Diesen Film wirklich objektiv zu bewerten fällt ungemein schwer. Nicht nur dass es mittlerweile doch schon eine ganze Weile her ist, dass ich ihn gesehen habe (dafür gleich zweimal hintereinander) sondern auch weil man für eine richtige Betrachtung nicht nur den Film an sich sondern auch dessen Hintergründe kennen muss.
1785 begann der in der Bastille inhaftierte Marquis de Sade mit seinem "Manuskript" für "Die 120 Tage von Sodom oder die Schule der Libertinage". Darin beschreibt er die Geschichte von vier korrupten Franzosen die während der Zeit Ludwigs des 14. sechzehn Jugendliche (8 Jungs und 8 Mädchen) in einem geheimen Versteck auf alle erdenklichen Arten psychisch und physisch vergewaltigen um sie schlußendlich bestialisch zu ermorden. Quintessenz des nicht vollständig fertiggestellten Schriftstückes sollte die Kritik am Totalitären Staat und dessen Macht über den kleinen Bürger sein. Beim Sturm auf die Bastille, dem Beginn der französischen Revolution, wurde schließlich Sade´s Text gefunden und 1904 durch den Sexualforscher Iwan Bloch veröffentlicht.
Pier Pasolini, dem ein oder anderen vielleicht durch seine Bibelverfilmung "Das 1. Evangelium nach Matthäus" bekannt, verfilmte das Skript dann im Jahre 1975. Allerdings verlagerte er den Schauplatz von Südwestdeutschland in das faschistische Italien kurz vor Ende des 2. Weltkrieges. Interessanterweise spielt "Die 120 Tage von Sodom" in seiner Interpretation in der Ortschaft Marzobotto, die tatsächlich "1944 Schauplatz eines großen Massakers von SS und Wehrmacht an der Zivilbevölkerung war" (Zitat: Wikipedia). Hier werden nicht Unschuldige von der französischen Upper-Class, sondern Widerstandskämpfer von Anhängern und Köpfen des faschistischen Regimes mißbraucht. Das Pasolini´s Bruder Guido, selbst Partisane, von eben diesem Regime hingerichtet wurde, mag mit ein Grund für diesen interessanten Schachzug gewesen sein.
Ist de Sade´s Literatur weltweit als pervers und krank verschriehn (das Wort Sadismus kommt nicht von ungefähr), muss man bei aller Liebe gestehen, dass Pasolini´s Werk dem in nichts nachsteht. In Anlehnung an Dante´s Inferno werden hier die jungen Leute nach dem Motto der drei Höllenkreise (der Leidenschaft, der Scheiße und des Blutes - und glaubt mir diese Titel kommen nicht von ungefähr) auf das schrecklichste gefoltert und erniedrigt. Sämtliche Spielarten des Sadismus werden hier gezeigt, und das in extremst drastischer Form. Während zu Beginn nur Vergewaltigung und Mißbrauch auf der Tagesordnung stehen, müssen die Jungs und Mädchen später bei einem Bankett Kot verzehren oder vor der illustren Runde der Faschisten urinieren, werden wir Hunde an Leinen durch den Raum geführt, oder müssen an einer bitterbösen Persiflage einer Hochzeit teilnehmen. Denkt oder hofft man bis dato noch, das Ziel der alten geilen Säcke wäre lediglich das Brechen des Willens der armen Gefangenen, muss man spätestens beim menschenverachtenden Ende, bei dem sämtliche Jugendliche auf die schrecklichste Art und Weise gefoltert und schließlich getötet werden, einsehen, dass es um nichts weiter als die Ausübung der Macht des Stärkeren über den Schwächeren geht.
Bis zu diesem Zeitpunkt betrachtet man den Film mit Abscheu, mit Hass, mit Ekel. Man schämt sich. Für diesen Film und auch für sich. Denn man schaut trotz alledem gebannt zu; Das Unfall-Prinzip: wir wollen nicht, aber wir müssen einfach hinsehen. Die schauspielerische Leistung ist dabei bis zuletzt grandios. Man ist sich kaum sicher, ob das was gezeigt wird nun wirklich freiwillig geschieht, oder ob man es nicht am Ende gar mit einer Art Snuff-Movie allerhöchster Qualität zu tun hat. Wie bei Marquis de Sade, scheint auch bei Pasolini´s Film, die letzte Stelle die Pointe, oder auch nur die Erklährung für die vorhergehenden quälenden Stunden zu sein: Da unterhalten sich zwei der Bewacher, nachdem alle Gefangenen tot im Garten liegen, und einer erzählt dem anderen von seinem Mädchen daheim. Dieser plötzliche Bruch der Gewalt mit einer völlig harmlosen, nüchternen Romantik, die uns plötzlich fühlen lässt: Das sind ja auch nur Menschen ! Will uns Paolini damit zeigen, dass Gewalt, Sadismus und Menschenverachtung nicht erklährbar ist. Das ganz normale Menschen wie Du und Ich unter den richtigen (oder besser: falschen) Umständen zu Bestien werden können ? Das es keine Mythologisierung á la Heinrich Himmler oder Adolf Hitler braucht, dass man das Böse nicht verstehen aber in jedem von uns erahnen kann ?
Zahlreiche (evtl. sogar berechtigte) Skandale führten zu einem weitreichenden Verbot des Films in vielen Ländern, va. Europas. kirchliche Gruppen protestierten und besorgte Moralapostel gingen auf die Straßen. Dass dabei der kritische Hintergrund des Films völlig ausser Acht gelassen wurde, die Rede nur von einem pornographischen und pervers brutalen Machwerk war, zeigt wohl, dass die meisten dieser Leute (wie so oft) den Film nicht gesehen, sondern sich nur auf plakative Zeitungs- und Fernsehberichte stützten. Natürlich muss man sich fragen, ob dieser Film notwendig ist, ob diese Stilmittel wirklich hätten bemüht werden müssen. Wieviel Selbstzweck in den verstörenden Sex- und Gewaltszenen des Films liegt. Dennoch kann eine Kritik nur nach objektiver Betrachtung des Films funktionieren. Dass die bei den "120 Tagen" mehr als schwer ist, kann ich nicht als Entschuldigung gelten lassen.
2003 schließlich wurde der Film in Deutschland, 28 Jahre nach seiner Entstehung, in ungeschnittener Form neu herrausgebracht. Pasolini selbst jedoch hat weder vom Aufruhr um sein Werk, noch von dessem finalen Sieg über die Zensurstellen Europas etwas mitbekommen. 1975, kurz vor Vollendung seines Werks wurde er tot auf einem Fußballplatz in Ostia gefunden. Offensichtlich wurde er mehrmals von einem Auto überfahren. Die Hintergründe des Mordes sind bis heute nicht restlos geklährt.
In Australien ist "Die 120 Tage von Sodom" bis zum heutigen Tag verboten.