In der Phase des wirtschaftlichen Aufschwungs und der Vollbeschäftigung innerhalb der Bundesrepublik Deutschland in den 1950er und 1960er Jahren herrschte ein Mangel an Arbeitskräften für geringe Qualifikationen erfordernde Tätigkeiten. Die Bundesregierung schloss daher Anwerbeabkommen mit diversen, meist südeuropäischen Staaten ab, darunter im Jahre 1961 auch mit der Türkei. Die meisten türkischen Arbeitsimmigrantinnen und -immigranten blieben in Deutschland und bemühten sich um Familiennachzug und/oder gründeten in Deutschland neue Familien. Seitdem stellen Türkinnen und Türken sowie türkischstämmige Deutsche die größte ethnische Minderheit Deutschlands dar.
Im Zuge dessen wurde sich nicht nur auf politischer Ebene, in Form von Zeitungs-/Zeitschriftenartikeln, Sachbüchern oder im Rahmen gesellschaftlicher Diskussionen mit dem diesem Phänomen auseinandersetzt, sondern auch im filmischen Bereich. Neben Reportagen und Dokumentationen/Dokumentarfilmen wurden und werden auch Spielfilme fürs Fernsehen und fürs Kino quer durch diverse Genres produziert, die sich auf unterschiedliche Weise mit dem Thema auseinandersetzen. Der Cross-Culture- bzw. der deutsch-türkische Film war geboren. Rainer Werner Fassbinders „Angst essen Seele auf“ aus dem Jahre 1974 war der erste bundesdeutsche Spielfilm über Migration, Helma Sanders-Brahms‘ „Shirins Hochzeit“ folgte 1976 als erster deutscher Spielfilm, der sich speziell der türkischen Migration widmete. „40 qm Deutschland“ von Regisseur Tevfik Baser war 1986 der erste Film eines Türken über türkische Migration nach Deutschland.
Im Jahre 2000 gelangte Regisseur Lars Beckers Spielfilm „Kanak Attack“ in die deutschen Lichtspielhäuser, der seinen Fokus speziell auf in Deutschland geborene, jugendliche Nachkommen der ersten und zweiten Arbeitsimmigrant(inn)en-Generation richtet und im kriminellen Milieu angesiedelt ist. Diese Generationen waren und sind immer wieder Gegenstand gesellschaftlicher Diskurse, gelten häufig als überdurchschnittlich aggressiv und/oder kriminell und sind Ziel von Anfeindungen, Vorurteilen und ausländer(innen)feindlichen Ressentiments.
Der rund 80-minütige deutsche Spielfilm „Kanak Attack“ von Regisseur Lars Becker basiert lose auf dem Roman „Abschaum – Die wahre Geschichte von Ertan Ongun“ Feridun Zaimoğlus aus dem Jahre 1997 und weist ferner Einflüsse aus Zaimoğlus halbfiktionalem Buch „Kanak Sprak – 24 Mißtöne vom Rande der Gesellschaft“ auf. Der Filmtitel wiederum referenziert auf die ebenfalls von „Kanak Sprak“ inspirierte Aktivist(inn)engruppe „Kanak Attak“, die sich u. a. um die positive Aneignung des Begriffs „Kanake“ bemühte. „Kanak Attack“ griff in seinem Veröffentlichungsjahr 2000 die Erlebniswelten krimineller türkischer oder türkischstämmiger Mitbürger der zweiten und dritten Migrantengenerationen in Deutschland in episodischer Form auf und vermengt typische Elemente eines Dramas mit denen einer Komödie, speziell denen einer Gangsterkomödie, weshalb sich für ihn die Kofferwortkreation Dramödie anbietet. Aufgrund seiner Unterteilung in 13 einzeln benannte „Storys“ handelt es sich zudem um einen Episodenfilm. Drehorte des Spielfilms sind Kiel, Hamburg, Vechta und Istanbul. Achtung: Im Folgenden spoilert diese analytische Rezension die Handlung!
Regisseur Lars Becker wurde 1954 in Hannover geboren, ist Mitglied der Freien Akademie der Künste Hamburg und wohnhaft in Hamburg. Das Drehbuch hat Becker zusammen mit Bernhard Wutka nach dem nach Autorangaben Tatsachenroman „Abschaum – Die wahre Geschichte von Ertan Ongun“ verfasst. Finanziert wurde „Kanak Attack“ mit einer Million DM von der Filmförderung Hamburg, 950.000 DM von der Filmförderung Westfalen und 1,1 Millionen DM vom Zweiten Deutschen Fernsehen sowie den privaten Produzenten Bavaria Film und Becker & Häberle. „Kanak Attack“ wurde mit einer Altersfreigabe ab 16 Jahren in den deutschen Kinos aufgeführt und erlangte in bestimmten Rezipient(inn)enkreisen Kultstatus.
Auf der narrativen Ebene erzählt „Kanak Attack“ Geschichten aus dem Leben Ertans (Haluk „Luk“ Piyes, „Die Mädchenfalle – Der Tod kommt online“) und Kemals (David Scheller, „Die HonigKuckucksKinder“), zwei jungen Kielern türkischer Abstammung der zweiten und dritten Generation. Angesiedelt im kriminellen Milieu, dreht es sich bei ihnen um Drogengeschäfte und -konsum, Geldeintreiberei und das Rotlichtmilieu bis hin zu bewaffneten Überfällen, Mordversuchen und Toten. Die Titel der einzelnen, „Storys“ genannten Episoden werden jeweils in Textform eingeblendet: „Die Beerdigungs-Story“, „Die Bargeld-lacht-Story“, „Die Spielhallen-Überfall-Story“, „Die Abschiebe-Story“, „Die Vater-Story“, „Die Istanbul-Story“, „Die Kranke-Mann-Story“, „Die Puff-Aufmisch-Story“, „Die Verräter-Story“, „Die Glorreichen-Sieben-Story“, „Die Geldeintreiber-Story“, „Die Burger-Überfall-Story“ und „Die Anfang-vom-Ende-Story“.
Ertan ist nicht nur die Hauptfigur, sondern führt auch als Erzähler aus dem Off durch den Film. Zunächst stellt er seine Clique vor. Bereits zu Beginn, nach den Bildern einer Aufnahme persönlicher Daten bei der Polizei, wurde ein Gewaltausbruch platziert: Ein Pfandleiher (Hilmi Sözer, „Voll Normaaal“) erschießt Farouk (Sekou A. Neblett), einen Freund der beiden, der als Zuhälter arbeitete. Die Prostituierten Sandra (Nadeshda Brennicke, „Die Straßen von Berlin“) und Yonca (Oezlem Cetin) würden fortan gern unter Ertans Schutz arbeiten, der daraufhin mit dem türkischen Bordellbetreiber Attila (Ercan Durmaz, „Aprilkinder“) aneinandergerät, der selbst Interesse an den beiden Prostituierten hat. Ertan wiederum möchte mit Prostitution und Zuhälterei eigentlich nichts zu tun haben. Die Situation spitzt sich dennoch immer weiter zu. Ertan und Kemal überfallen dilettantisch und unter Drogeneinfluss stehend eine Spielhalle und werden verhaftet. Ertan versucht, einen „Deal“ mit der Polizei in Person Hauptkommissar Lorants (Andreas Hoppe, Ludwigshafener „Tatort“) auszuhandeln und wird anschließend Zeuge brutaler Polizeigewalt gegen Kemal. Dieser wird in die Türkei abgeschoben. Nachdem Ertan für seinen Vater Schulden beim Betreiber eines Döner-Imbiss (möglicherweise handelt es sich um Schutzgelderpressung, das bleibt unklar) eingetrieben und zusammen mit Freunden den Pfandleiher zusammengeschlagen hat, besucht er Kemal in Istanbul. Dort besorgen sie sich Heroin zum Verkauf und konsumieren es auch selbst. Ertan wird infolgedessen abhängig von der Droge.
Ertan besucht seinen Onkel Bülent (Ralph Herforth, „Knockin' on Heaven's Door“) in einer Nervenheilanstalt, wo dieser infolge eines Nervenzusammenbruchs und paranoider Wahnvorstellungen stationiert ist. Obwohl die ganze Familie anwesend ist, ist Ertan der einzige, der Bülent zu verstehen scheint und im Dialog zu ihm durchdringt, um in ihm neuen Lebensmut zu entfachen. Nach einem Bordellbesuch wird Ertan von Attila und dessen Männern zusammengeschlagen und in die Kieler Bucht geworfen. Ertan überlebt, doch spätere Auseinandersetzungen fordern nicht nur Schwerverletzte, sondern mit Ertans Freund Mehdi (Tyron Ricketts, „Die Todesfahrt der MS SeaStar“) auch einen Toten: Er stirbt infolge eines Schädelbasisbruchs. Nachdem Kemal nach Deutschland zurückgekehrt ist, werden Ertan und er von der Polizei überführt, wegen Drogenhandels angeklagt und zu einer Haftstrafe verurteilt. Dies wurde dadurch begünstigt, dass Kemal gegen Ertan ausgesagt hat. Nichtsdestotrotz bilden sie im Gefängnis eine Art Gang und provozieren u. a. eine Massenschlägerei. Nach ihrer Haftentlassung überfallen sie eine „Burger King“-Filiale. Anschließend kommt es zu einer finalen Konfrontation mit Attila, in deren Zuge Kemal erschossen wird und Ertan daraufhin Attila erschießt. Ertans Werdegang führt wieder ins Gefängnis, diesmal wahrscheinlich für eine lange Zeit.
Im Roman stehen die Episoden wie Kurzgeschichten stärker für sich selbst als im Film, der ein episodenübergreifendes horizontales Narrativ aufweist. So spielen selten dieselben Nebenfiguren in mehreren „Storys“ eine Rolle. „Storys“ existieren im Roman 35, also 22 mehr als im Spielfilm. Sie weisen im Roman keine einheitliche Chronologie auf. Die Verfilmung verdichtet einige der „Storys“ zu einer zusammenhängenden, aufeinander aufbauenden Handlung. Die Nebenfiguren des Films wie Kemal, Mehdi, Atilla oder Zlatko sind nur ansatzweise oder überhaupt nicht im Roman enthalten.
Einer der bedeutendsten Unterschiede jedoch ist die Charakterisierung Ertans: Im Roman ein eiskalter Verbrecher, wurde seine Filmrolle als eher jugendlich charmant gezeichnet, sodass er die Sympathien der Rezipientinnen und Rezipienten für sich gewinnen kann – passend zum veränderten Tonfall des Films gegenüber dem Roman. Denn während der Roman Ertans Erlebnisse betont unangenehm bis abstoßend beschreibt, lässt sich der Film als ein von Humor durchsetztes, urbanes Abenteuer konsumieren.
Der moritatische Spielfilm „Kanak Attack“ vermengt im Stile einer Gangsterkomödie dramatische und komödiantische Elemente miteinander, wobei insbesondere gefährlichen und tragischen Momenten mit demonstrativer Lockerheit und Gleichgültigkeit begegnet wird. Herunterbrechen ließe sich dies auf die einfache Formel „dramatischer Inhalt, komödiantisch inszeniert“. Vermittelt wird dadurch der Eindruck, dass den Protagonisten des Spielfilms ihre Misserfolge, ihre Verluste und ihre persönliche und gesellschaftliche Situation nicht viel ausmachen. Der Eindruck, sich mit ihrer Rolle innerhalb der Gesellschaft abgefunden zu haben, wird durch Aussagen Ertans wie „Unser ganzer eigener Stil ist Kanake!" oder „Ficken und gefickt werden – so ist die Welt.“ verstärkt. Der Spielfilm wird aus Ertans Perspektive erzählt und moralisiert nicht, weil Ertan dies auch nicht tut. Seinem Verhalten liegt ein eigener Ehrenkodex zugrunde, der sich von dem der rechtschaffenden Bevölkerung unterscheidet. Es ist der Kodex einer Art Parallelgesellschaft.
An dieser Parallelgesellschaft lässt „Kanak Attack“ die Rezipientinnen und Rezipienten teilhaben. Mit dem beschriebenen Erzählstil besitzt der Spielfilm das Potential, auf diejenigen Rezipientinnen und Rezipienten, die sich in Teilen oder vollumfänglich mit der Figur Ertan identifizieren können – beispielsweise aufgrund eines ähnlichen familiären Hintergrunds oder einer ähnlichen sozialen Situation –, in besonderer Weise faszinierend bis nachahmenswert zu wirken, weil Ertan in seiner „Coolheit“, der Lakonie, mit der er nahezu alles wegzustecken scheint, Vorbildfunktion einnehmen könnte. Dass der Spielfilm kein Happy End im klassischen Sinne, also aus Sicht des Protagonisten, hat, könnte eventuell abschreckende Wirkung haben, aber auch als eine Alibifunktion erfüllendes Zugeständnis an gängige Moral- und Gerechtigkeitsnormen empfunden werden.
Zugleich ermöglich die Rezeption des Films aber auch einen Einblick in ein fremdes Milieu, das verbreitete Vorurteile über Gastarbeiter(innen) genannte Arbeitsimmigrant(inn)en bzw. vielmehr deren Nachkommen zu bestätigen scheint. Das Klischee des „kriminellen Ausländers“ wird durch den Film bedient, wenngleich er (im Gegensatz zur Literaturvorlage) nie für sich in Anspruch nimmt, die Realität abzubilden oder sein Figurenensemble stellvertretend für die Mehrheit der jeweiligen Bevölkerungsgruppe bzw. Minderheit stehen und agieren zu lassen. Dennoch wird deutlich, dass Ertan und Konsorten kein isoliertes Einzelphänomen sind. Durch die trotzige Selbsttitulierung und -inszenierung Ertans als „Kanake“ wird auf eine größere Bevölkerungsgruppe referenziert, worauf auch der Filmtitel hinweist.
„Kanak Attack“ verbildlicht ferner Elemente aus der Hip-Hop-Jugend- und -Subkultur. An den Umgang mit Schallplatten von Hip-Hop-Discjockeys, speziell das Scratchen, erinnernde Stilelemente wie Beschleunigungen, Freeze Frames, Jumpcuts u. ä. verbinden die Bilderwelt des Films mit seiner musikalischen Untermalung aus demselben Bereich und erzeugen bisweilen eine Ästhetik ähnlich der einschlägiger Musikvideos. Diese Kombination wiederum verdeutlicht die Verbindung zwischen dem „Kanaken“- und Kleinkriminellenmilieu und der Hip-Hop-Subkultur, in der u. a. fragwürdige selbsternannte „Gangta-Rapper“ Rücksichtslosigkeit, Materialismus und Sexismus predigen und den Eindruck vermitteln, Kriminalität und Gewalt führe zu Ansehen, Ruhm und Reichtum, womit sie bei ihrer Klientel in der Regel Vorbildfunktion genießen. Im Kontrast dazu steht jedoch die Realität, die sich für Ertan häufig in abweisend und spärlich ausgestatteten Räumen wie seiner Hochhauswohnung oder dem Polizeirevier widerspiegelt.
Trotz Ertans Selbsttitulierung als „Kanake“ und der Bezugnahme des Spielfilmtitels auf die Aktivist(inn)engruppe „Kanak Attak“ bleibt der Spielfilm jedoch weitestgehend frei von politischer bzw. gesellschafts- oder sozialkritischer Konnotation. Die Aktivist(inn)engruppe über ihr Selbstverständnis:
„Kanak Attak ist ein selbstgewählter Zusammenschluß verschiedener Leute über die Grenzen zugeschriebener, quasi mit in die Wiege gelegter ,Identitäten‘ hinweg. Kanak Attak fragt nicht nach dem Paß oder nach der Herkunft, sondern wendet sich gegen die Frage nach dem Paß und der Herkunft. Unser kleinster gemeinsamer Nenner besteht darin, die Kanakisierung bestimmter Gruppen von Menschen durch rassistische Zuschreibungen mit allen ihren sozialen, rechtlichen und politischen Folgen anzugreifen. Kanak Attak ist anti-nationalistisch, anti-rassistisch und lehnt jegliche Form von Identitätspolitiken ab, wie sie sich etwa aus ethnologischen Zuschreibungen speisen. Wir wenden uns schlicht gegen jeden und alles, was Menschen ausbeutet, unterdrückt und erniedrigt. Erfahrungen, die keineswegs nur auf die sog. ,Erste Generation‘ von Migranten beschränkt bleiben. Das Interventionsfeld von Kanak Attak reicht von der Kritik an politisch-ökonomischen Herrschaftsverhältnissen und kulturindustriellen Verwertungsmechanismen bis hin zu einer Auseinandersetzung mit Alltagsphänomenen in Almanya. Wir setzen uns für die allgemeinen Grund- und Menschenrechte ein, […].“
Dieses Selbstverständnis spiegelt sich im Film in kaum einer Weise wider. Ertan und Konsorten erscheinen nur wenig selbstreflektiert und an Politik und Gesellschaft komplett desinteressiert.
Der „Filmdienst“ kritisiert: „[…] Vorurteile bekräftigendes Bild der (kleinkriminellen) zweiten und dritten türkischen Migranten-Generationen […].“ Bekräftigt und schürt der Film also Vorurteile und bestätigt ausländerfeindliche Ressentiments? Tatsächlich bewegt sich der Film ausschließlich im kriminellen migrantischen Milieu, das für die Protagonisten Normalität, normaler Alltag zu sein scheint. Damit bedient er sich eines verbreiteten Stereotyps des „kriminellen Ausländers“, das auch in den Medien häufig auftaucht.
In ihrem Aufsatz „Wie Medien über Migranten berichten“ vergleichen Georg Ruhrmann und Songül Demren mehrere inhaltsanalytische Massenmedienstudien miteinander und kommen zu folgendem Schluss: „Alle Studien zeigen, daß die Medien ein eher negatives Image der hier lebenden Migranten verbreiten. Dieses Image beeinflusst die Ausbreitung von Fremdenfeindlichkeit der Inländer. Sie befördern aber auch desintegrative Tendenzen der ausländischen Wohnbevölkerung, die allerdings wesentlich auch kulturelle, ökonomische und sozialpsychologische Gründe hat (vgl. Bade 1994; Maletzke 1996; Hettlage 1997; Nuscheler 1998) […].“
Und der Soziologe Rainer Geißler fasst wie folgt zusammen:
„Ein unkritischer Umgang mit den offiziellen Kriminalstatistiken, die die Selektionsvorgänge, Fehler und Unzulänglichkeiten der Strafverfolgung im Dunkeln lassen und mit einem höchst problematischen Konzepts des ,Ausländers‘ arbeiten, kann dazu führen, dass sich integrationshemmende Vorurteile über das kriminelle Verhalten von Migranten verbreiten. Durch eine differenziertere Aufschlüsselung des ,Ausländer‘-Konzepts lässt sich belegen, dass sich die (ausländischen) Arbeitsmigranten mindest [sic] genauso gut an die Gesetze halten wie die Deutschen. Und die Beachtung des Faktors Schicht lässt den Schluss zu, dass die (ausländischen) Arbeitsmigranten erheblich gesetzestreuer sind als Deutsche in vergleichbarer Soziallage. Neuere Dunkelfeldstudien machen allerdings deutlich, dass ein Teil der Jugendlichen aus Zuwandererfamilien deutlich anfälliger gegenüber schwereren Delikten (Gewalttaten, Einbruchdiebstahl) ist als Deutsche – ein Phänomen, das mit strukturellen Integrationsdefiziten im ökonomischen und sozialen Bereich (Armut, Arbeitslosigkeit, schlechte Bildungschancen, ethnische Cliquenbildung, zunehmende Ausgrenzung in den 1990er Jahren) sowie mit Besonderheiten der mitgebrachten Kulturen (familiale Gewalt, Männlichkeitsnormen) zusammenhängt.“
Die Massenmediale Berichterstattung über „Ausländer“ konzentriere sich insbesondere auf negative Ereignisse wie (steigende) Kriminalität; Unterscheidungen zwischen Gesetzesbrüchen, die lediglich von Ausländerinnen und Ausländern begangen werden können (wie Verstöße gegen das Ausländerrecht), und solchen, die sowohl Deutsche als auch Nichtdeutsche begehen könnten, fänden häufig nicht statt. In daraus resultierenden Analysen und Diskussionen werde die alleinige Verantwortung bei den Täterinnen und Tätern gesucht und soziale Begleitumstände sowie gesellschaftliche Rahmenbedingungen außer Acht gelassen.
Insofern muss einerseits davon ausgegangen werden, dass sich der Spielfilm „Kanak Attack“ an der negativen Berichterstattung der Massenmedien orientiert und selbst zu einem ein negatives Bild zeichnenden Medium wird. Die Filmhandlung stellt keinen konkreten Bezug zu den Umständen her, unter denen Ertan und sein Umfeld so wurden, wie sie sind. Für die Entstehung des Milieus, in dem sie sich aufhalten, werden keine Erklärungen geliefert. Es wird als eine von der deutschen Gesellschaft weitestgehend isolierte Parallelgesellschaft mit eigenen Regeln und Gesetzen gezeichnet, deren kriminelle und gewalttätige Vorgänge jedoch immer wieder die Polizei auf den Plan rufen. Ein Milieu also, das gefährlich ist und von dem man sich besser fernhält. Die Rezipientinnen und Rezipienten werden zudem im Unklaren darüber gelassen, wie viele sich gesetzestreu verhaltende Nachkommen türkischer Arbeitsmigrantinnen und -migranten es gibt, sodass diese Ertan und Konsorten nicht als Positivbeispiele gegenübergestellt werden können.
Andererseits versucht „Kanak Attack“ auch nicht, wie bereits angeschnitten, bewusst den Eindruck zu erwecken, es handele sich bei seiner Handlung um eine Abbildung der Realität. Durch die komödiantische, sich an Gangsterkomödien seiner Zeit orientierenden Ausrichtung wird die Fiktionalität des Inhalts deutlich. Der gesamte, zum Teil artifizielle Stil des Films unterscheidet sich stark von dem eines Dokudramas. Ferner behauptet „Kanak Attack“ auch, wie ebenfalls bereits erwähnt, zu keinem Zeitpunkt, seine Protagonisten stünden stellvertretend und exemplarisch für die Mehrheit der Nachkommen türkischer Arbeitsmigrantinnen und -migranten. Dennoch sind die männlichen Figuren unschwer als solche zu erkennen, die statistisch häufiger bei bestimmen, nicht-migrantenspezifischen Straftaten in Erscheinung treten, im Gegensatz zu ihrer Eltern- bzw. Großelterngeneration nicht besonders defensiv, unauffällig und gesetzestreu agieren und gewaltlegitimierende Männlichkeitsnormen verinnerlicht haben. Die Inspiration für diese Figuren ist also durchaus der Realität entlehnt.
Das Potential, eine negative Vorbildfunktion für Heranwachsende, geistig und moralisch noch nicht gefestigte Jugendliche, zu selektiver Wahrnehmung neigende, die negativen Folgen für die Protagonisten ausblendende oder labile Erwachsene einzunehmen, sollte daher nicht unterschätzt werden. Gerade durch den Umstand, dass Ertan als lässiger, cooler Typ gezeichnet wird, der auch eine ausgeprägte menschliche Seite besitzt, tritt er als Sympathieträger und Identifikationsfigur auf. Und so, wie Ertan sämtliche Vorurteile gegen „Kanaken“ für sich anzunehmen und keinen Sinn (mehr?) darin zu sehen scheint, sie zu entkräftigen, sie stattdessen immer wieder aufs Neue bestätigt, kann die Identifikation mit seiner Figur zu nachahmendem Verhalten bei bestimmten Rezipientinnen und Rezipienten führen, die dieser Fiktion in der Realität nacheifern, damit ausländerfeindliche Ressentiments bestätigen und diejenige Kriminalität, die so vielen Nachkommen türkischer Arbeitsmigrantinnen und -migranten nachgesagt wird, in der Realität in die Tat umsetzen.
Doch „Kanak Attack“ verfügt über ein weiteres Potential: diejenigen, die genügend Distanz zum gezeigten Milieu haben, zum Lachen zu bringen. Dies kann ein überhebliches, sozialchauvinistisches Lachen sein, ein Auslachen Ertans und seiner Freunde, es kann aber auch ein indirektes Lachen über sich selbst sein, handelt es bei der rezipierenden Person um jemanden, der selbst einmal einem solchen oder einem ähnlichen Milieu angehörte, dem es jedoch gelungen ist, es hinter sich zu lassen, und der die Missgeschicke und -erfolge Ertans und Konsorten so oder so ähnlich in seiner eigenen Biografie wiedererkennt. Eventuell erlangt er diese Fähigkeit zur Selbstironie gar erst durch den Humoranteil des Spielfilms, durch den lange Zeit wenig ernsten Umgang mit den im Spielfilm behandelten Themen. Ein weiteres mögliches Lachen kann das jener Menschen sein, die sich im Alltag vor Menschen wie Ertan und Konsorten sowie ihrem Milieu fürchten. In diesem Falle kann das Lachen befreiend und beinahe therapeutisch wirken. Wie so häufig bei Spielfilmen ist die Wirkung des Films also stark abhängig von der individuellen Sozialisation, Erwartungshaltung und geistigen Verfassung der Rezipientinnen und Rezipienten.
Fazit:
„Kanak Attack“ zeichnet ein Milieu in komödiantisch überspitzter Form nach, das in ähnlicher Weise in der Realität anzutreffen ist. Seine Hauptfigur Ertan wird zum Antihelden eines kriminellen Umfelds, das er selbst aktiv mitschafft. Er ist zugleich Täter und Opfer, da sein Lebenswandel auch negative Konsequenzen für ihn persönlich nach sich zieht und es ihm nicht gelingt, sich aus dem Bereich des Milieus, von dem er sich zu distanzieren versucht, dem Prostitutions- und Zuhältergewerbe, erfolgreich herauszuhalten. Wie in einem Strudel wird er gegen seinen Willen mit hineingezogen.
Obschon dieses kriminelle Milieu, dem viele Migrant(inn)en bzw. Migrantennachkommen angehören, in der Realität existiert, wird die sog. Ausländerkriminalität für gewöhnlich überschätzt. Diesbezüglich ein differenzierteres Bild zu liefern, vermag der Spielfilm „Kanak Attack“ nicht und dies ist auch nicht sein Anliegen. Somit kann er durchaus dazu beitragen, Vorurteile und Ressentiments zu zementieren.
Dies ist jedoch stark von der Haltung der Rezipierenden abhängig. Die Möglichkeit der vorurteilsfreien Rezeption besteht ebenso. Hierfür müsste der Film als ein rein fiktionales Produkt zu Unterhaltungszwecken betrachtet werden, der behaupteten Authentizität der für die Spielfilmadaption stark abgewandelten Romanvorlage zum Trotz. Der sich grob an den Gangsterkomödien seiner Zeit orientierende Spielfilm besticht gerade dadurch, dass er so vieles für den Großteil der Rezipierenden Ungewöhnliche zur Normalität seiner Figuren erklärt, innerhalb diese agieren. Dieses Stilelement kann als provokant aufgefasst werden, ist jedoch Ausdruck der trotzigen Selbstidentifikation mit dem Dasein als unterprivilegierte Minderheit der „Kanaken“, die erst gar nicht mehr versucht, ein Teil der rechtschaffenden Bevölkerung zu werden.
Vieles in negativer Medienberichterstattung Stattfindende findet seine filmische Entsprechung in „Kanak Attack“, jedoch nicht alles: Weder fällt Ertan durch übermäßig ausgeprägten Machismo noch durch unkontrollierte Gewalteruptionen oder besondere Grausamkeit gegenüber seinen Mitmenschen auf. Diese Eigenschaften werden eher Atilla und dessen Gefolgsleuten zuteil. Das Identifikationspotential, das mit der als durchaus sympathisch charakterisierten Figur Ertans einhergeht, kann problematisch werden, wenn sich gesellschaftlich an den Rand gedrängt fühlende Migrantennachkommen, die nur noch wenige oder gar keine Chancen sehen, jemals vollumfänglich in „der normalen Gesellschaft“ anzukommen bzw. von ihr akzeptiert zu werden, ihn sich zum Vorbild nehmen und sich von dessen „Coolness“ beeindruckt zeigen.
Resultierten daraus dann Nachahmungstaten, würden diese medial aufgegriffen und verbreitet werden, was wiederum ein negatives Bild innerhalb einer Gesellschaft zu verfestigen hülfe, in der negative Abweichungen von der Norm weitaus stärker auffallen als beispielsweise die Majorität der Migrantinnen und Migranten bzw. derer Nachkommen, die kaum oder gar nicht mit dem Gesetz in Konflikt geraten.
Das Aufgreifen realer Ereignisse und Phänomene, um aus ihnen Inspiration für das Drehbuch zu einem Unterhaltungsfilm zu schöpfen, kann im Sinne der Kunstfreiheit jedoch keinem Filmschaffenden zum Vorwurf gemacht werden, solange nicht versucht wird, negative Handlungen minderprivilegierter gesellschaftlicher Minderheiten als exemplarisch für die überwiegende Mehrheit derselben herauszustellen. Und dies ist bei „Kanak Attack“ nicht der Fall.