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Mit seinem nach „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ erst zweiten Spielfilm, „Die Reifeprüfung“ nach dem Roman aus der Feder Charles Webbs, gelang US-Regisseur Mike Nichols im Jahre 1967 nicht nur eine beachtliche Mischung aus Coming-of-Age-Drama und romantischer Komödie inkl. leicht gesellschaftssatirischer Züge, sondern auch ein durchschlagender Erfolg an den Kinokassen sowie ein Platz im Geschichtsbuch des subversiven US-amerikanischen Spielfilms.

Benjamin Braddock (Dustin Hoffman, „Wer Gewalt sät...“) kommt frisch vom College, ohne seine Zukunft bereits geplant zu haben. Umso fleißiger zeigen sich in dieser Hinsicht seine Eltern, wovon Ben zunehmend genervt ist. Und dann hat es auch noch die, wohlgemerkt attraktive, Mrs. Robinson (Anne Bancroft, „Schlafzimmerstreit“) auf ihn abgesehen, die Ehefrau des Chefs seines Vaters. Diese versucht ihn zu verführen; nach anfänglichem Zögern lässt er sich darauf ein und sich von der älteren Dame in die Welt der Sexualität einweihen. Seine Eltern wissen davon natürlich nichts und üben sanften Druck aus, mit der jungen Elaine (Katharine Ross, „Die Frauen von Stepford“) anzubändeln – der Tochter der Robinsons. Tatsächlich verliebt sich Ben in Elaine – sehr zum Unmut Mrs. Robinsons...

Ben ist ein irgendwie aus der Art geschlagener Jüngling. An der Mittelklasse-Wohlstandswelt seiner Eltern scheint er kein rechtes Interesse zu haben, angesichts ihrer Erwartungen beschleicht ihn gar ein klaustrophobisches Gefühl. Mrs. Robinson hat ihn als ihren Liebesgespielen auserkoren, vermutlich um sich dadurch ein Stück weit Jugend und Unbeschwertheit zurückzuholen, denn augenscheinlich musste sie zugunsten der Karriere ihres Mannes und ihrer Rolle als Hausfrau und Mutter persönlich zurückstecken, ihr Kunststudium abbrechen und ihre Selbstbestimmtheit aufgeben. Nun gibt sie sich nach außen kühl und selbstbewusst, tritt Ben mit Sarkasmus gegenüber, doch hinter der Fassade lauert das traurige, frustrierte, um seine Träume beraubte Mädchen.

Mit viel Witz und Komik erzählt Nichols diesen Teil der Geschichte, der kräftig am Tabu des Ehebruchs und der Entjungferung durch eine gierige ältere Frau rüttelt und einen mit der Situation sichtlich überforderten Ben zeigt. Doch je mehr seine aufrichtigen Gefühle für Elaine zunehmen, umso ernster wird die Angelegenheit für alle Beteiligten. Mrs. Robinson spricht sich entschieden dagegen aus, dass Elaine mit Ben etwas anfängt, was einerseits Ausdruck ihrer Doppelmoral ist – die bis dahin vollkommen normale, unschuldige Elaine habe etwas Besseres bedient als einen Ehebrecher wie Ben –, andererseits ihrer Angst davor, von ihm verlassen zu werden. Doch letztlich gelingt es Ben, sich in seinem Liebeskummer noch einmal aufzuraffen und in sprichwörtlich letzter Minute Elaine vor der Hochzeit mit dem Falschen und somit vor Konservatismus und Konformismus zu retten. Am Schluss fahren beide einer ungewissen Zukunft entgegen, haben sich damit aber einvernehmlich gegen die Lebenskonzeptionen ihrer Eltern entschieden und endgültig abgenabelt.

Dieses halboffene Ende besiegelt die Rolle der „Reifeprüfung“ als zur Entstehungszeit modernen Film, der ein früher Beitrag zur aufkeimenden Protest-Kultur war, einer der ersten Filme dieser Art. Ein anti-konformer Film, der in der weißen Mittelschicht spielt und neben viel besonders heute wertzuschätzendem Zeitkolorit im sommerlichen Ambiente die melancholische, eigens für ihn geschriebene Musik von Simon & Garfunkel zu bieten hat, die auf sehr prominente Weise gepaart wird sowohl mit der juvenilen Anti-Establishment-Komik als auch der Nachdenklichkeit und zwischenzeitlichen Schwermut des Films. Nichols und sein Team bedienen sich durchdachter, symbolträchtiger Bildkompositionen, die auch heute noch aufmerken lassen: Da wird von Personen weg- statt herangezoomt, mit Unschärfen, vermeintlichen Details und Gegenschnitten gearbeitet; das Element Wasser durchzieht als Fluchtmöglichkeit für Bens den Film als Leitmotiv und findet sowohl in der filmischen Realität als auch in seiner Phantasie Verwendung, mitunter blickt der Zuschauer in einer Point-of-View-Perspektive zusammen mit ihm durch einen Taucheranzug. Hin und wieder sicherlich blasphemischer aufgefasst als sie gemeint war wurde die Sequenz, in der Ben mit einem großen Holzkreuz auf Elaines Hochzeit um sich schlägt; nichtsdestotrotz ein starkes, erinnerungswürdiges Motiv. Gleichwohl greift man auf Erklärungen aus dem Off zurück, um die Geschichte auch dann voranzutreiben, wenn die Bilder doch einmal zweitrangig werden.

Anhand von Ben und Elaine skizziert „Die Reifeprüfung“ den Aufbruch einer Generation und macht die Zuschauer zu Komplizen beim wertungsfrei dargestellten Tabubruch der sexuellen Beziehung eines jungen Hochschulabgängers zu einer älteren verheirateten Frau, die zugleich einer Initiation gleichkommt – nicht nur in Bezug auf Bens Sexualität. Dass sein Weg letztlich ebenfalls in eine dann doch eher klassisch monogame Zweierbeziehung mündet, möchte ich nicht als Zugeständnis an ein Publikum werten, das man evtl. nicht allzu sehr überfordern wollte, sondern als Versinnbildlichung der Sehnsucht nach privater Liebe und Geborgenheit auch in turbulenten, sich verändernden Zeiten, die eben nicht zwangsläufig in eines der Extreme wie kleinbürgerliche Spießig- und Oberflächlichkeit oder von Ängsten, Zweifeln oder Verantwortungslosigkeit bestimmte Bindungsunfähigkeit resultieren muss – was „Die Reifeprüfung“ zu einem inspirierenden Erlebnis machte. Sowohl der Film als auch seine Musik wurden Evergreens , was ich aufgrund der Qualität, die bereits bei der Wahl der Darsteller, die die die in sie gesetzten Erwartungen an Talent und Fähigkeit zur Verkörperung ambivalenter Rollen mehr als nur erfüllen, beginnt, der Niedrigschwelligkeit, die Nichols eine starke Breitenwirkung sicherte und der vermittelten Freude am empfohlenen Mut zum Einschlagen unvorgefertigter Wege sehr gut nachvollziehen kann. Dass Dustin Hoffman wesentlich älter als seine Rolle und die sexuelle Reife erotisch verkörpernde Anne Bancroft jünger als Mrs. Robinson war, ist wiederum ebenso typisch illusorisches Hollywood wie der Verzicht auf vollständige Nacktheit die Skandalwirkung lediglich und auf sehr geschmackvolle, stilsichere Weise auf die Handlung beschränkte – und somit Kritik und Vorwürfe direkt in die richtige Richtung kanalisieren konnte, ohne sich mit hysterischen Angriffen auf die Form auseinandersetzen zu müssen.

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