Review

„Wahrscheinlich hatte Gott diese 70er-Jahre Rock´n´Roll-Exzesse einfach satt. Deswegen hat er die Sex Pistols erfunden!“

Einer der übersehensten Filme der ausgehenden Neunziger ist vermutlich Still Crazy. Nun, es ist eine englische Produktion und die verzichtet auch auf die Holzhammermethodik der typischen amerikanischen Komödie. Wilde Exzesse werden ausgespart, die kann man sich anhand der Andeutungen denken. Hier geht es um die fiktive Band Strange Fruit, die nach mäßigen Erfolgen in den 70ern in der Versenkung verschwand und 20 Jahre später ein Comeback versucht. Meist auf subtilem Sarkasmus aufgebaut, entfaltet sich die volle Tiefe des Films am ehesten Menschen, die sich mehr mit Musik beschäftigen, als bloßem Chartkonsum zu fröhnen.

Dazu passt natürlich der wirklich hervorragende Soundtrack, hinter dem sich Namen wie Mick Jones (Foreigner, Spooky Tooth, George Harrison), Jeff Lynne (ELO, George Harrison, Roy Orbison, Tom Petty), Chris Difford (Squeeze, Elton John, Wet Wet Wet), Paul Carrack (The Smiths, Mike and the Mechanics, Roxy Music), Ralph McTell (für Streets Of London bekannter Liedermacher), Steve Nieve (Elvis Costello & The Attractions), und Guy Pratt (Sessionmusiker für Pink Floyd, Gary Moore, Michael Jackson, Madonna, Roxy Music usw.) verbergen. Kaum verwunderlich also, daß die zwei tragenden Balladen von Still Crazy, What Might Have Been und The Flame Still Burns, das unter der Regie von Brian Gibson (Poltergeist II, Tina - What's Love Got to Do with It?) umgesetzte Schicksal der ultimativen Manifestation einer Band, die ihren großen Durchbruch immer um ein Haar verpasst hat, so treffsicher und herzergreifend beschreiben.

I live a life that's surreal
Where all that I feel I am learning
Oh life, has been turned on the lathe
Reshaped with a flame that's still burning
And in time, it's all a sweet mystery
When you shake the tree of temptation
Yeah and I, I know the fear and the cost
Of a paradise lost in frustration

Die Band Strange Fruit ist kein unbeschriebenes Blatt mehr gewesen, sie haben getourt, sie hatten Groupies, nahmen Drogen, veröffentlichten ihre Songs. Wie viele Bands in den Siebzigern, auch wenn sie etwas spät dran waren. Doch der erste Schicksalsschlag traf sie zu früh, um sie zur Legende zu machen. Frontmann Keith, Bruder von Gitarrist Brian starb an einer Überdosis. Das hinterließ seine Spuren.

Bassist Les konnte sich nie mit dem neuen Sänger Ray als Ersatz für Keith anfreunden. Brian hingegen strebte eine Suchtkarriere gleich der seines Bruders an. Die ohnehin zerrüttete Band schaffte es dennoch auf ein großes Festival, doch hier passierte es. Es zog ein Gewitter auf, ein Blitzschlag legte die Anlage lahm. Die Band sah darin ein Zeichen. Trotzdem Les und Brian nach Keiths Tod noch The Flame Still Burns geschrieben hatten, ist es endgültig vorbei.

Cornered now, what can I do
I'm trapped by what might have been
The great big "if" that hangs around my neck
Has played its part in all my dreams
Always making the bad seem worse
Living my life reversed

Circa 20 Jahre später geht Keyboarder Tony (Stephen Rea, V wie Vendetta, The Musketeer) seiner Arbeit auf Ibiza nach, wo er Kondomautomaten befüllt. Hier wird er auf die Band angesprochen und der Funke zündet. Strange Fruit sollen wieder spielen! Doch bevor es soweit kommen kann muß man die anderen Mitglieder ja erstmal auftreiben. Zurück in England sucht er Karen (Juliet Aubrey, Primeval - Rückkehr der Urzeitmonster) auf, die als Mädchen für Alles und für Brian schwärmend mit der Band umher gezogen war.

Jedes Mitglied hat seinen ganz eigenen Weg für sich gewählt. Bassist Les (Jimmy Nail, Das Tier II, Evita) hat sich als Dachdecker selbstständig gemacht. Drummer Beano (Timothy Spall, Rock Star, Vanilla Sky, Harry Potter und der Gefangene von Askaban) hat Steuerschulden, arbeitet in einer Baumschule und hat es immerhin geschafft von Zuhause auszuziehen - in einen alten Wohnwagen auf dem Grundstück seiner Eltern.

Sänger Ray (Bill Nighy, Dwight H. Littles Phantom der Oper, Shaun Of The Dead, Per Anhalter durch die Galaxis) lebt mit seiner damaligen Beziehung Astrid (Helena Bergström, Fanny's Farm, Deadline - Terror in Stockholm) auf einem Landsitz in seiner eigenen New Age Welt und plant seit zehn Jahren ein weiteres Soloalbum. Brian (Bruce Robinson, Romeo und Julia, Tschaikowsky - Genie und Wahnsinn, Regisseur und Autor von Withnail and I) ist zunächst unauffindbar. Da seine Tantiemen seit 5 Jahren nach testamentarischer Verfügung verteilt werden, muß man davon ausgehen, daß er gestorben ist.

I know the call that I can't seem to move
Without a little fall from grace
But now I know when I'm down in this mood
It's only me that I have to face
What might have been...

Da alle irgendwie unzufrieden mit ihrer derzeitigen Situation sind, kommt es zu ersten Proben, denen auch der ehemalige Roadie Hughie (Stand Up Comedien Billy Connolly, Last Samurai, Der blutige Pfad Gottes) hinzu stößt. Alles klingt erbärmlich und es kommt bereits zu ersten Reibereien. Doch immer wieder gibt es Zeichen, die an ein Comeback glauben lassen. Karen übernimmt das Management, verhandelt mit dem Rechteinhaber über Rereleases und tut eine Chance für Strange Fruit in einer Tour durch europäische Clubs auf. Als neuer Gitarrist soll der junge Luke (Hans Matheson) für frischen Wind sorgen.

In Holland wird die Band sofort auf die Probe gestellt. Sie spielen in dreckigen Kaschemmen, an denen Plakate für Oomph und Napalm Death werben und Punks, Skinheads und Heavies ihr Publikum darstellen. Luke ist der naive Kontrast zu den von sich selbst enttäuschten alten Hasen. Sie spielen nicht gut. Sie kommen nicht an. Der alte Streit zwischen Les und Ray läßt sich nicht begraben und gipfelt in einem Drogenrausch des Sängers mit dem fragilen Charakter, der zwischen Angst vor dem Altwerden und gigantomanischer Selbstüberschätzung kaum einen Bezug zur Realität hegt.

Auch wenn sich zeitweilig das Klima in der Band bessert, sie gar ihren Plattenvertrag bekommen und neue Songs aufnehmen, bei denen Ray sogar Les seinen Song einsingen läßt, was er ihm vorher nie erlaubt hatte, lasten die Schatten der Vergangenheit auf der Band. Hier sind es die Medien, die gierig nach Sensationen nicht nur den vermeindlichen Leader Ray interviewt, sondern später die dadurch frustrierten, inzwischen sternhagelvollen Bandmitglieder befragt hatten. Alles ist im Arsch.

I, I want my thoughts to be heard
The unspoken words of my wisdom
Today, as the light starts to flow
Tomorrow who knows who will listen
But my life has no language of love
No word from above is appearing
Oh the time, in time there's a fire that's stoked
With a reason of hope and believing


Die Wende bringt Brian, der Ray in einer Nahtod Erfahrung erschienen war. Die bereits verworfenen Pläne, auf dem Wisbech Rock Festival aufzutreten, kommen wieder ins Gedächnis, als es ein Lebenszeichen des ehemalige Gitarrist der Strange Fruits gibt. Doch er ist nach seinem klinischen Entzug so anfällig für die bohrenden Fragen der Presse, daß er nicht auftreten wird. Strange Fruit gehen trotzdem auf die Bühne, mit einem desaströsen Einstieg vor einem buhenden Publikum.

Was sich hier wie eine Geschichte vom Reißbrett liest, wird aufgelockert durch viele kleine Details, wie der ähnlich den Osbournes unter Management und Fuchtel seiner Frau stehende Sänger oder dem leider sehr realistisch - klischeehaft dargestellten, geistig eingeschränkt beanspruchbaren Schlagzeuger - Taugenichts, der nichts mehr zu vögeln abbekommt, sich besäuft und ein grobschlächtiges Benehmen mit dem Furzen im Tourbus unterstreicht. In Still Crazy findet sich neben der bewegten Karriere einer Rock Band eine akribische Zusammenfügung von Archetypen und Erlebnissen, die ein Musiker in seinem Leben haben kann. Und was hier in einer fiktiven Geschichte zusammengetragen wird ist absolut alles wahr!

Wieviele Bands haben bei ihrem Versuch einer Reunion kläglich versagt oder gar eine Legende zerstört? Strange Fruit treten dabei an die Stelle des Insider Tips, die einem neuen Publikum wenig bekannt sind, die sich selbst jedoch auf ihrem alten Status sehen. Die alte Zeit kann man nicht zurückholen, über den eigenen Schatten zu springen ist jedoch ein Problem. Wenn die Presse fragt, wieviel Strange Fruit denn eigentlich noch in der Band steckt, wird das alte Problem der Identität aufgegriffen, denn alte Fans akzeptieren oft neue Besetzungen nicht, ignorieren in Erwartung des selben Sounds oftmals komplette Karriereabschnitte.

Obwohl Still Crazy sich nicht scheut, die Zusatzeinkünfte auch kleinere Gruppen auf einer, wie wir wissen immer noch bestehenden, Revivalwelle zu thematisieren, portraitiert der Film liebevoll auch die Ambitionen eines Künstlers, der einen Mitteilungsdrang verspürt, sein Werk einem Publikum zugänglich machen will. Wenn man die Mitgliedschaft in einer Band als Ehe sieht, so ist Still Crazy das Liebesdrama, in dem trotz auf individuelle Weise gleicher Zielsetzung - ob man nun einfach nichts anderes kann, oder für die Musik lebt - insbesondere die Beziehung der Musiker zueinander für den erreichten oder nicht erlangten Erfolg verantwortlich sind.

Um dem Musiker zum Abschluß nun noch eine Träne der Rührung zu entlocken, läßt sich das vorhersehbare Ende unschwer erraten. Still Crazy erzählt diese Geschichte aber so wunderschön und trotz wenig rasanter Stilistik dauerhaft mit kleinen Gags und Anspielungen, wie die Sticheleien in der Gruppe oder dem "Bands mit Körperteilen im Namen" Spiel stets unterhaltsam, daß man gar nicht böse sein kann.

Selten habe ich einen Film - vor allem dazu eine Komödie - gesehen, der aus dem Bezug zum Zeitgeschehen ein so stimmiges Resultat zaubert, daß ihn selbst zu einem Stück Rock'n'Roll Geschichte der Revival Ära werden läßt. Als ein solcher Klassiker avanciert Still Crazy früher oder später zum Kultfilm und wird so schnell nicht aus den Regalen von Rockfans wegzudenken sein. Ein Streifen zum immer wieder ansehen, der einen vielleicht auch daran erinnert, daß man immer noch Träume hat.

And the flame still burns
It's there in my soul for that unfinished goal
And the flame still burns
From a glimmer of then
It lights up again in my life

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