Review

Filmanalyse

Kanak Attack

Von René Schweitzer

Hintergrund

Kanak Attack ist ein deutsches, im kleinkriminellen Milieu angesiedeltes Episodendrama aus dem Jahr 2000 von dem Regisseur Lars Becker. Vorlage des Film ist der Roman Abschaum - Die wahre Geschichte des Ertan Ongun von Feridun Zaimoglu aus dem Jahr 1997. Laut Lars Becker hat auch Zaimoglus Erstlingswerk Kanak Sprak - 24 Mißtöne vom Rande der Gesellschaft Kanak Attack maßgeblich beeinflusst.
Der Film ist ebenso wie das Buch in verschiedene Episoden unterteilt die keiner chronologischen Reihenfolge unterliegen. Der Roman ist in 35 Episoden unterteilt, der Film kommt hingegen nur auf 13.
Inhaltlich geht es sowohl im Buch als auch im Film um den türkisch-deutschen Gangster Ertan Ongun (gespielt von Haluk „Luk" Piyes), der in Kiel seinen kriminellen Tätigkeiten nachgeht. Im Roman hängen die Kurzgeschichten kaum zusammen und Nebenfiguren tauchen selten in mehreren Geschichten auf. In der Verfilmung dagegen (Drehbuch geschrieben von Lars Becker, Feridun Zaimoglu und Dr. Bernhard Wutka) werden einige Kurzgeschichten des Buches zu einer lose zusammenhängenden Geschichte verdichtet.
Dabei sind sämtliche Nebencharaktere des Films wie zum Beispiel Ertans Freunde Kemal (David Scheller) und Mehdi (Tyron Ricketts) oder Ertans Gegenspieler Atilla (Ercan Durmaz) und Zlatko (Murat Yilmaz) nur in Ansätzen oder überhaupt nicht der Romanvorlage entliehen.
Nach Sichtung der finalen Drehbuchfassung fiel mir auf, dass das Geschehen hier noch wesentlich chronologischer statt findet als im fertigen Film und Ertans bester Freund Kemal noch längst nicht seine endgültige Funktion besitzt. In der Drehbuchfassung sind auch noch etliche Figuren und Szenen enthalten, die es nicht in den fertigen Film geschafft haben. Laut Aussage des Produzenten Christian Becker war das Ergebnis der ersten Schnittfassung nicht zufriedenstellend. Daher musste der Film komplett umgeschnitten werden, was die teilweise extremen Abweichungen vom Drehbuch erklärt. Die Drehorte des Films sind Kiel, Hamburg, Vechta und Istanbul.

Die Story

Kanak Attack handelt von dem 25-jährigen Deutsch-Türken Ertan Ongun, der in Kiel lebt und sein Geld mit illegalen Machenschaften verdient.
Er ist einerseits ein typischer Macho, der Probleme und hierarchische Fragen vorzugsweise mit den Fäusten oder der Pistole klärt, andererseits wirkt er aber oft auch wie ein charmanter Junge, für den die Welt ein großer Spielplatz zu sein scheint und dem man nicht wirklich böse sein kann. Kanak Attack beinhaltet 13 Episoden die lose miteinander verknüpft sind.
Wir begleiten Ertan bei Überfällen, Drogendeals und Rotlichtbesuchen, lernen seine Freunde Kemal und Mehdi kennen und werden Zeuge, wie sich Ertan die beiden Zuhälter Attila und Zlatko zu Feinden macht. Mit den beiden Rotlichtgestalten kommt es im Laufe des Films immer wieder zu Auseinandersetzungen, bei denen sowohl Zlatko als auch Ertan schwer verletzt werden und die schließlich Kemal und Attila das Leben kosten.
Ein anderer Themenbereich ist Ertans Drogensucht. Ertan ist ein Heroinjunkie und ein Dealer, der Stoff in Istanbul einkauft und ihn in Kiel weiterverkauft, was ihn zwischenzeitlich ins Gefängnis bringt.
Im Verlauf des Films taucht immer wieder der abgeklärte Hauptkommissar Lorant (Andreas Hoppe) auf, der den Jungs auf den Fersen ist und sie des Öfteren verhaftet. Doch diese temporären Rückschläge bringen Ertan nicht von seinem Weg ab.Ertans sensible Seite lernen wir kennen, als er mit seiner Familie seinen Onkel Bülent (gespielt von Ralph Herforth) in der geschlossenen Psychiatrie besucht und mit seiner direkten, ehrlichen Art als einziger zu ihm durchdringt.
Der Tod ist allgegenwertig in Kanak Attack. Der Film beginnt mit dem Mord an Ertans Kumpel Farouk (Sekou A. Neblett) und im Laufe der Geschichte sterben Ertans beste Freunde Mehdi und Kemal, sowie sein Erzfeind Attila.
Das belastet Ertan zwar und bringt ihn zum Nachdenken (was durch seinen letzten Dialog deutlich wird), ob er aber anschließend dem kriminellen Leben und den Drogen abschwören wird bleibt ungeklärt.

Interpretation

Feridun Zaimoglus Roman Abschaum wirkte auf mich wie ein unerwarteter, brutaler Schlag in die Fresse. Es war ein ungeschöntes Protokoll der Erlebnisse eines jungen Deutschtürken mit extremem Hang zur Kriminalität und zur Gewalt. Der Ertan Ongun aus dem Roman wirkte auf mich sehr unsympathisch. Er benahm sich asozial, skrupellos, unmoralisch, rassistisch und extrem gewalttätig. Ihm schienen die meisten Menschen in seinem Umfeld gänzlich gleichgültig zu sein. Die Faszination des Romans ging hauptsächlich von dessen kompromisslosen Antihelden aus, der den Leser in eine unfassbare Spirale der Gewalt entführte. Ob es sich dabei um eine authentische Milieubeschreibung oder um die Allmachtsfantasien eines jungen Mannes mit Migrationshintergrund handelt ist nicht überliefert.
Der Ertan Ongun aus Kanak Attack unterscheidet sich charakterlich doch sehr deutlich von seiner literarischen Vorlage.
Er ist zwar ebenfalls ein brutaler Straßengangster, doch Haluk „Luk" Piyes spielt ihn mit solch einem verspielten Charme, einer kindlichen Leichtfüßigkeit und einer Sensibilität, dass sein Ertan Ongun auf Anhieb die Sympathien des Publikums gewinnt. Das ehemalige Bravo-Cover-Model Luk Piyes als diesen brutalen Gewaltverbrecher zu besetzen erweist sich als ausgesprochen glückliche Wahl.
Auch die anderen Figuren sind durch die Bank sehr unterhaltsam dargestellte Zeitgenossen. Selbst Ertans Gegenspieler, die Luden Attila und Zlatko, wirken mit ihren ständigen Kiezweisheiten absolut sympathisch.
Hier wird der große Unterschied zum literarischen Vorbild deutlich. Während Abschaum die raue, unangenehme Wirklichkeit der Unterweltwelt wiederspiegelte, wirkt das Gangsterleben in Kanak Attack wie ein großes, unterhaltsames Abenteuer.
Wenn sich Kemal und Ertan absurde Kiezgeschichten erzählen, völlig zugedröhnt einen chaotischen Casinoüberfall durchführen oder den neuen Häftling (Benno Fürmann) in ihre imaginäre Knastgang Die glorreichen Sieben aufnehmen, dann macht es einfach Spaß sie auf ihrem turbulenten Weg zu begleiten.
Die Dialoge rund um das Kieler Nachtleben werden mit einer derartigen Detailfreude und Kaltschnäuzigkeit vorgetragen, dass streckenweise Erinnerungen an Tarantinos Werke Reservoir Dogs und Pulp Fiction wach werden.
Dazu kommt die extreme Geschwindigkeit mit der eine Episode die nächste jagt und der sehr stimmige Soundtrack (unter anderem mit Songs von Patrice, Mellow Bag, Dynamite Deluxe und Seeed) der das Geschehen hervorragend untermalt. So kommen dem Zuschauer die knapp 79 Minuten Laufzeit (ohne Abspann) wesentlich länger vor als sie eigentlich sind.
Kanak Attack stößt den unvorbereiteten Zuschauer in einen völlig eigenen Mikrokosmos in dem das Gesetz der Straße alles bedeutet und Drogendealer, Zuhälter sowie zwielichtige Geschäftsleute Geld auf die unterschiedlichsten Weisen verdienen.
Der Film gibt von Anfang an Vollgas. Es gibt keine Pufferfigur, die den Zuschauer langsam und behaglich in diese Welt eintauchen lässt.
Selbst wenn unser Protagonist immer mehr einem Junkie gleicht, ins Gefängnis muss und seine Freunde einer nach dem anderen sterben, hat man nie das Gefühl, dass hier der moralische Zeigefinger erhoben wird. Ertans Geschichte steht für sich selbst. Jeder kann sich daraus mitnehmen was er möchte. Ganz so wie Ertan es in seinem einleitenden Monolog sagt, auf den noch viele weitere Folgen werden: "Dies ist eine Geschichte ohne Anfang und ohne Ende. Eigentlich ist es keine Geschichte. Es ist ein Ausnahmezustand."Man sollte nicht den Fehler begehen Kanak Attack im Genre der Komödie anzusiedeln, wie es seinerzeit einige Kritiker getan haben. Das wird dem Film nicht gerecht, denn die Themen sind durch die Bank tot ernst, auch wenn sie von Zeit zu Zeit durch Situationskomik ins Absurde abdriften.
Der Film wirkt zu jeder Zeit authentisch und gibt seine Figuren und Geschichten nie der Lächerlichkeit preis.
Zwar lacht man beispielsweise in der Istanbul Story anfangs über Kemals und Ertans Teelöffelgeschichte, aber nur wenige Bilder später bleibt einem das Lachen im Hals stecken, wenn wir mit Ertans hässlicher Junkie Mentalität konfrontiert werden.
Wirklich berührend ist neben Kemals Tod am Ende des Films vor allem Die Kranke Mann - Story, in der Ralph Herforth als Ertans Onkel Bülent brilliert, der wegen eines Nervenzusammenbruchs und paranoider Wahnvorstellungen in einer therapeutischen Klinik untergebracht ist. Als einziger seiner Familie dringt Ertan zu seinem psychisch labilen Onkel durch und schafft es in ihm neuen Lebenswillen zu entfachen. Im Dialog zwischen den Beiden wird erstmals deutlich, dass Ertan sein Leben am Abgrund nicht gut heißt, dass er sich damit aber mittlerweile abgefunden hat.
Plötzlich wird klar, dass die ganze Leichtigkeit und Coolness die Ertan vor Kemal und Mehdi an den Tag legt offenbar nur gespielt ist. Den Charakteren in Kanak Attack sind die meisten Geschehnisse erstaunlich gleichgültig. Der Tod eines Freundes, der eigene Tod, Verrat, Drogensucht, Knast. Das alles ist nur für einen winzigen Moment interessant, danach dreht sich das Rad des Lebens weiter.
Selbst für Hauptkommissar Lorant ist die Jagd nach den Jungs eher lästiges Tagewerk, das ihn emotional offenbar kaum berührt. Frauen interessieren Ertan sowieso nur im Rotlicht, sei es zum Vergnügen oder geschäftlich.
Erst ganz am Ende des Films (bei dem abschließenden Dialog zwischen Ertan und Lorant) wird angedeutet, dass Ertan anfängt die Dinge die ihn umgeben in Frage zu stellen. Ein Fazit bleibt er uns aber schuldig.Lars Beckers siebter Film ist ein eindeutiger Episodenfilm, der nicht der üblichen Drei-Akt-Struktur unterliegt. Auch Drehbuchtheorien wie Die Reise des Helden werden hier komplett ignoriert, was den Film zu einer interessanten Erfahrung macht.
An sich funktioniert jede Episode für sich selbst, nur wenige Stränge werden horizontal erzählt und ziehen sich durch den ganzen Film.
Viele Gastdarsteller tauchen nur in einzelnen Episoden auf, wie zum Beispiel Benno Fürmann in Die Glorreichen Sieben Story, Ralph Herforth in Die Kranke Mann Story oder Hussi Kutlucan als skurriler Drogenschieber in Die Istanbul Story. Trotz ihrer kurzen Screentime können diese Darsteller dank gut geschriebener Figuren Akzente setzen und hinterlassen einen bleibenden Eindruck.
Auf Grund der sich im Eiltempo entwickelnden Geschichte und der immer neuen Episoden und Figuren wird Ertans Reise zu keinem Zeitpunkt langweilig oder vorhersehbar. Optisch unterstützen Lars Becker und Kameramann Hannes Hubach das rasante Geschehen mit zahlreichen Stilmitteln die an die Ästhetik von Musikvideos erinnern. So gibt es etliche Jumpcuts, Speedups, Überblendungen und Freezeframes zu bestaunen. Die Anwendung dieser Stilmittel in Verbindung mit dem Soundtrack erinnert streckenweise an das Plattenscratching eines DJs, wie es in der Hip Hop Kultur üblich ist. Die Kamera kreist fast ausschließlich um unseren Protagonisten Ertan. Kaum eine Szene findet ohne ihn statt.
Farblich wirkt der Film sehr kalt und ausgeblichen. Vor allem Ertans Hochhauswohnung und das Polizeirevier sind in kalten Blautönen gehalten und nur sehr spärlich eingerichtet.
Die Szenen in Istanbul wirken dagegen warm und farbenfroh, als klarer Kontrast zwischen der Heimat von Ertans Eltern und Ertans perspektivlosem Gaunerdasein in Kiel.
Der Film arbeitet mit sehr reduziertem Kunstlicht, was das Ganze noch authentischer wirken lässt. Unterm Strich ist Kanak Attack für mich einer der interessantesten deutschen Kinofilme seiner Zeit, da er auf sehr authentische, spannende und unterhaltsame Weise ein Milieu beleuchtet, dass den meisten fremd ist. Die unverbrauchten, gut aufgelegten Darsteller harmonieren perfekt miteinander und verkörpern ihre Rollen überwiegend glaubhaft und mit großer Spielfreude.
Es ist einfach aufregend sie auf dieser manchmal witzigen, oft dramatischen, aber auf jeden Fall immer rasanten Tour de Force zu begleiten.
Die ungewöhnliche Episodenstruktur und die Abwesenheit eines moralisch integren Protagonisten sorgen zusätzlich dafür, dass Kanak Attack eine enorme Sogwirkung entwickelt und noch lange im Gedächtnis bleibt.








































 













 

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