Review

Journalist und Aufklärer der verklemmten Bundesrepublik Oswalt Kolle brachte uns seit 1967 diverse Sexualaufklärungsfilme, darunter „Deine Frau, das unbekannte Wesen“ und „Dein Mann, das unbekannte Wesen“. Für letzteren arbeitete er erstmals mit Regisseur Werner M. Lenz zusammen, dessen Regie-Debüt der Film aus dem Jahre 1970 markiert. Im selben Jahr durfte Lenz, der es während seiner Regie-Karriere bezeichnenderweise insgesamt zu nichts anderem als fünf Sex-Report-Filmchen brachte, dann noch einmal für den dritten Teil der „Unbekannte Wesen“-Trilogie ran: „Dein Kind, das unbekannte Wesen“.

„Sie haben gesehen, dass in unserer Familie das Tabu der Nacktheit nicht existiert!“

Wie gewohnt führt Kolle persönlich in den Film ein, den der Zuschauer mit seinem Sohn Nino im Vorschulalter splitternackt am FKK-Strand zeigt. Kolle zeigt Nino ein Foto einer blutigen Geburt und klärt ihn auf, indem er ihm etwas von „Samenkörnchen“ erzählt. Die Kamera hält drauf, wie Nino an seinem Penis spielt und Kolle kommentiert aus dem Off. Inwieweit sich Nino später darüber gefreut haben mag, auf diese Weise vor laufender Kamera vorgeführt und „aufgeklärt“ worden zu sein, weiß ich nicht… Der erste geschauspielerte Einspieler handelt vom Prozess der Sauberkeitsgewöhnung bei Kleinkindern: Ein Kind soll inmitten seiner Spielsachen aufs Töpfchen, doch Kolle insistiert: Der Topf gehöre auf die Toilette! Sauberkeitserziehung müsse aber auch gar nicht unbedingt sein, siehe England (das erklärt natürlich einiges über unsere angelsächsischen Mitmenschen (kleiner Scherz!)). Kolle diskutiert mit Prof. Dr. Gerd Biermann, Leiter des ersten deutschen Instituts für Psychohygiene in Brühl, und skizziert den Staabs-Test: Der kleine, kranke Peter baut spielerisch einen Unfall nach, ein Junge wird eifersüchtig auf seinen Vater und die kleine Schwester, ein Mann ohrfeigt ein Kleinkind und haut ihm auf den Po. Der Grund: Ein Konflikt am Essenstisch (auf dem beide Elternteile im Übrigen schöne Bierknollen stehen haben). Mit Erwachsenen wird dieser Vorgang überspitzt in einem Restaurant nachgespielt, ebenso dass ein Vater das Spielzeug seines Kinds wegschließt: In der komödiantisch-übertriebenen Verdeutlichung der Wirkung auf das Kind wird dem erwachsenen Vater nach Falschparken der fahrbare Untersatz weggenommen. Diese Szenen lockern den sich bis dahin bierernst gebenden Film auf lustige Weise auf und Kolle spricht sich unzweideutig gegen Prügelstrafen aus:

„Wissenschaftler haben nachgewiesen, dass auch Schläge auf das Gesäß zu Hirnschädigungen führen können!“

So weit, so gut und heutzutage weitestgehend selbstverständlich, und dass Kolle ebenfalls dafür plädiert, Kindern ihre harmlosen Doktorspielchen zu lassen, statt hysterisch auf sie zu reagieren, ist natürlich auch in keiner Weise zu verurteilen. Mit der filmischen Darstellung kindlich-naiver Erkundung des „fremden“ Geschlechts kratzt Kolle allerdings hart an der Grenze zur Pädophilie, wenn er sich nackt bemalende und tanzende Kinder sowie ihr Arzt-Patient-Rollenspiel zeigt. Ich möchte Kolle und Lenz nichts unterstellen, fürchte aber, dass damit durchaus eine nicht unbedingt als Zielgruppe auserkorene Klientel bedient wurde…

Zurück am Sylter FKK-Strand spricht sich Kolle für nichtautoritäre Erziehung aus und diskutiert gestellt wirkend Nacktheit am Strand und generell in der Familie, und zwar mit seiner Familie; seine Frau, seine jugendlichen Tochter und sein jugendlicher Sohn befinden sich nun ebenfalls unverhüllt vor der Kamera. Damit nicht genug, mit seiner rauchenden Tochter diskutiert er offen über Sex mit Männern und mit seinem Sohn über Onanie. Spätestens hier setzt der Fremdschamfaktor ein, denn über diese Themen offenherzig zu reden, sollte natürlich kein Problem, es mit seinen eigenen Eltern zu tun, bedeutet jedoch aus gutem Grund das Überwinden einer natürlichen Hemmschwelle. Kolle, der sich ostentativ als körperlich wie geistig freier Sexualliberaler präsentiert, serviert seine Familie auf dem Tablett, als wolle er sagen: „Seht, all ihr Verklemmten, wie ungezwungen und fortschrittlich wir doch sind!“ All dies verhindert jedoch nicht, dass sich seine Frau vom Sohn den Vorwurf gefallen lassen muss, eine „Scheinliberale“ zu sein.

Eines der Kernstücke des Films bildet die längere Spielfilmepisode um eine Reisegruppe Jugendlicher, die unter der Knute ihres eigentlich gar nicht so unsympathischen erwachsenen Gruppenleiters steht, der sich an seine Vorschriften halten und jegliche Gemischtgeschlechtlichkeit sowie Nacktheit streng untersagen muss. So wird die Gruppe nach Geschlechtern getrennt, darf nicht an den Nacktstrand und schon gar nicht dürfen sich Jungen und Mädchen in sexueller Hinsicht zu nahe kommen. Dies geschieht natürlich trotzdem und als der Aufpasser Norbert und Sabine in den Dünen erwischt, heißt es für beide: Abfahrt nach Hause. Der Film verlässt hierfür seinen dokumentarischen Stil und setzt auf Kitsch (Lagerfeuer, Wanderklampfen, Gesang („Greensleeves“)), Romantik, musikalische Untermalung und Softsex, in dessen Verlauf sogar Norberts erigiertes Glied zu sehen ist, das von Sabines Hand gestreichelt wird. Auch wenn sich Kolle im Anschluss richtigerweise für die Abschaffung von Gesetzen ausspricht, die vorehelichen Sex verurteilen, steht dies nur im marginalen Zusammenhang mit dem zuvor Gezeigten, das mehr Teenie-Softporno als Aufklärung war.

Den Vogel schießt Kolle aber mit der letzten Episode ab: Renate ist schwanger, erwartet evtl. gar Zwillinge. Ihr Michael leidet unter Geldsorgen und Zukunftsängsten. Letzteres wird jedoch kaum weiter thematisiert, stattdessen geht man dazu über, das hölzern agierende Paar „Mensch, ärger dich nicht!“ spielen zu lassen, nachdem ihre erste Wehe eingesetzt hat und sich so die Zeit auf die nächsten zu vertreiben. Jegliches hölzerne Schauspiel endet indes abrupt, als Kolle ohne Vorwarnung dazu übergeht, die blutige Geburt in allen Einzelheiten, inkl. Aufschneiden und Vernähen des Damms, kommentarlos zu zeigen und damit indirekt und ungewollt Werbung für Empfängnisverhütung zu betreiben. Anscheinend hatte er es nie verkraftet, dass ihm damit noch vor seinem ersten Film der staatlich geförderte Aufklärungsfilm „Helga - Vom Werden des menschlichen Lebens“ 1967 zuvorgekommen war und musste unbedingt ebenfalls solche Szenen irgendwie unterbringen – und sei es thematisch unpassend am Ende eines Films mit dem Titel „Dein Kind, das unbekannte Wesen“. Nachdem Kolle zum Schluss noch ein paar krude Behauptungen zum Thema Stillen aufgestellt hat, schließt sein sechster Aufklärungsfilm, der zwar wieder ein gute Handvoll wahrer und seinerzeit vermutlich aufsehenerregender Aussagen enthält und hoffentlich seinen Teil dazu beigetragen hat, dass weniger Kinder geschlagen und zur Prüderie erzogen sowie in ihrer sexuellen Entwicklung gestört, sondern stattdessen vernünftig aufgeklärt werden, ansonsten aber immer wieder jegliches Niveau unterbietet, zur Nabelschau der Familie Kolle gerät, bisweilen unter Schamlosigkeit, Fremdscham und unfreiwilliger Komik sowie Unsachlichkeit, aber auch viel mehr oder weniger wertvollem Zeitkolorit pendelt und kalkuliert auf reißerische Schockwirkung statt auf pädagogische Aufklärung setzt.

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