„Ich will nicht mit dir nach Italien fahren und nicht dem Sonnenuntergang zugucken. Ich will nicht deine Eltern kennenlernen und auch nicht auf deine Katze aufpassen. Mich interessiert nicht, wann Du geboren bist oder was deine Tante von Beruf ist. Ich will nur ficken, ficken, ficken, ficken, ficken, ficken…“ –- Knorkator
1972: Die Welt ist um einen „Skandalfilm“ reicher. Der italienische Autorenfilmer Bernardo Bertolucci („Die Träumer“) hatte „Der letzte Tango in Paris“ gedreht – in einer der beiden Hauptrollen: niemand Geringerer als Marlon Brando – und es geschafft, ihn zu veröffentlichen. Ein Sexualdrama, das sich für die Entstehungszeit unerhörter vulgärer Sprache bediente und sich freizügigen Obszönitäten hingab, ja, ihnen freien Lauf ließ. Ein Film, der Tabus brach und provozierte – so sehr, dass er Zensurversuchen und Aufführungsverboten unterlag, beschlagnahmt wurde, ja, in Italien sogar Freiheitsstrafen gegen Produzent, Regisseur und die Hauptdarsteller ausgesprochen wurden und man Bertolucci zeitweise seine bürgerlichen Rechte entzog.
2015: Im Rahmen meiner fast chronologischen Auseinandersetzung mit der Entwicklung der Sexualität im Kino lege ich neugierig „Der letzte Tango in Paris“ ein, ohne sonderlich viel über ihn im Vorfeld in Erfahrung gebracht zu haben. Ich sah Marlon Brando, der sich Überlieferungen zufolge damals in einem Karriereknick befand, aber gerade „Der Pate“ abgedreht hatte – der Film war noch nicht in die Kinos gelangt, so dass Brando noch nicht wissen konnte, welch Erfolg er werden würde. Hier spielt er den 45-jährigen US-amerikanischen Witwer Paul, der in Paris lebt und gerade seine Frau Rosa verloren hat – es war Selbstmord. Er trifft auf die 20-jährige Französin Jeanne (Maria Schneider, „Liebe Eltern“) im Rahmen einer Wohnungsbesichtigung. Ohne dass sich beide einander vorstellen würden, haben sie spontanen Sex miteinander. Am nächsten Tag kehrt Jeanne in die Wohnung zu Paul zurück, welcher von ihr fordert, dass sie sich gegenseitig nichts voneinander erzählen, sozusagen anonym bleiben und sich in dieser Wohnung ausschließlich zum Zwecke der Auslebung ihrer Sexualität miteinander treffen.
„Halt’s Maul, Schweinehund! Miststück!“
Obwohl Jeanne mit dem ambitionierten Filmemacher Tom (Jean-Pierre Léaud, „Zwei Mädchen aus Wales und die Liebe zum Kontinent“) verlobt ist, der sie damit überrumpelt, einen Dokumentarfilm über sie zu drehen, kehrt sie immer wieder in besagte Wohnung zu Paul zurück. Sie fühlt sich stärker zu Paul als zu Tom hingezogen und erlangt sexuelle Befriedigung. Die Absprache der Anonymität jedoch versucht sie immer wieder zu torpedieren, zum Missfallen Pauls. Es scheint ein Gefälle zwischen der sich von Tom und seinen Heiratsplänen eingeengt fühlenden Jeanne und dem verbitterten Paul zu bestehen: Er dominiert ihre Beziehung und behandelt sie schlecht, was an ihrer Hingabe jedoch nichts ändert. Ihre Verschwiegenheit indes bröckelt mit der Zeit, zumindest über ihre Vergangenheit erzählen sie sich gegenseitig immer mehr. Paul muss sich mit dem Tod seiner Frau auseinandersetzen, die ein billiges Hotel geleitet hatte und sich um die Beisetzung kümmern, worüber er in Streit mit seiner Schwiegermutter gerät (ein willkommener Anlass für Kritik am Klerus). Zudem lernt er Marcel (Massimo Girotti, „Baron Blood“) kennen, mit dem seine Frau ihn betrogen hatte und der ihm kurioserweise alles andere als unähnlich ist. Als er sich erneut mit Jeanne trifft, cremt er ihren Anus mit Butter ein und zwingt sie zum Analverkehr. Später bittet er sie, ihm ihre Finger in den Hintern zu stecken. Am offenen Sarg spricht er mit seiner toten Frau und klagt sie bitterlich an, beschimpft sie.
Schließlich jedoch wendet sich das Blatt und Jeanne und Paul durchbrechen die Isolation der karg eingerichteten Wohnung. Er offenbart ihr, sie zu lieben. Betrunken tanzen sie den titelgebenden letzten Tango in einem vornehmen Pariser Tanzlokal, bevor sie ihre Beziehung beendet. Daraufhin verfolgt er sie durch die Stadt und stellt ihr bis in ihre Wohnung nach, wo sie ihn erschießt.
Ich sah skandalträchtige sexuelle Handlungen und menschliche Verhaltensweisen, aber auch ausdrucksstarke, durchkomponierte Bilder, die in ihren Farbgebungen und Ausleuchtungen nicht viel dem Zufall zu überlassen scheinen. Ich hörte vulgäre Dialoge und fühlte mich von Pauls teilweise extrem liederlichem Tonfall an Film-noir-Antihelden erinnert. Und ich wurde Zeuge eines unheimlich intensiv schauspielernden Brandos sowie einer mutigen, mit ihrer Natürlichkeit bestechenden Jungschauspielerin, die gar nicht einmal unbedingt eine klassische Schönheit, geschweige denn eine Femme fatale ist. Und ich stellte mir im Anschluss derart viele Fragen nach der Bedeutung des Films, dass er mich die nächsten Tage begleitete. Ich hatte den Film grob als fatalistisch- und antibürgerlich-romantisch aufgefasst, und als wolle er die gar nicht einmal seltene Beziehungskonstellation aufzeigen, in der die Frau ein unverbindliches Abenteuer sucht und findet, dieses jedoch komplett seinen Reiz verliert, sobald sich tiefergehende Gefühle beim Partner entwickeln – doch erschien er mir bisweilen auch etwas arg unglaubwürdig und das vermittelte Frauenbild in Person Jeannes gab mir ebenfalls Rätsel auf.
Also befasste ich mich weiter mit dem Film. Und ich erfuhr viel: U.a. dass es Bertoluccis erklärtes Ziel gewesen sei, unterschiedliche Interpretationsmöglichkeiten anzubieten und deshalb uneindeutig zu bleiben. So entsprang die Idee des anonymen Sexes in einer neutralen Wohnung einer zwanghaften Phantasie Bertoluccis, die den Ausgangspunkt für das Drehbuch bildete. Die Wohnung wird stilisiert als Zufluchtsort, abgeschottet von der Außenwelt, in der die Mechanismen von Leistungsgesellschaft und Repression nicht gelten. Andere sehen in „Der letzte Tango in Paris“ den Kampf zwischen Eros und Thanatos oder die Betonung des Sex als einziges lebendiges Element einer toten Welt, in der sogar die Liebe gestorben sei, den totalen Abgesang auf bürgerliche Beziehungskonstellationen, aber auch den auf Dauer erfolglosen Einsatz von Sexualität zur Verdrängung persönlicher Probleme, Aggressivitätsverlagerung (statt gegen Rosa nun auf sexuelle Weise gegen Jeanne) etc. Nicht minder interessant sind die Thesen, der Film zeige ödipale Verhältnisse: Paul habe zu seiner toten Frau eines gehegt, Jeanne wiederum unterhielte eines mit Paul. Auch Anlehnungen an die griechische Orpheus-Sage wurden erkannt. Brando selbst sah seinen Charakter anscheinend auch als Ausdruck einer typischen männlichen Midlife Crisis.
Eine von vielen Besonderheiten ist auch die Marlon Brando gewährte Improvisationsfreiheit, die er sich offenbar derart zunutze machte, dass mancher viel Persönliches Brandos im Film entdeckt haben will, allem voran sein Leid. Brandos Improvisationen gipfeln in der Analverkehr-Szene, die natürlich nicht wirklich durchgeführt, jedoch im Vorfeld nicht mit Maria Schneider abgesprochen wurde und somit tatsächlich einer Art Vergewaltigung gleichkam – die authentische Reaktionen provozierte. Dies ist zugleich der Höhepunkt des Machismo, mit dem er Jeanne erniedrigt und den er steigert, je mehr Jeanne wahre, sanfte Gefühle offenbart. Zumindest der Verdacht liegt nahe, Jeanne tue dies – möglicherweise unterbewusst – absichtlich, scheint doch ihr Masochismus in der ödipal geprägten Beziehung zu Paul insofern zumindest „halb-freiwillig“ gewählt, da sie eben jene Brutalität erregt, sie eventuell gar nur auf diese Weise zu befriedigen ist. Bezeichnenderweise bezichtigt sie Tom der Vergewaltigung (im übertragenen Sinne), nicht Paul. Ob Schuldgefühle aufgrund ihrer höheren Klassenzugehörigkeit dabei tatsächlich eine Rolle spielen (wie mitunter zu lesen ist), sei jedoch einmal dahingestellt.
Tom wiederum wird leicht karikierend gezeichnet, tendiert ins Komödiantische. Während Pauls Rolle von Schwere geprägt ist, steht Tom vielmehr für das – möglicherweise aus Unwissenheit über die menschliche Existenz – Leichte, für eine Art juveniler Naivität, aber auch für das Aufgehen in einer Leidenschaft, hier der Leidenschaft für das Kino. In ihm wurde beispielsweise eine Karikatur auf Jean-Luc Godard gesehen, jenen französischen Filmemacher der Nouvelle Vague. So traf quasi die alte Hollywood-Schule in Person Brandos auf europäischen Reformeifer, wenn auch nur indirekt: Tom und Paul begegnen sich im Film nicht, buhlen aber um dieselbe Frau. Auch weitere kinogeschichtliche Anspielungen fänden sich in Bertoluccis Film. Gemälde Francis Bacons würden nachgestellt, ja, sogar Freud’sche Psychoanalyse durch das Agieren der Schauspieler versinnbildlicht, ebenso der titelgebende Tango, der von Anziehung und Ablehnung zwischen den Tanzpartnern lebt – wie es Jeanne und Paul durchleben. Bezeichnenderweise soll Bertolucci gesagt haben, sein Film sei nicht erotisch, er handle lediglich von Erotik und damit von einer „düsteren Sache“. Diese pessimistische Sicht auf das Thema dürfte dazu beitragen, die fatalistische Ausrichtung des Films zu erklären. Von Chauvinismus-Vorwürfen distanzierte er sich; auch hiervon handele der Film lediglich, ohne es zu sein. In der Tat geht Paul letztlich nicht als Gewinner aus der Beziehung hervor, ganz im Gegenteil. Darin wiederum wurde mitunter aber auch der Verrat an der ursprünglichen Tendenz des Films gesehen und die Dramatisierung und Tragik als erzwungen hollywoodesk betrachtet.
All diese unterschiedlichen Lesarten, die Diskussionen der Vergangenheit, die Details, Ästhetik und die spannende Entstehungsgeschichte machen „Der letzte Tango in Paris“ über die reine Provokation hinaus zu einem interessanten Stück Kinogeschichte, das es wert ist, dass man sich mit ihm beschäftigt, was ich definitiv intensiver tat als mit anderen Filmen. Doch wie bewertet man ein solches Werk nun? Was bleibt über all seine formalen Qualitäten hinaus? Als das Meisterwerk, das mich schwerstens begeistert oder gar mein Leben verändert hätte, kann ich Bertoluccis Film nicht betrachten. Zweifelsohne handelt es sich um einen künstlerischen, interessanten und enttabuisierenden, wenn auch mich persönlich wenig inspirierenden Beitrag gerade auch zur Entwicklung der Themen Erotik und Sex auf der Leinwand. Als historischen Irrtum, der mir auch schon einmal sauer aufstoßen kann, empfinde ich die typische, radikale Ablehnung des Familienprinzips, die hier immer einmal wieder mitschwingt und eine gernzitierte Interpretationsmöglichkeit darstellt. Die Vorstellung jeglicher monogamer Familienbildung, in der Menschen füreinander Verantwortung übernehmen, als kleinbürgerliches, geradezu reaktionäres Ersticken jeglicher Freiheit halte ich für eine aus der Zeit der sexuellen Revolution resultierende, über verständliche und hehre Ziele hinausgeschossene Fehleinschätzung menschlicher Bedürfnisse und erkenne im Gegenteil gerade in funktionierenden Familienkonstrukten ein nicht ungefähres revolutionäres Potential, wenn sie einem erlauben, als starke Einheit aufzutreten und sich auf mehreren Ebenen gegenseitig Kraft zu spenden, die sich dann zu potenzieren in der Lage ist. Doch zurück zum Film: Ein Gefühl (bzw. Nicht-Gefühl) irritierte mich besonders nach dem Filmgenuss – und zwar wie wenig mich letztlich Pauls Schicksal berührte, wenngleich es eigentlich genügend emotionale Anknüpfpunkte gegeben hätte. Ich fühlte mich dennoch stets unbeteiligt, lediglich als Beobachter radikaler menschlicher Verhaltensweisen, die Empathie eher erschweren. Vielleicht war das Beschränken des Publikums auf seine Rolle als Voyeur aber auch eines der Ziele Bertoluccis, der mit „Der letzte Tango in Paris“ nicht zuletzt durch seine Titelgebung eine schöne Metapher für die Einleitung eines Endes schuf.