Tony Scotts “Enemy of the State” fragte 1997 prognostizierend nach dem Überwachungspotenzial des Staates und stellte die Privatsphäre des Individuums gesellschaftskritisch als ein vom Aussterben bedrohtes Recht dar. Das Endergebnis, so oberflächlich es in dem Will Smith-Thriller auch ausgefallen sein mag, muss als Reaktion auf natürliche Befürchtungen der heranwachsenden Globalisierungsgesellschaft verstanden werden. In einer Welt, die immer kleiner wird und immer mehr von ihrer Intimität verliert, fürchtet der Einzelne um den Platz für seine freie Entfaltung.
Heute, fast ein Jahrzehnt später, hat es außer zyklisch immer mal wieder auftauchenden Diskussionen und vereinzelten Umsetzungen in bestimmten Regionen kaum spürbare Veränderungen gegeben. Immer noch wird über das Thema Überwachungsstaat diskutiert, aber kaum jemand befürchtet, mit jeder Sekunde fern der eigenen vier Wände einer möglichen Verschwörung ausgesetzt zu werden. Dies ermöglichte es Regisseur und Drehbuchautor John Simpson auch noch im Jahr 2004, sein ambitioniertes Erstlingswerk in abendfüllender Länge als vorausschauende Dystopie zu konstruieren, und nicht etwa als Deskription der Gegenwart.
Was die Story auf dem Papier so interessant macht, ist die Konstellation: Die vollständige Überwachung wird von Protagonist und gleichzeitiger Identifikationsperson nicht etwa als Bedrohung aufgefasst; nein, ganz im Gegenteil ist sie Protektion und Refugium zugleich. Die Überwachung ist der einzige Verbündete des seit Jahren isoliert lebenden ehemaligen Mordverdächtigen Sean Veil (Lee Evans). Denn nur durch die penible Archivierung jeder Sekunde seines Lebens kann der Paranoiker ausschließen, noch einmal für einen Mord zur Verantwortung gezogen zu werden.
Trotz dieser im Vergleich mit “Enemy of the State” vollkommen konträren Grundidee bleibt die unterschwellige Aussage die gleiche: Überwachungsmedien und ihr Einsatz bergen Tücken und Fallen, können missbraucht wie manipuliert werden und führen Nutzer und Benutzte dadurch in die Irre. Damit geht Simpsons Film im Ansatz viel tiefer, als es beim reinen Blick auf die dem Überwachungsstaat zur Verfügung stehende Technologie (welche “Enemy of the State” ja geradezu glorifiziert und sich damit schon fast selbst widersprochen hat) je möglich wäre: Er bezieht sich direkt auf die Paranoia und damit auf das Ergebnis, anstatt einfach nur auf den faktischen Missbrauch der Privatsphäre. Die physischen Vorbedingungen werden in den Hintergrund geschoben, um eine Direktverbindung zur Psyche der Figuren des Spiels herzustellen. Wo also Tony Scott nur die Ereignisse zeigte, da zeigt Simpson gleich die Auswirkungen der Ereignisse auf die Psyche der Figuren, die sich in der von Sean Veil durchlebten Paranoia entladen.
Und das ist der Schlüsselkern beziehungsweise die Weggabelung, die dem Film am Ende sein vielseitiges und leider auch durchwachsenes Gesicht gibt. Denn “Freeze Frame” will nicht nur eine gesellschaftskritische Auseinandersetzung mit dem Thema Überwachung und Privatsphäre sein. Zugleich sollte es ein düsteres Psychodrama werden, eine ausgefeilte Charakteranalyse, ein wendungsreicher Krimithriller, visuell ein bizarres Kunstwerk und in Sachen Suspense ein Hitchcock. Einiges davon ist erstaunlich gut gelungen, anderes entpuppt sich leider als allerhöchstens geschickt verkleideter Stoff, der maximal für das Fernsehen geeignet ist, nicht jedoch für die große Leinwand.
Durch den oben genannten Ansatz, direkt in die Psyche des Protagonisten einzutauchen, wurde automatisch der Weg eingeschlagen, den zuvor bereits Filme wie der gerne als Vergleich herangezogene “Memento” oder “Pi” beschritten haben - die komplette Handlung dreht sich um die ausgiebige Charakteranalyse der Hauptfigur. Um den Zuschauer zusammen mit dieser Hauptfigur in die Isolation gegenüber der Außenwelt zu verdammen, bedarf es immer eines guten Schauspielers, der einen hochinteressanten und wahrscheinlich auch schrillen Charakter entwirft. Und da wird uns hier ausgerechnet Lee Evans vorgesetzt. Evans, den wir aus eher verrückten Komödienrollen kennen (“Verrückt nach Mary”, “Mäusejagd”), versucht sich hier vollkommen gegen sein Image als jemand, dessen Welt eben nicht aus simplen Bausteinen besteht, sondern der sich in einem komplexen Kommunikationsaustausch zwischen seinem Gehirn und der Außenwelt gefangen sieht und der diese Kommunikation nicht immer versteht - das komplette Kontrastprogramm. Doch was sich bei diversen Schauspielern schon öfters in ähnlicher Form gezeigt hat (unter anderem auch Guy Pearce selbst in seiner “Memento”-Rolle), das findet auch hier statt: Der Wandel gelingt in seiner vollen Pracht. Mit seinen geschorenen Haaren und Augenbrauen, sicherlich auch dicht geschminkt, ist Evans kaum als das tragisch-komische Männchen wiederzuerkennen, das er in seinen Komödien meist so trampelhaftig darstellte. Sein Sean ist ein gruselig authentisches Produkt seines eigenen Geistes, und diese faszinierende Ausstrahlung ist keineswegs nur dem Make-Up und dem geschorenen Haupthaar zu verdanken, auch Evans selbst trägt sein bestes dazu bei, sich als Schauspieler zu profilieren. In seinem Fall kann man dies auch als Ruf nach besseren Rollenangeboten interpretieren, schlug er sich doch immer wieder mit festgefahrenen Klischeerollen in Kasperfilmen (“Das Medaillon”) und gar TV-Kitsch (“Dinotopia”) herum. “Freeze Frame” ist seine Bewährungsprobe als ernstzunehmender Schauspieler - er schreit sie sich mit ganzer Kraft aus seinem knochigen Leib und steht damit auf einer Stufe mit Guy Pearce und zumindest in unmittelbarer Reichweite von Christian Bale, der als “Machinist” wohl das diesbezüglich anzustrebende Opus Magnum geschaffen hat.
Was schon fast als Parallele auf die Filmaussage über Manipulation in Medien ausgelegt werden kann, ist die Tatsache, dass sicherlich auch der eigentümliche Look von “Freeze Frame” seinen Teil zu Evans’ Erscheinung beiträgt. Konsequent in metallischen Blautönen gehalten, behält sich Simpsons Film optisch alle Eigenarten vor und unterstützt den paranoiden Alptraum des Sean Veil hervorragend. Als Quelle der Inspiration können vielleicht sogar die surrealen Videos der Elektro/Trance/Ambient-Gruppe Aphex Twin betrachtet werden, denn wenn Sean Veil inmitten der mechanischen Eiswüste steht und mit seinem mageren, weißen und kahlen Körper aus tiefster Seele schreit, dann fühlt man sich unweigerlich an das Aphex-Hybrid-Monster aus dem Video zu “Come to Daddy” erinnert. Hinzu gesellt sich Debbie Wisemans drückender, depressiv-aggressiver, höchst atmosphärischer Score, der dem Visuellen einen akustischen Zwilling bereitstellt.
So gelungen Charakterzeichnung und audiovisuelle Gestaltung auch geworden sind, aus seiner Story macht Simpson im weiteren Verlauf leider viel zu wenig. Es begann sehr vielversprechend, solange sich die Kamera auf den in seinem eigenen Haus gefangenen Hauptdarsteller konzentrierte. Sobald er jedoch in Kontakt mit Umfeldpersonen tritt, vermindert sich in dem Maß die Qualität des Plots, in dem der Fokus von Lee Evans’ Figur weggeht und sich auf andere Charaktere konzentriert. Dabei sind die Darsteller an sich überwiegend recht annehmbar (wenn auch nicht annähernd so gut wie Evans selbst), doch wandelt sich der Plot mit ihnen zu einer Allerwelts-Kriminalgeschichte. Ominöse Eigenschaften der einzelnen Figuren (die offensichtliche Krankheit des Polizeichefs, der zweifellos bald sterben wird; der zwielichtige Kriminalpsychologe; die übermotivierte Journalistin) werden in den Raum geworfen, ohne damit wirklich den eigentlichen Hintergrund, nämlich die Kritik am Überwachungsstaat, auch nur zu streifen. Statt dessen wabern wir über belanglose Plottwists, die allesamt keinerlei Überraschungseffekt aufweisen und deswegen tatsächlich kaum über eine höhere Qualität verfügen als Pseudokrimiserien aus dem Free TV-Vorabendprogramm. Dieses Defizit stößt besonders unangenehm auf im Zuge der Tatsache, dass viele Aspekte des Films, die bereits beschrieben wurden, ja durchaus hochwertig sind und es auch vermögen, mit “Memento”, “Pi” oder “The Machinist” in Konkurrenz zu treten. Das Ganze lässt sich auch auf die Texte der Darsteller übertragen - sind Evans’ Monologe (inklusive seiner fünf Regeln, die über den Film verteilt dem Zuschauer zuteil werden) von höchster Qualität, so entfährt den Mündern seiner Dialogpartner nur selten mehr als dummes Gewäsch. Simpson wollte scheinbar das Beste der beiden Christopher Nolan-Filme “Memento” und “Insomnia” vereinen, doch während die “Memento”-Elemente gelangen, so scheiterte er doch spätestens an der “Insomnia”-Prämisse, eine packende, glaubwürdige und einzigartige Kriminalgeschichte zu erzählen, die sich einem höheren Zweck fügt.
Schade! John Simpsons viel versprechender und ebenso beginnender Psychothriller vermag es nicht, die hochwertige Mischung aus Gesellschaftskritik und Charakterstudie bis zum Ende durchzuziehen. Dabei hätte es doch nur eines guten Drehbuchautors gebraucht, der die Story gegen Ende von ihren belanglosen Plottwists befreit und den Darstellern gute Dialoge liefert, die sich ganz in den Dienst der Grundidee begeben hätten. Die Atmosphäre ist nicht zuletzt wegen Optik und Soundtrack herrlich bizarr, und Lee Evans vollzieht eine verblüffende Metamorphose. Doch nützt das alles nichts, wenn der Plot gegen Ende seinen Hauptdarsteller verrät und sich lieber den ärgerlichen Motiven der schwach ausgearbeiteten Nebendarsteller widmet. So wird das nix mit dem Thron für den besten Weirdo-Film; aber im Auge behalten sollte man diesen John Simpson auf jeden Fall.