Im Jahr 1992 erlebte in der dünnen Luft des hochgelegenen Sundance Film Festivals der Independent-Film so etwas wie seinen Durchbruch gegenüber dem Mainstream-Kino. Nicht nur, dass sich neue Geldgeber fanden und die Lage für unabhängige Filmemacher verbesserten, auch stieg das Interesse des Publikums an Alternativen zur massenabfertigenden Popcornware aus Hollywood. Als einer der großen Profiteure, auch wenn ihm keiner der Preise des Festivals zukam, erwies sich Quentin Tarantino. Sein Reservoir Dogs galt in Sundance `92 als das radikalste Stück ‚anderen‘ Kinos und während Alexandre Rockwells In the Soup als Gewinner auserkoren wurde, überreichte man Tarantino nur deshalb keine Trophäe, weil seine Zukunft bei einem solchen Talent für die Veranstalter als gesichert galt. Was sich drei Jahre später, als Pulp Fiction sieben Oscar-Nominierungen und ein weltweites Einspielergebnis von 214 Millionen erntete, auch bewahrheiten sollte.
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Nach dem Unglück mit My Best Friend's Birthday (1987), dessen Rolle während der Fertigung des Endschnitts zum Teil verbrannte, brachte Tarantino mit Reservoir Dogs zum ersten Mal einen Film tatsächlich auf die Leinwand. Die Geschichte um eine zusammengewürfelte Gruppe von Dieben, deren Diamantenraub fatal und in einem Blutbad endet, schrieb er aus dem Gedankengang heraus, dass es mal wieder an der Zeit für ein Heist Movie sei. Im Gegensatz zu vielen Vertretern des Genres gehen bei Tarantino jedoch keine clever-sympathischen Schlawiner oder Gentlemangauner zu Werke, sondern knallharte Dreckskerle, die zwar durchaus ihre Vorstellungen von Moral und Ehre verfolgen, diese aber meistens mit gezückter Waffe und rücksichtsloser Brutalität durchsetzen. Und überhaupt: viel mehr, als die Bedienung eines klassichen Genres, ist Reservoir Dogs Tarantinos Etablierung seiner ganz eige nen Dramaturgien, Mechanismen und Logistik. Neben den vielen Zitaten und Referenzen an seine Vorbilder zimmerte sich der Mann aus Knoxville seinen cineastischen Stil aus irrwitzigen, oft endlos um Banalitäten kreisenden Dialogen, enthemmter Gewaltdarstellung und einer Charakterzeichnung, irgendwo zwischen rotziger Satire und kerniger Echtheit, zusammen.
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In der Eröffnungsszene sitzen die Gangster in einem Diner, der von Tarantino selbst gespielte Mr. Brown referiert über die tiefere Bedeutung von Madonnas Entjungferungshymne "Like A Virgin", Steve Buscemis Mr. Pink stellt den Sinn von Trinkgeldzahlungen in Frage, Harvey Keitel neckt als Mr. White den Chef der Truppe Joe, gespielt von Lawrence Tierney. Im Grunde geht es hier um nichts, dass für den Verlauf des Films von Bedeutung wäre, doch Tarantino gelingt es mit dieser geballten Unwichtigkeit seine Charaktere in eine popkulturell existente Welt einzupflanzen, aus der sie später umso weiter herausragen. Ein Haufen Jedermänner, die sich teils beiläufig, teils hitzig über Dinge unterhalten, über die sich jeder unterhält, nur um danach Dinge zu tun, die nicht jeder tut. Über den bevorstehenden Diamantenraub verliert niemand ein Wort und nachdem Reservoir Dogs die Einleitung abblendet, einen Radiomoderator erklingen lässt und in einen schwingenden Vorspann übergeht, ist nach dessen Ausklingen bereits alles geschehen und gescheitert, ein blutüberströmter Mr. Orange liegt auf dem Rücksitz eines Wagens und vom Überfall selbst hat man nichts gesehen und wird es auch nicht. Mr. White schafft den schwerverletzten Mr. Orange zum Treffpunkt der Gang, einem verlassenen Lagerhaus, dort treffen sie auf Mr. Pink und fortan beschäftigt sie nur noch eine Frage: von wem wurden wir verraten?
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An diesem Punkt ist Reservoir Dogs eine Viertel Stunde alt, hat noch achtzig Minuten zu füllen, lässt aber nach vorne gerichtet kaum noch etwas passieren. Die weitere Story dreht sich um so gut wie nichts und immer wieder das selbe, für die Gangster natürlich um das Entscheidende. In unablässigem Dialog und mit jeder weiteren im Lagerhaus auftauchenden Person auf's neue wird über Verrat und Vertrauen diskutiert. Dass sich der Film dabei nicht in der Monotonie seiner im Kreis laufenden didaktischen Wiederholungen verliert, verdankt er Tarantinos unkonventioneller Methodik. Mit kleineren und größeren Rückblenden unterbricht er den Kreislauf und das sehr präzise immer genau an den Stellen, an denen eine Ausleuchtung und Vertiefung der Charaktere die Story bereichert und bedingt. Nicht allen gönnt Tarantino dieses Mehr an Hintergrund, sein Mr. Brown ist ebenso nur Randerscheinung, wie der von Edward Bunker gespielte Mr. Blue. Außer als erste zu sterben haben beide nichts zu tun. Letztlich sind es Keitel, Tierney, Buscemi und Tim Roth als Mr. Orange, sowie Michael Madsen als Mr. Blonde und Chris Penn als Nice Guy Eddie, unter deren Beziehungen zu- und untereinander das Dilemma des Schlussaktes ausgewürfelt wird. Die einzelnen Rückblenden innerhalb des Hauptplots in der Lagerhalle sind dabei klar voneinander abgesteckt und mit einer kurzen Texteinblendung versehen, die den Hauptprotagonisten ausgibt. So folgt der Handlungsaufbau zwar keiner herkömmlichen Struktur, bleibt aber übersichtlich, findet in seiner Anordnung zu einem Rhythmus und macht Reservoir Dogs trotz eingeschränkter Schauplätze dynamisch.
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Für Dynamik sorgen auch die Darsteller, auf die sich in vielen Passagen alles fokussiert. Madsens Mr. Blonde, der selbst dem Jigsaw-Killer aus der Saw-Reihe Nachhilfe in Sachen Folter geben könnte, fällt dabei der oft schauspielerisch dankbare Part des abartigen Psychopathen zu, wobei Madsen allerdings sein fast schon zurückgenommenes Spiel auf eine bedrohliche Lässigkeit reduziert. Besonders in jener Sequenz, in der er sich mit Rasiermesser und zu Stealers Wheels Song „Stuck in the Middle with You" einen gefesselten Polizisten vorknöpft, nimmt dies abartig grotesk-intensive Formen an. Bei aller Abscheulichkeit nutzt Tarantino die Gewalt aber selbst hier nicht selbstzweckhaft, sondern als Stilelement und lässt der Brutalität in Gestalt von Tim Roth einen Gegenpol ‚guter‘ Gewalt entgegen wachsen und definiert Gewalt im Allgemeinen über den ganzen Film zumeist als früher oder später erfolgende Reaktion auf Aktion. Für seine Antihelden geht es nicht darum ob, sondern wann Gewalt eingesetzt wird und daraus lässt Tarantino einiges an Tragik erwachsen, etwa in der Beziehung zwischen Mr. White und Mr. Orange. Innerhalb der sechsköpfigen Gruppe gönnen nur sie sich einen Anflug von Vertrautheit, doch am Ende hält auch hier der eine dem anderen die Waffe an den Kopf. Roth und Keitel agieren großartig miteinander und bilden mit dem übrigen Cast ein insgesamt vortreffliches und einander spannend entgegengestelltes Ensemble.
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Quentin »I love fuckin‘ with an audience« Tarantinos Reservoir Dogs ist ein kompromissloses Stück Schund, im positiven Sinne. Bärstig, bärbeißig, bärenstark, wenn auch nicht jeder Dialog und nicht jede Einstellung den kompletten Rundschliff erhalten hat. Weniger, als die im Grunde frugale Geschichte, bleiben ihre außergewöhnliche Umsetzung, die Charaktere und ihr Handeln im Gedächtnis. Der klasse Soundtrack (dessen gewählter Einsatz ein weiteres Markenzeichen Tarantinos wurde), bestehend aus Songs aus den 70ern und der gelegentliche Einatz des fiktiven Radiomoderators K-Billy DJ und seinen Kommentaren aus dem Off, leisten ihren Beitrag zur Atmosphäre des Films, ebenso die Kameraführung von Andrzej Sekulas, der viel mit Totalen, Schwenks und Zooms arbeitet. Bühnenhaft direkt wirkt Reservoir Dogs zumeist, eine Theateraufführung mit blutgetränktem Vorhang, die zu bannen weiß. »Was that as good for you as it was for me?« fragt Mr. Blonde, nachdem er dem Polizisten ein Ohr abgeschnitten hat. »Yes, it was«, antwortet man als Zuschauer, nachdem man ihm und seinen Kollegen zugesehen hat.