Mmh, ein filmischer Magenschwinger, beseitigt garantiert jeden Appetit.
Ein Dreivierteljahr hab ich ihn gammeln und reifen lassen, aber irgendwann sollte man sich auch sperrigen Filmen mal öffnen und sie tapfer wie einen Zahnarztbesuch abarbeiten und anders kann man auch praktisch nicht an Asia Argentos „The Heart is deceitful about those things“ rangehen, denn der Film kennt so ziemlich keine Verwandten – außer man ist ein Liebhaber von Todd Solondz Werken und schafft es, dabei auch noch dauerhaft zu lächeln.
„The Heart...“ dreht sich um die angeblichen Jugenderinnerungen des Journalisten J.T.LeRoy, der allerdings vermutlich selbst nur eine Kunstfigur war, die von der Songwriterin Sarah Albert erfunden wurde, aber das macht die Story hier auch nicht unrealistischer.
Gezeigt wird eine Kindheit in Amerika, die man auch getrost als Dantes zweites Inferno bezeichnen könnte, doch so schlimm das persönliche Schicksal des jugendlichen Protagonisten einen auch rührt, es ist auch immer ein Zeichen für die gesellschaftlichen Zustände der amerikanischen Moderne und ein fieser Rundumschlag gegen die Machtlosigkeit oder Ignoranz der Institutionen, dem religiösen Fanatismus und der Abgründigkeit der amerikanischen Weite, immer gepaart mit einem bitteren Nachgeschmack einer zerstörerischen Mutter-Kind-Liebe.
Erzählt wird die Jugend des kleinen Jeremiah, dem ungewollten Kind einer Kellnerin (Regisseurin Argento taucht bereitwillig in den gröbsten White-Trash-Schmutz als blondierte Drogenschlampe), das im Alter von sechs Jahren von den geliebten Pflegeeltern wieder in die Obhut seiner derangierten Mutter übereignet wird. Die redet ihm nicht nur schnellstens ein, daß die Polizei gefährlich ist und die Pflegeeltern ihn hassen, sondern entführt ihn auch bald auf einen Trip quer durch die Staaten, wechselt die Liebhaber und Stecher wie die Hemden und setzt den Jungen selbst unter Drogen. Nachdem sie wieder heiratet und die neuen Ehemann nach Durchbringen aller Gelder sitzen läßt, kehrt der zu dem Jungen heim und weiß sich nicht anders zu helfen, als ihn zu vergewaltigen und auszusetzen.
Hier ist definitv nicht Dickens-Terrain, wer glaubt, hier könnte gemäß „Oliver Twist“ am Ende alles gut werden, der irrt entschieden. Im Krankenhaus wieder zusammengeflickt und notdürftig dilletantisch psychologisch behandelt, gerät er in die Hände seiner restlichen Familie, einem überreligiösen Patriarchen, der bibelfest seine übrigen Kinder in der Hand hat (Peter Fonda mit eiskalter Mimik und Ornella Muti als düstere Großmutter). Binnen dreier Jahre wird aus Jeremiah ein Jesusprediger in Hemd und Würden inmitten von Kleinstadtfußgängerzonen, aus der er wiederum von seiner Mutter entführt wird, die sich nun endgültig prostituiert, bis er schließlich als fernsehflüchtiger Zehnjähriger in einer Crystal Meth-Drogenküche landet. Seine Zuneigung zu seiner ihn immer wieder quälenden und vernachlässigenden Mutter tut das jedoch keinen Abbruch, denn das titelgebende „hinterlistige Herz“ läßt den bezugspunktlosen Jungen genau dem nacheifern, was ihm vorgelebt wird. Und daß sind nicht die Fixer, Dealer und rauhbeinigen Perversen, sondern das aufgedonnerte Schlampentum, das ihn dermaßen einnimmt, daß er sich in ein jugendliches Abbild seiner Mutter verwandelt, komplett in Frauenunterwäsche, blonder Perücke und Make-Up, mit dessen Hilfe er dann sogar ihren derzeitigen Lover (Marylin Manson, man erkennt ihn kaum) verführt.
Wieder geraten die Dinge durcheinander, Geschichte wiederholt sich, doch der Bezug bleibt stärker, die Reise setzt sich, diesmal freiwillig fort...
Man muß schon ein ganz schön dickes Fell haben, um das unbeschadet 90 Minuten am Stück durchzustehen, die Drogen, den Dreck, den zweimaligen Mißbrauch, die sexuelle Verwirrung, die Verwahrlosung – das alles eingebunden in Bildern eines Amerika, die das Land ganz bestimmt nicht sehen will. Wenn ein Sechsjähriger, nachdem man ihn mehrere Tage in einer Wohnung allein gelassen hat und er diese verwüstet hat zu seinem ihm völlig unbekannten Stiefvater kommt und ihm einen Gürtel zum Prügeln bietet (weil er es so gewöhnt hat) und ihn dieser in der Nacht darauf anal vergewaltigt, dann fliegen so manchem Gutmenschen die Sicherungen raus, das ist Stoff, wie er sonst nur kopfschüttelt aus der Springerpresse goutiert wird.
Argento holt aus ihren kindlichen Gegenspielern geradezu preisverdächtige Leistungen heraus, hier spielt die Creme de la creme der Kinderdarsteller, in der älteren Jeremiah-Version besetzt mit den Sprouse-Zwillingen, die dem deutschen Publikum als Hauptdarsteller aus der blitzsauberen Disney-Sitcom „Hotel Zack und Cody“ bekannt sein dürften und hier im Fummel ihren schmierigen Drogendaddy verführen. Das muß man erst mal verdauen können.
Inszeniert ist das alles extrem sperrig; so verquer und kaputt das Leben des Kindes sein soll, so verquer fängt die Kamera das alles visuell ein, ein mit der Handkamera eingefangener Bilderbogen, grobkörnig, teilweise überbelichtet, mit verschiedenen Perspektiven, Verzerrungen und Schrägstellungen, ruhige Einstellung sind eher die ganz seltene Ausnahme (etwa bei den religiösen Großeltern). Es ist also wahrhaftig kein optisches Vergnügen, sondern eher harte Arbeit, mit allerdings realistischem Touch, Absprünge in künstliche Bildwelten (wie etwa bei „NBK“) finden nicht statt, nur manchmal irritieren zwei aggressive rote Vögel, die Jeremiah attackieren, verletzen oder verstümmeln wollen und als Sinnbild für die ihm angetan physische und psychische Gewalt gelten.
Ungewöhnlich ist die vollkommen fehlende Wertung, Argento verläßt sich vollständig darauf, der Gesellschaft durch bloße Abbildung den Spiegel vorzuhalten, das Semidokumentarische ist immer spürbar, nur selten wird etwas bewußt überzeichnet wie Winona Ryders übertriebene Kinderpsychologin, die sich einem komplexen Fall mit infantil ausgeführten Standardmethoden wie Puppen annähert.
So wirkt „The Heart...“ wie ein finsteres Protokoll aus dem Herzen Amerikas, wo Rednecks und Trucker regieren, die frei sein wollen, die sexuelle Anziehung der Mutter ausnutzend oder akzeptierend, aber sich niemals beschränkend; eine Gesellschaft, in der man nebeneinander lebt und der Junge auf seinen Solotouren nicht auffällt; wo in Häusern und Städten Dreck und Unrat herrschen und der schlimmste Junkie oder Punker durchaus mit kleinen Gesten Freude in das Leben eines kleinen Jungen bringen kann, wo andere nur entsetzt reagieren würden.
Daß sich daraus kein normales Verhältnis oder ein ordentlicher Bezug zur Realität entwickeln kann, ist klar, die sexuelle Verwirrung gerät zur logischen Folge, zum Ausprobieren ohne richtige Unterscheidungsmöglichkeit, zur Konsequenz eines fehlenden moralischen Imperativs.
Da es keinen richtigen Kommentar gibt und niemanden, der den Zuschauer führt (und auch nirgendwo hin), bleibt das Publikum als macht- und hilfloser Teilnehmer allein zurück, „life in hell“ in seiner normalsten Form und gar nicht so unwahrscheinlich, wie man vermuten mag.
Verarbeiten kann man so etwas nicht, der Film bleibt eine bizarre, aber trotz aller Schrecken nicht unerträgliche Erfahrung, getragen von hervorragenden Darstellern und der Nachwirkung, daß man ggf. einen besseren Blick für seine Mitmenschen entwickelt. Einmalige Einnahme vollkommen ausreichend. (7,5/10)