, der Film folgt lediglich den vier Perversen, wie sie ihre Triebe an den bedauernswerten Kreaturen befriedigen. Nicht mehr, nicht weniger. Dadurch bewahrt sich "Die 120 Tage von Sodom" eine grässliche Distanz, die zu der kalten, emotionslosen Atmosphäre passt.

Ist der Film also nur eine Warnung? Ein ätzendes, hässliches Sittengemälde? Auch. Denn Pasolinis Werk ist auch eine Reflektion auf den Faschismus in seinem Land. Die Geschichte ist 1944 angesiedelt, kurz vor dem Ende Mussolinis, einer Zeit, in der sich das Volk dem diktatorischen Folterer untergeordnet hat, die Augen schließend und das Töten leugnend. Und so ist "Die 120 Tage von Sodom" eine wichtige Parabel auf eine Politik, die ihr Volk vergewaltigt, ohne dass dieses rebelliert.

Am Ende gibt es natürlich keinen Ausweg. Kein Superheld befreit die armen Kinder von ihrem Leidensweg. Nein, viel wahrscheinlicher ist, dass diese Geschehnisse sich wiederholen werden, so wie sich jene Verbrechen auch in unserer Historie immer wieder repetieren. "Die 120 Tage von Sodom" ist ein kolossaler Film - ohne triviale Übertreibung, nur durch realistische Abgründigkeit provozierend. Ein politisch verurteilender, und menschlich warnender Albtraum aus Blut, Kot und Sperma. Der Film ist weder ein Pin-up für Perverse, noch ein gewaltverherrlichender Comic. Es ist eine anstrengende, herausfordernde filmische Auseinandersetzung mit dem Bösen, mit dem Sadistischen.

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